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Wie große Menschenmengen in einen Strudel geraten: KI-Modell sagt Bewegungsmuster voraus

Je größer die Menschenmenge, desto unberechenbarer ist sie. Doch eine neue Studie zeigt, dass es offenbar eine kritische Schwelle gibt, an der die Menschen in einen unbewussten Strudel geraten. Diese Erkenntnis könnte helfen, vorab Warnungen bei Veranstaltungen zu geben.

Von Eike Kühl
3 Min.
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Menschenmassen beim San Fermìn festival, Pamplona. (Foto: Bartolo Lab, ENS de Lyon)

Menschenmassen können zu einer tödlichen Gefahr werden. Immer wieder kommt es bei Massenveranstaltungen zu Panik, in deren Folge Menschen erstickt, erdrückt oder überrannt werden. Das Unglück bei der Loveparade 2010 in Duisburg ist so ein bekanntes Ereignis aus Deutschland. Aber auch erst kürzlich in Indien brach beim weltweit größten Pilgerfest Kumbh Mela eine Massenpanik aus. Dank Erkenntnissen auf dem Gebiet der Gruppensimulation und besseren Sicherheitskonzepten lassen sich Menschenmengen inzwischen zwar besser steuern und dadurch Katastrophen vorbeugen. Doch je größer die Gruppe, desto schwieriger ist es, deren Verhalten vorherzusagen.

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„Ein gewaltiges Mehrkörperproblem“

Ein Team um den Physiker François Gu von der École Normale Supérieure in Lyon präsentiert nun neue Einblicke in die Bewegungen sehr großer Menschenmengen. Die von unabhängigen Expertinnen und Experten geprüfte Studie ist vergangene Woche im Fachmagazin „Nature“ erschienen – und die Ergebnisse verblüffen sogar die Forschenden selbst.

„Unser derzeitiges Verständnis der Dynamik von Menschenmengen beruht in erster Linie auf heuristischen Kollisionsmodellen, die das in kleinen Gruppen beobachtete Verhalten effektiv erfassen“, heißt es in der Studie. Menschen versuchen instinktiv, anderen aus dem Weg zu gehen, sobald es eng wird. Doch sobald Tausende Individuen zusammenkommen, entstehe ein „gewaltiges Mehrkörperproblem“, das nicht allein durch individuelle Entscheidungen, sondern durch physische Kräfte und Wechselwirkungen bestimmt wird. Und doch lässt sich offenbar selbst in den Bewegungen Tausender Menschen ein reproduzierbares Verhalten erkennen.

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Crowd-Analyse mit künstlicher Intelligenz

Gu und sein Team haben dafür das San Fermín Festival im spanischen Pamplona untersucht, das für sein jährliches Stiertreiben bekannt ist. Zwischen 2022 und 2024, sowie mit Abstrichen im Jahr 2019, haben sie die Menschenmengen in der Zeit vor dem sogenannten chupinazo, dem offiziellen Startschuss des Festivals, untersucht. Zu diesem Zeitpunkt versammeln sich die meisten Besucherinnen und Besucher vor dem Rathaus in Pamplona auf einer Fläche, die kleiner ist als ein Fußballfeld.

Die Forschenden haben von zwei Balkonen rund um den Platz herum das Treiben aufgezeichnet. Nach der Bereinigung der Aufnahmen haben sie diese mithilfe des P2PNet-Algorithmus analysiert, einem noch vergleichsweise jungen KI-Modell, das Individuen in Menschenmengen zählen kann und anhand dessen die Dichte von Menschengruppen bestimmt.

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Mit diesen Daten konnten sie beobachten, wie sich die Dichte der Festivalbesucher und -besucherinnen vor dem Startschuss verändert hat und linear von zwei Personen pro Quadratmetern auf bis zu sechs Personen pro Quadratmeter anstieg. Überraschend war, was bei einer kritischen Schwelle von vier Personen pro Quadratmeter geschah: Die Menschenmenge, die sich zuvor weitestgehend willkürlich bewegt hatte, begann zu „schwingen“: Über den gesamten Platz verteilt bewegten sich Gruppen von Hunderten von Menschen plötzlich in synchronisierten, wirbelnden Mustern, die, je nach Größe der Gruppe, bis zu 18 Sekunden lang andauerten. Die Besucher merkten von diesen Wirbeln vermutlich nichts, aber in schneller abgespielten Videos lassen sie sich gut erkennen.

Antizipation von Menschenmengen

Diese Oszillationen fanden in allen vier untersuchten Jahren in Pamplona statt, stets zu einem ähnlichen Zeitpunkt. Und nicht nur dort: Zur Kontrolle untersuchten die Wissenschaftler Videos, die kurz vor dem Loveparade-Unglück 2010 gemacht wurden. Auch dort fanden ganz ähnliche Schwingungen statt.

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Das zeige, dass die Wirbel nicht durch äußere Signale wie Musik oder Anweisungen der Polizei angetrieben werden, sondern aus dem Zusammenspiel von Kontakt- und Schubkräften, sprich aus Reibung, entstehen, schreiben die Forscher. Oder technischer ausgedrückt: „Dichte Menschenmengen können sich selbst zu makroskopischen chiralen Oszillatoren organisieren.“

Wenn sich die Bewegung in großen Menschenmengen mathematisch berechnen lassen und es mutmaßlich einen Schwellenwert für die Menschendichte gibt, an dem die Menge anfängt zu schwingen, ergeben sich eventuell neue Ansätze, um einer Massenpanik vorzubeugen und Großveranstaltungen künftig noch besser zu steuern. „Unsere Ergebnisse bieten eine praktische Strategie, um gefährliches Verhalten von Menschenmengen in begrenzten Umgebungen zu antizipieren“, schreiben die Forscher.

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Kommentare (1)

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Simon Handels

Danke für diesen schönen Bericht über die Studie!
Als regelmäßiger Festivalgänger ist mir ein solches Verhalten schon oft aufgefallen. Immer wieder erstaunlich, wahrzunehmen, dass soetwas nicht ganz allgemein bekannt ist. Schon oft hab ich mich einfach mal von der Meute an einer Bühne treiben lassen und festgestellt, dass er entweder „von allein“ nach vorne rechts oder vorne links geht, wenn man sich etwa mittig befindet. Je weiter hinten man ist, desto anders wirkt es sich aus.
Euer Text hat mir nochmal geholfen, wahrzunehmen, dass der Gang dabei wirklich kreisförmig scheint – sprich wie ein Strudel. Auch auf Partys ist mir das schon aufgefallen.

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