Gamification: Wie Webapps mit Spaßfaktor Nutzer binden
Eine Werkstatt, irgendwo in Schweden. Ein Mann schleift und schraubt an einem grünen Metallkasten; ein anderer lötet eine LED-Anzeige. Ein dritter poliert eine Reihe von Lampen.
Später, die Bahnhaltestelle Södra in Stockholm. Der Metallkasten – ein Altglascontainer – steht an einer unscheinbaren Backsteinfassade; irgendwo aus seiner Tiefe erklingt 8-Bit-Musik. Die Lampen leuchten in zufälliger Reihenfolge über den verschiedenen Einwurflöchern auf. Die LED-Anzeige – am Kopf des Kastens montiert – gibt 100 Punkte für jedes Mal, wenn man eine Flasche zum richtigen Zeitpunkt ins richtige Loch wirft. Dazu erklingt ein cartoonig-befriedigendes Rutschgeräusch. Passanten blicken erst irritiert und bringen dann ihr Altglas vorbei. An nur einem Abend wird der Container über 100 Mal benutzt. Der reguläre Altglascontainer daneben nur zwei Mal.
Mit Spaß Verhalten ändern?
Die „Bottle Bank Arcade“ ist nur eines von mehreren Videos der Werbekampagne „The Fun Theory“, die Volkswagen Schweden 2009 für die Umweltmarke BlueMotion [1] lancierte. Ihr Slogan – „Spaß ist der einfachste Weg, das Verhalten von Menschen zu verändern“ – fängt den Kern eines Trends ein, der seit 2010 die digitale Welt erfasst hat: Gamification, zu deutsch etwa „Spielifizierung“.
Von der Abnehmhilfe bis zum Rettungsprogramm für Afrika, von nutzergenerierten Inhalten bis zur crowdgesourcten Wissenschaft: keine Anwendung, Website oder Tätigkeit, die nicht mit Elementen aus Computerspielen spaßiger und motivierender gestaltet werden könnte – so zumindest die Idee. Nike+ [2] kombiniert Turnschuhe mit Beschleunigungssensor, iPod und Webanwendung, um Joggen in Wettkämpfe mit sich und anderen zu verwandeln. GetGlue, eine Plattform rund um Nutzerempfehlungen für Medien, vergibt Punkte und Sticker an Nutzer, wenn sie Bewertungen abgeben, Rezensionen schreiben oder Wikiseiten kuratieren. Im Webspiel Phylo [3] stimmen Spieler Gensequenzen aufeinander ab. Die Ergebnisse werden in realer Forschung weiterverwandt. Und „Ribbon Hero“ [4] führt Nutzer spielerisch durchs Microsoft-Office-Tutorial.
Spätestens seit der ersten eigenen Konferenz, dem Gamification Summit im Januar 2011 in San Francisco, ist Gamification allgegenwärtig. Alle großen Industrie-Events – Game Developers Conference, South by Southwest, Web 2.0 Expo – boten 2011 Keynotes oder Tracks zum Thema. Mittlerweile mehrere Anbieter offerieren Gamification als Service-Layer nebst Analytics-Plattform [5]
[6]. Nach einer Erhebung des Marktforschungsunternehmens M2 Research soll der Markt für solche Dienste von etwa 100 Millionen US-Dollar 2011 auf 2,8 Milliarden US-Dollar 2016 anwachsen [7].
Die Wegbereiter
Die Idee, dass man mit (Computer-)Spielen noch andere Dinge tun kann als spielen, ist bei Leibe nicht neu. Seit gut zehn Jahren arbeiten Industrie und Forschung fleißig an „Serious Games“, Spielen für ernste Zwecke wie Bildung, Werbung, politische Kommunikation oder Gesundheit. Simulationsspiele werden im Militär seit Jahrhunderten für strategische Planung und Schulung eingesetzt. Warum entwickelt sich Gamification also gerade jetzt zum Buzzword?
Ein wesentlicher Zündfunke war der Location-based Service Foursquare. 2009 auf dem Digitalmekka South by Southwest gestartet und vom Festivalpublikum sofort umarmt, demonstrierte er erstmals, dass Spielelemente einer Applikation zum Erfolg verhelfen können. Bis heute liefert Foursquare die Blaupause für praktisch alle „gamifizierten“ Anwendungen: Punkte, Auszeichnungen und Highscore-Listen. Diese Dreifaltigkeit fehlt bei praktisch keiner aktuellen Gamification-Anwendung.
