Wie gefährlich wird der Asteroid 2024 YR4? Wir haben einen Esa-Experten gefragt

Derzeit schauen viele gebannt auf die Entwicklung des Asteroiden 2024 YR4. „Niemand muss mit Angst vor Asteroiden abends ins Bett gehen“, sagt der Esa-Experte Richard Moissl im Interview. (Symbolbild: Esa/P. Carril)
Einen historischen Höchstwert hatte der Asteroid 2024 YR4 bis vor Kurzem bei einer möglichen Einschlagswahrscheinlichkeit auf der Erde erreicht: 3,1 Prozent nach Angaben der Nasa Sentry-Daten, 2,8 Prozent nach den Messungen der Esa. Das hatte es bisher für einen Asteroiden mit einem Durchmesser von mehr als 30 Metern in den astronomischen Messungen noch nicht gegeben. Was für Forscher:innen ein äußerst interessanter Fall ist, rief so manche Ängste auf den Plan. Unberechtigt, meint Richard Moissl, Leiter des Planetary Defence Office der Esa in Frascati in Italien. Dennoch rückt die Annäherung von YR4 an die Erde im Jahre 2032 den Fokus auf Abwehrstrategien von solchen Asteroiden. Welche Pläne und Ideen gibt es – für den Fall der Fälle? Was hat man aus der Dart-Mission gelernt? Moissl beschäftigt sich mit diesen Fragen, aber auch damit, Informationen über erdnahe Asteroiden zu sammeln und Vorhersagen von möglichen Einschlägen zu machen. Der Experte verrät auch, wie er zu Science-Fiction-Filmen steht, die diese Thematiken behandeln.
MIT Technology Review (MIT TR): Herr Moissl, als wir in der großen Runde in der Redaktion über den Asteroiden YR4 sprachen, meinte jemand sinngemäß: eine Einschlagswahrscheinlichkeit von zwei Prozent – na und? (Anmerk. der Redaktion: Den Höchstwert erreichte YR4 am 18. Februar mit 3,1 Prozent. Zum Zeitpunkt des Interviews am 17.2. lag der Wert bei 2,2 Prozent. Inzwischen ist der Wert weiter gesunken auf 1,4 Prozent laut den Messungen der Esa). Wieso ist das offenbar für Astronom:innen ein aufsehenerregender Wert?
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Richard Moissl ist Leiter des Planetary Defence Office der Esa in Frascati in Italien. (Foto: Paolo Verzone)
Richard Moissl: Wer auch immer das gesagt hat, dem würde ich beipflichten, dass es wirklich nicht sehr dramatisch ist. Weil zwei Prozent Einschlagswahrscheinlichkeit immer noch 98 Prozent Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass es nur interessant, aber nicht gefährlich ist. Dennoch ist es schon extrem ungewöhnlich, wenn man mal in die Historie guckt. Es gibt immer mal wieder Asteroiden, für die wir ein Einschlagsrisiko mit der Erde nicht hundertprozentig ausschließen können. Sobald ein Asteroid auch nur eine winzig kleine Chance hat, die von null verschieden ist – egal, wie klein diese Zahl ist, lassen wir diesen auf die Risikoliste der Esa, die Esa-Risk List bringen. Wir haben zurzeit über 1.700 Asteroiden, für die das der Fall ist. Und ganz oben, wirklich mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit als alle anderen auf dieser Liste, ist eben YR4. Das ist jetzt seit 20 Jahren das erste Mal, dass ein Asteroid wirklich sicher über einem Prozent liegt. Das macht diese Art von Ereignissen so selten und ist für uns und die Weltgemeinschaft etwas ganz Besonderes.
Mehr und mehr Informationen über den Asteroiden YR4 sammeln
MIT TR: Angesichts der aktuellen Reduzierung des Wertes: Wie wird sich die Einschlagwahrscheinlichkeit Ihrer Einschätzung nach weiterentwickeln?
