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Analyse

Das Umfrage-Tool der „Aufstehen“-Bewegung ist eine Einladung für Botnetzwerke

Beim Start stellte „Aufstehen“ ein Tool für Online-Umfragen vor. Das weckt Erinnerungen an alte Grabenkämpfe um Liquid Democracy in der Piratenpartei. Ein kurzer Blick zeigt: Das Konzept ist sehr unausgegoren.

Von Enno Park
4 Min.
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Mit Pol.is lassen sich Debatten und Abstimmungen online durchführen. © MichaelJay - iStockphoto.com

Prinzipiell ist es eine gute Idee: Regierungen, Parteien oder politische Bewegungen schaffen Plattformen, auf denen Jedermann sich in den den politischen Diskurs einbringen soll. Idealerweise im Internet, denn das gibt auch denjenigen die Chance auf Teilnahme, die aus beruflichen oder privaten Gründen keine Zeit haben, Stammtische und Veranstaltungen zu besuchen.

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Anläufe dazu gab es viele, vom virtuellen Ortsverein der SPD bis zur Liquid Democracy in der Piratenpartei. Viele Projekte scheiterten, aber gerade erst führte eine von der EU-Kommission durchgeführte Umfrage dazu, dass voraussichtlich die Zeitumstellung abgeschafft wird. Unabhängig vom politischen Inhalt wurde nicht weiter hinterfragt, wie wertvoll ein Abstimmungsergebnis ist, wenn rund 80 Prozent der Teilnehmer aus Deutschland stammen, obwohl nur etwa 16 Prozent der EU-Mitglieder Deutsche sind.

Debattentool für konsensfähige Entscheidungen

Nicht umsonst wird bei Umfragen sehr auf die Auswahl einer möglichst repräsentativen Stichprobe geachtet. Aber klassische Umfragen und Volksabstimmungen haben noch ein anderes Problem: Die Befragten dürfen sich meist nur zwischen einer begrenzten Auswahl von Antworten entscheiden. Nehmen wir an, es gäbe eine Abstimmung: „Smartphones an Schulen verbieten: ja oder nein?“ Das ist schwer zu entscheiden. Genervte Lehrer werden hier ganz andere Antworten geben als etwa Eltern, die wollen, dass ihre Kinder den Umgang mit Digitaltechnik einüben. Mögliche weitere Antworten wie „Ja, aber nur im eigentlichen Unterricht, außer es wird benutzt, um auf die Schnelle etwas unterrichtsbezogenes zu recherchieren“ kommen in diesem fiktiven Beispiel nicht vor – ähnlich wie in den meisten klassischen Umfragen.

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Hier macht „Aufstehen“ einiges richtig. Die Organisation verwendet Pol.is – ein Tool, das im Umfeld von Occupy Wall Street entstanden ist aus dem Wunsch heraus, zu möglichst konsensfähigen Forderungen und Entscheidungen zu kommen. International ist es verschiedentlich zum Einsatz gekommen, unter anderem in Taiwan. Dort wurde es verwendet, um über die Zulassung des Fahrdienstes Uber zu debattieren.

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KI sortiert und visualisiert Debattenbeiträge

In Pol.is können Teilnehmende nicht nur abstimmen, sondern auch eigene Vorschläge darunter schreiben, die dann ab sofort ebenfalls zur Abstimmung stehen. Die Hoffnung ist, dass daraus eine lebendige Debatte entsteht, bei der politische Forderungen herauskommen, hinter denen möglichst viele Menschen stehen. Die Ergebnisse wertet Pol.is algorithmisch aus, wobei nach Angaben der Entwickler eine KI zum Einsatz kommt, und visualisiert sie in Diagrammen. Die Teilnehmenden können unmittelbar sehen, wo sie mit ihrer Meinung im Verhältnis zu allen anderen stehen.

Pol.is hat also jede Menge Potenzial. Leider wurde es von „Aufstehen“ äußerst schlampig implementiert. Das beginnt schon bei der Datenschutzerklärung, deren Link lustigerweise hinter einer Cookie-Warnung versteckt ist. Darin wird Pol.is zur Stunde gar nicht nicht erwähnt. Stattdessen führt ein Link auf einer Unterseite zu englischsprachigen Terms of Use. In ihnen behält Pol.is sich vor, die gewonnen Inhalte auf beliebige Art und Weise zu verwerten, weiterzugeben und zu verändern. Die Nutzerdaten sind ausdrücklich nicht davor geschützt, etwa im Rahmen von Übernahmen, Finanzierungen oder zum Zwecke der Werbung weitergegeben zu werden. Wie das in der DSGVO verankerte Recht auf die Löschung der eigenen Daten umgesetzt werden soll, ohne dabei die Debattenergebnisse zu verfälschen, ist völlig unklar. Es ist deshalb zweifelhaft, dass Pol.is ohne weitere Anpassungen DSGVO-konform betrieben werden kann.

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Einladung zur Manipulation

Wesentlich schwerwiegender ist ein anderes Problem: Niemand kontrolliert derzeit, wer an Pol.is teilnimmt. Für einen Mob dürfte es ein Leichtes sein, sich zu verabreden, um laufende Debatten konzertiert zu stören. Auf anderen Plattformen passiert das ständig. Es ist ohne weiteres möglich, zahlreiche Fake-Accounts anzulegen und mit ihnen laufende Debatten zu beeinflussen. Nach den Erfahrungen mit sozialen Medien im US-Wahlkampf ist es grob fahrlässig, dass beim Anmelden für Pol.is die Identität nicht weiter geprüft wird. Wenn „Aufstehen“ eine relevante politische Bewegung wird, ist Pol.is gerade zu eine Einladung an Bot-Armeen und bezahlte Clickworker russischer oder anderer Herkunft, nicht nur die öffentliche Meinung sondern einen politischen Player direkt zu manipulieren.

Dafür muss allerdings auch klar sein, welche Konsequenzen die in Pol.is gewonnenen Meinungsbilder haben. Was passiert, wenn ein in Pol.is gewonnenes Ergebnis konträr zu den Werten und Zielen von „Aufstehen“ steht? In welchem Ausmaß fühlen sich die bisher nicht demokratisch gewählten Frontleute verpflichtet, sich daran zu halten? Beim bisherigen Umgang von Sahra Wagenknecht mit Partei- und Fraktionsbeschlüssen sind zumindest Zweifel angebracht. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass mit einem an sich sinnvollen Tool Demokratie in der Sammlungswegung simuliert werden soll, wo zumindest derzeit noch keine ist.

Diese Kritikpunkte sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Schon in der Piratenpartei hat die Nutzung von „Liquid Feedback“ jahrelange Grabenkämpfe darüber ausgelöst, ob Abstimmungen geheim oder öffentlich ablaufen sollten, wie Nachvollziehbarkeit sicher gestellt und Manipulation verhindert werden kann und inwiefern die Parteispitze sich an die Abstimmungsergebnisse zu halten hat. Die Piratenpartei wurde von diesem Streit regelrecht zerrissen. Das mindeste wäre, die Mitglieder und Unterstützer von „Aufstehen“ demokratisch darüber abstimmen zu lassen, ob und wie ein Tool wie Pol.is eingesetzt werden sollte.

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