Ein weiterer Zündfunke war der unerwartete Erfolg von Social Games wie FarmVille, die binnen kürzester Zeit zig Millionen aktive Nutzer erreichten – und mit Mikrotransaktionen für virtuelle Güter erfolgreich in bare Münze übersetzten. Das signalisierte an Venture-Kapitalisten: Mit Spielen kann man online offenbar Geld verdienen – viel Geld.
Als dritter Anstoß kamen immer mehr Unternehmer, Designer und Akademiker hinzu, die alle die gleiche Botschaft sendeten: „Computerspiele sind überall. Nichts motiviert wie ein gutes Spiel. Dieses Potenzial können wir nutzen.“ Exemplarisch hierfür steht der Vortrag, den der Game-Designer und Professor Jesse Schell im Februar 2010 auf der Spieleindustrie-Konferenz DICE hielt [8].
Schell zeichnete darin die Vision einer „Gamepokalypse“, in der jede Alltagstätigkeit mit Sensoren erfasst und von Werbeindustrie, Arbeitgebern und Regierung mit Punkten honoriert wird: Das Gesundheitsministerium belohnt den gesunden Arbeitsweg mit dem Fahrrad, der Zahnbürstenhersteller das fleißige Zähneputzen, weil es mehr Bürsten verbraucht.
Gedankenkontrolle und Schlangenöl
Schells Präsentation erhitzt bis heute die Gemüter. Auf der einen Seite jubeln Marketer wie Gabe Zichermann, Organisator des Gamification Summit, für die der Traum perfekter Kundenbindung wahr zu werden scheint: „Spiele sind die einzige Macht im Universum, die Menschen verlässlich dazu bewegen kann, gegen ihr eigenes Interesse zu handeln“, so Zichermann in einem kürzlichen Interview [9].
Auf der anderen Seite rebellieren vor allem Game Designer gegen solchen „Missbrauch“ ihrer Kunst und warnen zugleich vor Schlangenölverkäufern. Heutige gamifizierte Anwendungen reduzierten Spiele auf ihre oberflächlichsten Eigenschaften, wie die britische Game-Designerin Margaret Robertson kritisiert. Sie erweckten so „den falschen Eindruck, es gebe einen einfachen Weg, ein Produkt mit der psychologischen, emotionalen und sozialen Kraft eines guten Spiels zu versehen.“ [10] In diesem Meinungsstreit drücken sich gleichzeitig zwei fundamental gegensätzliche Auffassungen aus, warum Computerspiele Spaß machen. Für Marketer wie Gabe Zichermann sind es Belohnungen. Mit Punkten, Badges und virtuellen Gütern funktionieren Spiele wie behavioristische Laborexperimente, in denen eine Ratte jedes Mal mit einer Futterpille belohnt wird, wenn sie einen bestimmten Knopf drückt.
Game Designer teilen dagegen eher die Position von Jane McGonigal, Leiterin der Spieleforschung und Entwicklung am kalifornischen Institute for the Future. Ihr 2011 erschienenes Buch „Reality is Broken“ ist das aktuell vielleicht meistdiskutierte Manifest für den Einsatz von Spielen und Spielelementen zur Lösung realer Missstände. „Spiele setzen uns freiwillige Herausforderungen“, so McGonigal. Das Glücksgefühl in Spielen ist das Erfolgserlebnis, eine solche Herausforderung gemeistert zu haben – ein Puzzle gelöst, eine Kurve genommen, ein Bossmonster besiegt. Und die psychologische Erforschung von Computerspielen ist eher auf McGonigals Seite. Womit wir bei der vielleicht wichtigsten Frage wären: Wie lässt sich das Erzeugen solcher Erfolgserlebnisse auf andere Applikationen übertragen?