Moissl: Wir sind voller Zuversicht, dass YR4 in den nächsten Tagen oder Wochen wieder unter ein Prozent Einschlagswahrscheinlichkeit fallen wird. Was wir wirklich brauchen, ist, die Bahn des Asteroiden auszumessen. Die muss sich am Himmel für uns beschreiben und aus dieser Länge der Bahn, die wir beobachten, kriegen die Information über die Orbitalgeschwindigkeit, über die genaue Krümmung der Ellipse. Und das ist alles, was wir brauchen. Dazu braucht es einfach Zeit, um dieses Wissen nach und nach aufzubauen.
MIT TR: Die astronomische Community wird nicht müde zu betonen, dass die Menschen keine Angst vor einem möglichen Einschlag des Asteroiden auf der Erde haben sollen – wie sich ja bereits andeutet. Gibt es dennoch ein Protokoll, welche Schritte getan werden müssen, wenn es doch mal der Fall sein sollte?
Moissl: Zunächst müsste man im Falle einer Bedrohung der Erde gucken, ob da Bevölkerung ist oder ob das irgendwo mitten auf dem Meer stattfindet. Denn, wenn der irgendwo in den Atlantik einschlagen würde, das wäre auch harmlos für uns Bewohner des Planeten. Aber wenn es zu einem Einschlag in der Nähe von besiedeltem Gebiet kommen könnte, dann müsste man zuerst gucken, ob man was Weltraumbasiertes machen kann, um dem entgegenzutreten. Aufgrund der überschaubaren Größe von YR4 ist das ein lösbares Problem.
Das zu beantworten, wäre dann die Aufgabe von SMPAG, wo 19 weltraumfahrende Nationen und Agenturen wie zum Beispiel Esa und Nasa und etliche weitere drin sind, da eben die richtigen Mittel zu finden. Für das Planetary Defence Office gilt – und das wäre auch die letzte Verteidigungslinie: Information, Information, Information. Eben genau zu wissen, wann und wo das Ereignis eintritt. Wir können die physikalischen Prozesse, die daran beteiligt sind, sehr genau modellieren. Und wir haben auch Tools, wo wir das dann wirklich in eine Gefahrenlage übersetzen könnten. Die würden dann Entscheidungsträgern, Zivilschutz, Katastrophenschutzbehörden rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden, sodass die dann darauf reagieren könnten.
MIT TR: Sie sagten gerade Verteidigung. Die Dart-Mission 2022 war ja dazu ausgelegt, zu schauen, ob sich ein potenziell für die Erde gefährlicher Asteroid ablenken lässt. Hat man schon Erkenntnisse?
Moissl: Um es klar zu sagen: Von Didymos und seinem kleinen Begleiter Dimorphos ging nie und geht auch jetzt keine Gefahr aus. Aber Dimorphos wurde schon sehr beeindruckend in seiner Bahn um den Großen abgelenkt. Und das war ja der Trick, dass man mit einem relativ kleinen Satelliten mit einem gezielten Stoß die Umlaufbahn des Kleineren um den Größeren gezielt beeinflusst hat. Das hat spektakulär gut funktioniert und ist wirklich ein epochales Ereignis, weil dadurch klar ist: Wir haben ein Werkzeug, um Asteroiden abzulenken. Es gibt natürlich noch andere Möglichkeiten, aber die sind alle noch nicht im Weltraum demonstriert.
„Die Technologie ist so vielversprechend“
MIT TR: Welche Ideen gibt es denn noch?
Moissl: Es gibt ein ganzes Potpourri an Ideen. Man könnte auch irgendwas an den Asteroiden dran machen, um ihn zu steuern. Aber kurz gesagt muss sich alles, was den Asteroiden berührt, damit auseinandersetzen, dass der Asteroid auch rotiert. Und da ist eine Menge Energie drin. Das wird dann alles, wenn man es im Detail anguckt, technisch aufwendig: also die ganzen Konzepte, die entweder einen kurzen Kontakt herstellen und möglichst viel Energie in kurzer Zeit an Asteroiden übergeben, wie beispielsweise ein Einschlag oder – was wir nuclear explosive Devices nennen. Das sind Mittel, bei denen klar ist: Man gibt eine dosierte Menge an Energie, beziehungsweise Impuls ab und das setzt sich entsprechend in eine Geschwindigkeitsänderung um.
