Arbeiten im Homeoffice: Vertrauen statt Videokontrolle
Abstand statt Moshpit, soziale Distanz statt Verbrüderung auf dem Zeltplatz: Tausende seiner großen portablen Musikboxen wollte Soundboks in diesem Jahr eigentlich verkaufen. Dann kam Corona – und damit der Ausfall fast aller Festivals und großen Partys. Vor fast zehn Jahren wollte Jesper Theil Thomsen die lauteste, beste und stabilste Box für sich und seine Freunde haben, um auf dem Zeltplatz des Roskilde Festivals in Dänemark zu punkten. Aus dem ersten Modell Marke Eigenbau ist mittlerweile das Tech-Startup Soundboks mit Büros in Kopenhagen, Los Angeles und Shenzen geworden.
Doch in diesem Jahr herrscht auch beim Lautsprecherbauer ein anderer Ton: Von heute auf morgen wechselten die 55 Mitarbeiter ins Homeoffice, die Umsätze brachen ein, die Perspektive für die Partybegleiter plötzlich düster. Investoren zogen deshalb zugesagtes Kapital zurück. Die Folge: „Wir mussten die Kosten massiv senken“, sagt Thomsen. Via Videokonferenz sendeten er und seine Mitgründer, alle gerade einmal Mitte 20, sofort eine klare Botschaft an das Team: „Am wichtigsten ist es, gedanklich in Bewegung zu bleiben und neue Sachen auszuprobieren“, so Thomsen. „Macht lieber zu viel – und dabei vielleicht auch mal Fehler.“ Das bedeutete zum Beispiel: Wer vorher bei Soundboks für den Auftritt bei Festivals verantwortlich war, kümmerte sich jetzt eigenverantwortlich um die Organisation von Musikveranstaltungen via Livestream. Die Mitarbeiter mussten neue Wege finden, um die Lautsprecher im Gespräch – und im Geschäft – zu halten.
Eine mutige Ansage der Gründer. Und viel Verantwortung für das junge Team. Die grundsätzliche Herausforderung aber sah für viele Unternehmen in Deutschland und Europa in den vergangenen Wochen sehr ähnlich aus. Büros wurden gesperrt, Lieferketten wackelten, bestehende Geschäftsmodelle funktionierten plötzlich nicht mehr. Damit veränderte sich die Arbeitswelt in Unternehmen. Der Sachbearbeiter musste jetzt ganz andere Sachen bearbeiten – für die vorher keine Prozesse definiert waren. Und die Teamleiterin konnte nicht mehr regelmäßig ihre Runden durch die Abteilung drehen, um ihren Mitarbeitern über die Schulter zu schauen.
Jetzt, nach oftmals chaotischen Wochen, wagen Unternehmen und Mitarbeiter eine vorsichtige Zwischenbilanz. Und merken, dass in der Krise einige Veränderungen in der Arbeitswelt angekommen sind, die auf Dauer bleiben könnten. Viele Themen, die in die Welt von New Work gehören, sind auch in bislang traditionell aufgestellten Unternehmen angekommen. Sei es die flexiblere Gestaltung von Arbeitszeit und -ort, weniger Kontrollen entlang der Hierarchie oder mehr Entscheidungsmöglichkeiten für den einzelnen Mitarbeiter. „Es war ein wenig wie ein Crashkurs“, sagt Nico Rose, Wirtschaftspsychologe und Professor an der privaten Hochschule International School of Management in Dortmund. „Natürlich wird nicht alles bestehen bleiben – aber einige Entwicklungen werden sicher auf Dauer zum Arbeitsleben dazugehören.“
Nicht auf Zoom, sondern auf die Kultur kommt es an
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Nur weil Zoom jetzt auf den meisten Laptops installiert ist, hat sich nicht automatisch die Kultur der Organisation gewandelt. Und auf die kommt es tatsächlich an. Das Stuttgarter Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) befragte im Mai 500 deutsche Unternehmen zu Veränderungen bei Struktur, Hierarchie und technischer Ausstattung rund um die Mitarbeiter. Die klarste Zustimmung: 93 Prozent der Befragten sind voll oder überwiegend überzeugt, dass ein guter Zusammenhalt und eine starke Kultur eine Belegschaft gut durch Krisenzeiten tragen.