Gestalten für Erfolgserlebnisse
Nach McGonigal besteht ein Spiel aus vier Dingen: Zielen, Regeln, Feedback und freiwilliger Teilnahme. Hunderte von Experimenten zeigen, dass allein das Setzen von klaren Zielen motivierend wirke
n kann. Und so gibt es in Spielen immer ein klares Spielziel wie „Rette die Prinzessin“, „Erobere die Welt“. Spiele zergliedern große Ziele in viele kleine und legen Nutzern so einen Pfad durch das Erlebnis. Und wann immer ein Etappenziel erreicht ist, liegt das nächste verführerisch nah. Auf das Web übertragen, begrüßt etwa die Gamification-Plattform GetGlue wiederkehrende Nutzer mit der Botschaft, dass sie nur noch so und so wenige Aktivitäten von der nächsten Auszeichnung entfernt sind. Die Finanzmanagement-Plattform Mint lässt Nutzer eigene Finanzziele wie den Tropenurlaub oder das Eigenheim einstellen – und zeigt dann mit Fortschrittsbalken, wie sie ihren Zielen schrittweise näher kommen.
Gleichzeitig verleiht das große Spielziel den kleinen Aktivitäten Bedeutung, indem es sie in eine größere Geschichte einbettet. Jeder Sprung auf die nächste Plattform bringt Mario der Prinzessin näher. Online ist Wikipedia ein gutes Beispiel hierfür. Die Scharen von freiwilligen Editoren und Administratoren motiviert nicht zuletzt, dass sie gemeinsam an etwas Großem und Bedeutsamem arbeiten. Jeder noch so kleine gelöschte Spameintrag fördert das große Ziel „einer Welt, in der jeder Mensch frei an der Summe menschlichen Wissens teilhaben kann“, wie es der Slogan der Wikimedia-Foundation formuliert.
Ziele allein schaffen freilich noch nicht unbedingt Erfolgserlebnisse. Golf etwa wäre ziemlich langweilig, wenn man einfach den Ball nehmen und ins Loch legen könnte, um zu gewinnen. Spiele haben Regeln, die unsere Handlungsmöglichkeiten künstlich einschränken und so aus einem Ziel eine spannende Herausforderung machen. So gibt die Musikplattform thesixtyone ihren Nutzern jeden Tag nur beschränkt viele „Herzen“ zum Favorisieren von Titeln – mehr Herzen muss man aktiv erarbeiten.
Dabei balancieren Game Designer die Schwierigkeit sorgsam so aus, dass Spieler zu keinem Zeitpunkt über- oder unterfordert sind. Je besser Spieler das Spiel beherrschen, umso komplexere Aufgaben bekommen sie präsentiert. So erlernen sie ein Spiel Schritt für Schritt beim Spielen selbst. Schnelle Erfolgserlebnisse statt langer Einübung, Learning by Doing statt erklärender Text-Popups, schrittweise Einführung statt überwältigendem Feature-Wald – die Onboarding-Prozesse von „ernster“ Software und Apps können sich viel von den Tutorials erfolgreicher Computerspiele abschauen.
Spielelement Nummer drei auf McGonigals Liste ist Feedback. Erfolgreich können wir uns nur fühlen, wenn uns das Spiel auch rückmeldet, dass wir ein herausforderndes Ziel tatsächlich erreicht haben. In Spielen löst auch der kleinste Input größten Output aus: Münzschauer, Regenbogen, Explosionen – oder fliegende Körperteile. Feedback in Spielen ist sinnlich, unmittelbar, regelmäßig, eindeutig, persönlich, konkret, hoch informativ. Feedback in „ernster“ Software bleibt dagegen oft genug ein kryptisch formuliertes Text-Popup.
Dazu macht Feedback in Spielen unsere Erfolge öffentlich – über Erfahrungspunkte, Level oder eben Auszeichnungen. Das spricht potenziell unser Bedürfnis an, von anderen anerkannt zu werden oder sich mit anderen zu messen. Wie effektiv das auch auf Webseiten sein kann, zeigt das Beispiel StackOverflow. Die wohl erfolgreichste Frage-und-Antwort-Plattform für Software-Entwickler vergibt explizit Punkte und Auszeichnungen für das Stellen und Beantworten von Fragen. Eine jüngst publizierte wissenschaftliche Studie zur Plattform schreibt ihren Erfolg unter anderem ausdrücklich der Tatsache zu, dass viele Nutzer sie als zu gewinnendes Spiel erleben. In den Worten eines interviewten Nutzers: „Stack Overflow, das ist wie World of Warcraft, nur produktiver.“ [11] Eine Folge: Im Durchschnitt erhält jede neue Frage auf StackOverflow binnen elf Minuten eine Antwort.