Elegante Methoden sind zum Beispiel, den Asteroiden dauerhaft mit einer kleinen, aber sehr kontrollierten Kraft, ohne Berührung abzulenken. Das vielversprechendste Konzept ist da der Ion-Beam-Shepherd – also, dass man mit einem Ionen-Triebwerk den Asteroiden anstrahlt, sich selbst in der Balance hält, sodass dieser ganze Antrieb auf den Asteroiden übertragen wird. Das ist zwar in dem Moment nur ein kleiner Schub, aber wenn man das über Jahre und Jahre aufrechterhält, kann man damit sehr dosiert ablenken. Die Technologie ist so vielversprechend und skalierbar, dass wir auch zusammen mit den Kollegen aus den USA an Studien arbeiten. Denn wenn man das ganze System kleiner macht, kann man es auch für Weltraumschrott nehmen, um den einzusammeln beziehungsweise zum gezielten Absturz zu bringen, damit er in der Atmosphäre verglüht.
MIT TR: Das sind aber bisher ausschließlich Studien?
Moissl: Wir sind aktiv dran und starten im September dieses Jahres eine Studie, die läuft unter dem Studiennamen Precise Asteroid Nudging, kurz PAN, für den Gott der Schäfer. Da ist das Prinzip des Ion-Beam-Shepherd. Aber das ist momentan für den YR4 keine Option. Man muss das weiter erforschen und demonstrieren. Aber in Zukunft bekommen wir da auch weitere Optionen.
Was Sci-Fi-Filme über Asteroiden zeigen
MIT TR: Wenn Sie sich beruflich so viel mit Asteroidenablenkung beschäftigen, schauen Sie privat dann noch gerne Filme wie „Armageddon“ oder „Don’t look up“?
Moissl: Oh, doch! Ich bin großer Science-Fiction-Fan. Natürlich gucke ich so was wie „Don’t look up“ an. Klar, der ist eine Allegorie auf den Klimawandel, aber der Film wurde ja auch von unseren amerikanischen Kollegen beraten, wie das Logo am Anfang des Films zeigt. Auch wenn die Abteilung Planetary Defense Coordination Office der Nasa diese Abteilung da in dem Film natürlich nur humoristisch behandelt wird, wirft er schon echte und sehr relevante Fragen auf: Wie reagieren die Entscheidungsträger, die letzten Endes dann die Gelder bewilligen und die Weltraumagenturen anweisen müssen?
Wir widmen dieser Frage sogar eine ganze Konferenz. Das ist die zweijährlich stattfindende Planetary Defense Conference, die in diesem Jahr vom 4. bis 9. Mai in Stellenbosch bei Kapstadt in Südafrika stattfindet. Wir versuchen da das Bewusstsein zu schärfen und zu vergrößern, dass mit dem Wissen um einen bevorstehenden Einschlag, der Bewertung von Unsicherheiten und den notwendigen Abwägungen irgendwann mal umgegangen werden muss. Denn: Niemand muss mit Angst vor Asteroiden abends ins Bett gehen. Da ist auf kurze Sicht die Wahrscheinlichkeit viel zu gering, dass sich irgendjemand Sorgen machen muss. Selbst ich kann ruhig schlafen, aber auf beliebig großen Zeitskalen wird es irgendwann passieren, dass ein Asteroid direkten Kurs auf die Erde nimmt. Und deswegen ist jetzt, wo wir nichts Akutes in Sachen Asteroiden haben, die beste Zeit in aller Ruhe, mit kühlem Kopf und mit maximaler Arbeitseffizienz und minimalem Budget die Fähigkeiten zur Beobachtung, Auswertung und Verteidigung Stück für Stück immer weiter auszubauen, sodass wir für den Tag irgendwann gewappnet sind, wenn er kommt.