Wir brauchen keine Elektroautos, sondern Barrierefreiheit! - t3n

Ladesäulen für Elektroautos sind eine feine Sache – wenn man sie denn nutzen kann. An Menschen mit Behinderungen wird mal wieder nicht gedacht. Das sollten wir schon aus purem Egoismus ändern, meint unsere Kolumnistin Katja Diehl. Schätzungen gehen davon aus, dass zehn Prozent der Menschen in Deutschland auf Barrierefreiheit zwingend angewiesen sind. Aber: Diese Zahl täuscht. Es sind viel mehr. Bis zu 40 Prozent benötigen Barrierefreiheit als grundlegende Hilfe im alltäglichen Leben. Doch bei Mobilität wie auch in vielen anderen Bereichen des Lebens wird dieser „Bedarf“, den ich eher Grundrecht nennen würde, bis heute ignoriert. Ende April 2023 veröffentlichte die Nationale Leitstelle Ladeinfrastruktur im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) den Leitfaden „Einfach Laden ohne Hindernisse: Anforderungen an barrierefreie Ladeinfrastruktur“. Darin sind Grundlagen zusammengestellt, damit „insbesondere Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zur Elektromobilität erhalten“. Barrierefreiheit als "Nice to have" Erstaunlich, dass es 2023 noch solcher Leitfäden bedarf? Bei Weitem nicht. Denn Barrierefreiheit ist in Deutschland oft noch ein „Nice to have“ statt ein „Must“. Vereine wie Sozialhelden sind hier diejenigen, die sensibilisieren und verbessern – aus der Rolle der Menschen heraus, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Raúl Krauthausen, Gründer und Vorstand des Vereins Sozialhelden und Inklusionsaktivist betont: „Ein Leitfaden allein macht die Infrastruktur nicht barrierefrei. Deshalb ist es jetzt wichtig, dass sowohl Städte und Kommunen als auch Hersteller und Betreiber die Anforderungen umsetzen.“ An all diejenigen, die schon vollelektrisch mit dem Auto unterwegs sind: Schon aufgefallen, dass Ladesäulen oft mit Pollern umfasst sind, um sie davor zu schützen, dass Autofahrende sie anfahren? Oder dass der Stecker an den Ladesäulen ziemlich hoch angebracht ist? So gestaltet, sind Ladesäulen nicht nutzbar für Menschen im Rollstuhl, weil sie nicht an die Säule gelangen und aufgrund des ungünstigen Winkels im Sitzen den Stecker nicht bedienen können. [crosslinks ids="1540564,1567369"] Es gibt zudem eine wachsende Begeisterung für das Anbringen von Ladesäulen auf Gehwegen. Auch das schafft zusätzliche Barrieren und Stolperfallen. Auf heute schon zu engen Bürgersteigen. Wer hat dort zuletzt noch eine Rollstuhlfahrerin oder einen Herrn mit Rollator gesehen? Je barrierefreier ein Raum ist, desto diverser sind die Menschen, die sich in ihm bewegen (können). Wie kann es sein, dass eine neue Infrastruktur gebaut wird, ohne sie inklusiv zu gestalten? Wie kann es sein, dass wir das seit dem 1. Januar 2022 europaweit gültige Personenbeförderungsgesetz zur „vollständigen Barrierefreiheit“ im Nahverkehr immer noch nicht umgesetzt haben? Einfache Antwort: Weil die Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, nicht an den Tischen sitzen, an denen Entscheidungen getroffen werden. So werden ICE weiterhin mit Stufen eingekauft, sodass Menschen im Rollstuhl sich im Voraus anmelden und hoffen müssen, dass sowohl Personal bereitsteht, um sie per Hublift in die Bahn zu bringen, als auch dass die sogenannte „Universaltoilette“ funktioniert, da sonst die Mitnahme verweigert wird. Menschen im Rollstuhl ist spontane Bahnmobilität somit verunmöglicht – weil wir sie verhindern. Durch Ignoranz. Wie wird die Barrierefreiheit priorisiert? Die Bundesregierung hat sich in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag ein neues Ziel gesteckt: Barrierefreiheit im Personennahverkehr bis 2026, ohne Ausnahmen. Wir dürfen gespannt sein, wie priorisiert das umgesetzt und vor allem auch überprüft wird. Selbstbestimmte Mobilität sollte für alle möglich sein. Sie ist aber immer noch zu oft exklusiv. Für viele Gruppen, vor allem aber auch Menschen, die nicht mitgedacht werden, weil ihre Bedürfnisse als „anders“ und daher vernachlässigbar definiert werden. Dabei sollten wir in einer überalternden Gesellschaft schon aus Egoismus für Barrierefreiheit einstehen, denn wir werden irgendwann alle auf sie angewiesen sein. Und Menschen mit viel Gepäck, Kinderwagen oder temporär an Krücken laufend, sind schon heute dankbar, wenn Infrastruktur und Mobilitätsangebote inklusiv gestaltet werden.