Unerwünschte Nebenwirkungen
Genauso dramatisch die positiven Effekte sein können, genauso dramatisch kann der achtlose Einsatz von Spielelementen allerdings auch nach hinten losgehen. Im Mai 2009 bescherte die Blogging-Plattform Tumblr seinen Nutzern ein neues Dashboard mit Statistiken. Mit dabei: „Tumblarity“, ein globaler Wert für die Popularität des eigenen Blogs auf der Plattform. Und in der Tat fühlten sich viele Nutzer motiviert, die eigene Tumblarity zu steigern. Der einfachste Weg dazu war jedoch, so viele Posts wie möglich zu publizieren, was unmittelbar auf Kosten der Qualität ging. Die auf handgepickte Internetfundstücke fokussierte Tumblr-Gemeinde rebellierte massiv, im Januar 2010 wurde die Tumblarity-Anzeige entfernt.
Zudem spricht nicht jedes Spielelement jede Nutzergruppe gleich an. 2007 etwa startete Fanlib.com als User-Generated-Content-Plattform für Fan Fiction – von Fans geschriebene Texte über Star Trek, Star Wars und andere Medienfranchises. Um Nutzer zur Teilnahme zu motivieren, veranstalteten sie Gewinnspiele und Wettbewerbe um die „beste Geschichte“. Die Sache hatte nur einen Haken: Praktisch die gesamte Fan-Fiction-Gemeinde ist weiblich und eher durch Werte wie gegenseitige Hilfe und Unterstützung als Wettbewerb geprägt. Entsprechend harsch fiel die Reaktion der Zielgruppe aus. Fanlib.com schloss 2008 die Tore.
Zahlreiche psychologische Studien zeigen schließlich, dass äußere Belohnungen wie Rabattpunkte oder Incentives zwar kurzfristig ein Verhalten fördern, langfristig aber eher schädlich sind. Knüpft jemand Belohnungen an eine Tätigkeit, fühlen wir uns dadurch rasch kontrolliert und demotiviert oder rebellieren durch Schummeln. Spielen – das vierte und letzte Merkmal auf McGonigals Liste – ist freiwillig; gerade dass wir im Spiel zeitweise den Zwängen und Anforderungen unseres Alltags entfliehen können, macht einen Großteil seines Reizes aus.
Der Ritt auf der Hype-Kurve
Die Geschichten von Tumblr oder Fanlib.com zeigen vor allem eines: Spielelemente sind keine „schlüsselfertigen“ Lösungen zur sofortigen Nutzermotivation. Sie brauchen sorgsame Gestaltung. Die nötige praktische Erfahrung fehlt jedoch noch weitgehend im Markt. So wird man in den kommenden Monaten wohl viele gescheiterte – und einige erfolgreiche – Gamification-Experimente sehen.
In den Begriffen der „Hype-Kurve“ der renomierten US-amerikanischen IT-Beratung Gartner bewegt sich Gamification aktuell irgendwo zwischen dem Aufstieg zum Gipfel „überzogener Erwartungen“ und dem Abschwung in die erste „Senke der Enttäuschungen“, bevor es an den mühsamen Anstieg ins „Plateau der Produktivität“ geht. Wie bei jeder anderen Innovation ist dieser Prozess jedoch unumgänglich. Denn nur in seinem Durchlauf lässt sich die Erfahrung sammeln, wann und wie Spielelemente sinnvoll sein können – und wann nicht.
Weiterführende Links | |
What the heck is Gamification? – Einführende Linksammlung | http://storify.com/blogschau/a-path-to-gamification |
Gamification-Gruppe auf Slideshare | http://www.slideshare.net/group/gamification |
Gamepocalypse Now | http://gamepocalypsenow.blogspot.com/ |
Gameful.org – Online-Community für Designer | http://Gameful.org |
Gamification.co | http://gamification.co/ |
Weiterführende Literatur | |
Game Frame: Using Games as a Strategy for Success (ISBN: 978-1451611052) | Der New Yorker Digital-Stratege Aaron Dignan gibt ein praktisches Modell für die Gestaltung von Verhaltensspielen. |
Building Web Reputation Systems (ISBN: 978-0596159795) | Gamifizierte Plattformen sind oft einfach gut gestaltete Webreputationssysteme. |
Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World (ISBN: 978-1594202858) | Das Manifest zum Thema von Designerin und Forscherin Jane McGonigal. |
Seductive Interaction Design (ISBN: 978-0321725523) | Pflichtlektüre – sobald es erschienen ist. |