Wie viele Frauen? Im größten Verlag der Schweiz zählt eine KI

Ringier-CFO Annabella Bassler. (Foto: Thomas Meier, Blick)
Wenn die Redakteurinnen und Redakteure der größten Schweizer Nachrichtenseiten morgens ihre Rechner aufklappen, sehen sie da erstmal ein Dashboard – eine Übersicht über die letzten Artikel. Das Balkendiagramm verrät dort, wie oft ihre Artikel gelesen wurden und wie viele Minuten Leser damit verbracht haben.
In digitalen Redaktionen sind solche Dashboards mittlerweile Alltag. Was neu bei den Zeitungen und Magazinen des Schweizer Verlags Ringier ist: Unter den Zahlen zu den Artikeln zählt eine KI namens Sherlock, wie hoch der prozentuale Anteil von Frauen in den Artikeln ist: in den Überschriften und in den jeweiligen Fließtexten der Artikel.

35 Prozent ist schon weit über dem Durchschnitt: Die KI Sherlock zählt im Dashboard, wie viele Frauen in den Texten vorkommen. (Screenshot: Ringier)
Es ist endlich Zeit, Diversity Management in deinem Unternehmen zu etablieren? Unser Guide zeigt dir, wie es geht! Jetzt lesen!
24 Prozent der News handeln von Frauen
Man kann es sich im Jahr 2020 kaum vorstellen, aber: Wenn Journalistinnen und Journalisten im Dashboard sehen, dass 30 Prozent ihrer Texte von Frauen handeln, liegen sie schon über dem Durchschnitt. Denn: Obwohl Frauen rund 50 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, tauchen sie in der Berichterstattung weltweit wesentlich weniger auf als Männer. Laut dem „Global Media Monitoring Project“ handeln 76 Prozent der Zeitungsartikel weltweit von Männern.
„Was du nicht siehst, kannst du nicht sein.“
„Was du nicht siehst, kannst du nicht sein“ ist das Motto des KI-Projekts, dass den Anteil der Frauen in den größten Schweizer Zeitungen zählt. Die Ringier-Finanzchefin Annabella Bassler hat das Projekt geplant und setzt es um. Wir haben mit ihr darüber gesprochen.

Ein Tool namens Sherlock arbeitet mit Amazon Rekognition und misst, wie oft Frauen in den Überschriften und Texten vorkommen. (Screenshot: Ringier)
t3n: Frau Bassler, wie kamen Sie dazu, im eigenen Haus zu zählen, wie oft Frauen in den Artikeln vorkommen?
Annabella Bassler: Eine Kollegin hatte mich bei einem Frühstück gefragt, ob ich Kinder habe. Ich habe daraufhin erzählt, wie mein sechsjähriger Sohn morgens vor der Schule weinend zu mir gekommen war, weil seine Schlappen für den Sportunterricht nicht mehr gepasst haben. Ich habe erzählt, wie wir die Schlappen noch vor der Schule mit einer Schere so aufgeschnitten haben, dass es doch ging. Viele Kollegen hat überrascht, dass man auch als CFO einer internationalen Firma Karriere und Familie verbinden kann. Ich habe dann lange darüber nachgedacht, was ich tun kann, um diese klassischen Rollenbilder zu verändern.
„Was gemessen wird, wird gemanagt.“
t3n: Um die Rollenbilder zu verändern, haben Sie also eine KI eingeführt, um sie erstmal zu messen?
Als Medien und Tech-Unternehmen haben wir den Vorteil, dass wir schon ein Tool haben, mit dem wir auch die Präsenz von Frauen in unseren Artikeln messen können. Und mein Motto ist da: „Was gemessen wird, wird gemanagt.“ Jetzt sehen unsere Journalisten und Journalistinnen in ihrem Dashboard nicht nur, wie viele Artikel sie geschrieben und wie viele Klicks diese generiert haben, sondern als drittes auch unseren „Equal Voice Faktor“.
„Die Quote ist von 25 auf 32 Prozent gestiegen.“
t3n: Und hat der Faktor der KI schon zu einem höherem Frauenanteil in den Medien der Ringier-Gruppe geführt?
Wir tracken seit Dezember und sehen schon eine Entwicklung: Bei der Blick-Gruppe ist die Quote schon von 25 auf 32 Prozent gestiegen. Bis Ende Juni erwarten wir 35 Prozent. Aber es geht nicht nur um die Zahl, es geht auch um eine gemeinsame Sprache: Jetzt kann jeder in der Redaktionskonferenz einfach sagen: „Ist das im Sinne von Equal Voice“ – und alle verstehen, was gemeint ist.

„Was gemessen wird, wird gemanagt“ – das Motto von Ringier-CFO Annabella Bassler. (Foto: Ringier)
t3n: Viele Ressorts wie zum Beispiel Sport sind oft fast 100 Prozent männlich – wie funktioniert das Zählen dort?
Sport ist natürlich schwierig. Das Sport-Ressort beim Blick hat erst kürzlich eine Redakteurin eingestellt. Damit ändert sich die Dynamik des Teams und die Redaktionskultur wird eine andere, wenn in dieser Männerdomäne Frauen dabei sind. Wir haben auch diskutiert, wo man mehr weibliche Expertinnen findet, und überhaupt – über welche Sportarten geschrieben wird.
t3n: Wie ist es für die Frauenzeitungen? Die haben ja schon einen hohen Anteil Berichterstattung über Frauen.
Da geht es uns um das Frauenbild und die Art, wie über Frauen berichtet wird: etwa welche Adjektive verwendet werden, welche Fotosujets und welche Fragestellungen im Zentrum stehen. Ich habe mich gefreut, als Roger Federer auf dem Cover der Schweizer Illustrierten war und mit ihm über seine Rolle als Vater gesprochen wurde.
„In den Stockfotos gab es da nur Konferenzzimmer mit Männern, Dollarzeichen und Sparschweinen.“
t3n: Es geht euch also nicht nur um die reine Erwähnung, sondern auch in welchem Kontext über Frauen geschrieben wird?
Ja. Wir haben dazu auch ein paar Leuchtturmprojekte laufen: Neulich haben wir festgestellt, dass es uns auch an Fotos mit Frauen für Finanzthemen mangelt. In den Stockfotos gab es da nur Konferenzzimmer mit Männern, Dollarzeichen und Sparschweinen. Wir organisieren ein Fotoprojekt: Wir laden alle Frauen ein, mit uns neue Fotos zu machen. Nicht nur Karrierefrauen mit Model-Maßen im Kostüm Anfang vierzig, es soll wirklich divers werden. Unser Aufruf ist: Kommt gerne alle vorbei, lasst uns coole Fotos machen, nicht nur im Büro, sondern auch mit Frauen als Mechanikerinnen in einer Autowerkstatt.
„Mein Motto ist: Walk the Talk.“
t3n: Wäre es nicht logisch, gleich auch eine Quote für die Stellen bei Ringier zu schaffen?
Mein Motto ist „Walk the Talk“. Zuerst müssen wir unsere internen Hausaufgaben machen. Aber wir fragen uns schon: Wo kriegen wir die guten Frauen her? Wie schaffen wir Diversity durch Einstellungen? Wie holen wir die Frauen nach dem Mutterschaftsurlaub wieder zurück? Wie wird bei uns befördert? Die Quote hilft, um sichtbare Resultate vorzuweisen. Langfristige und nachhaltige Veränderung basiert aber auf überzeugenden Antworten auf eben diese Fragen.
t3n: Warum heißt das KI-Tool eigentlich „Sherlock“ und nicht „Miss Marple“?
Weil bei Equal Voice Sherlocks ebenso willkommen sind wie Miss Marples.
t3n: Vielen Dank für das Gespräch.
Der Verlag Ringier hat für die Initiative Equal Voice viel Lob geerntet. Aber auch bei Ringier scheint es in Sachen Gleichberechtigung noch viel zu tun zu geben: Schon einen Tag nach dem Start der Initiative postete die Organisation Digital Switzerland ein Foto von Ringier-CEO Marc Walder auf Twitter: Er posierte zusammen mit anderen Chefs der „digitalen Schweiz“. Es waren sechs Männer und null Frauen.