Viele der Experimente mit mehr Flexibilität und Freiheit waren in den vergangenen Wochen erfolgreich. Und das nicht nur in der wissensbasierten Welt, in der sich vielleicht nur der Inhalt eines Excel-Dokuments änderte. Die private Kühne Logistics University aus Hamburg hat sich angeschaut, wie etwa Textilhersteller, Chemieunternehmen oder Automobilzulieferer in der Krise die Fertigung umstellten. In manchen Fabriken entstanden plötzlich Masken statt Mode oder Desinfektionsmittel statt Spezialchemikalien. Viele Unternehmen seien überrascht gewesen, mit welcher Geschwindigkeit sie plötzlich aktiv sein konnten, berichtet Professor Kai Hoberg.
Die Mitarbeiter hätten größtenteils mitgezogen. „Besonders in der Anfangsphase waren die Mitarbeiter hochmotiviert, einen Beitrag zur Bekämpfung der Coronakrise zu leisten“, sagt Hoberg. Die IAO-Studie kommt zu ganz ähnlichen Erkenntnissen: 81 Prozent der Unternehmen sind überzeugt, dass Führungskräfte und Mitarbeiter mit großer Initiativkraft innovative Lösungswege erarbeiten können.
Viel war zuletzt jedoch auch gerade deshalb möglich, weil sich Unternehmen und Mitarbeiter in einer Ausnahmesituation befanden. Manche Überstunde wurde akzeptiert, weil man um den eigenen Job fürchtete. Und manch chaotischer Prozess wurde hingenommen, weil sich für Führungskräfte schlicht keine Alternative bot. Wissenschaftler Rose spricht von einer Art Desensibilisierungstest: In überraschend großen Schritten wurden Angestellte und Führungskräfte außergewöhnlichen Reizen ausgesetzt. Jetzt ist es an der Zeit, genauer hinzuschauen, bei welchen neuen Arbeitsweisen tatsächlich hartnäckige Abwehrreaktionen bestehen.
Die deutlichste Veränderung zeichnet sich dabei beim Thema „Homeoffice“ ab. In vielen Unternehmen mussten Angestellte vorher darum ringen, in Ausnahmefällen vielleicht einmal von daheim arbeiten zu können. Jetzt sagen in der IAO-Studie fast 90 Prozent der Befragten, dass man auf den flexiblen Arbeitsort in Zukunft in größerem Umfang zurückgreifen könne, ohne dass dadurch Nachteile entstünden
Die ersten Konzerne haben ihre Schlüsse schon gezogen. Der globale IT-Dienstleister TCS aus Indien kündigte etwa bereits Ende April an, dass seine Mitarbeiter – aktuell weltweit fast 450.000 – bis 2025 höchstens noch ein Viertel ihrer Zeit im Büro verbringen werden. Die nächsten Monate und Jahre würden in einem „deutlich höheren Maß von einem Nebeneinander virtueller und im Büro stattfindender Arbeits- und Kooperationsformen gekennzeichnet sein“, sagt Fraunhofer-Wissenschaftlerin Josephine Hofmann. Und Siemens kündigte im Juli an, dass zwei bis drei Tage pro Woche mobiles Arbeiten konzernweit zum Standard werden soll – als Kernelement einer „neuen Normalität“.
Klare Vorteile haben dennoch die Unternehmen, die diese Vielfalt freiwillig ermöglichen. „Wir hatten schon vor Corona das Mantra: Arbeite dort, wo du dich am produktivsten fühlst – solange du an die Bedürfnisse deines Teams denkst“, sagt Ingmar Knudsen, Mitgründer des Dr.-Oetker-Startups Juit, das schockgefrostete Mittagessen als Kantinenersatz ausliefert. Als die meisten Kunden ihre Büros schlossen, musste die Ausgründung sich schnell auf die Suche nach neuen Zielgruppen machen.
Eine Strategie: Juit setzte auf systemrelevante Berufe und versuchte, Krankenhäuser oder Logistiker von den Vorzügen der stets gefüllten Snack-Kühlschränke zu überzeugen. In Zusammenarbeit mit der Freelancer-Plattform Malt kam fix ein Experte für das digitale Marketing an Bord. Nur sechs Tage vergingen dabei von der Gestaltung der Stelle über das Recruiting bis zum Start des temporären Helfers – Google Hangouts und geteilte Dokumente machten auch diese Zusammenarbeit zwischen zwei Digitalfirmen möglich.
Wie schnell Wandel möglich sein kann, beeindruckte manche Führungskraft in der Krise. Doch nicht jeder Sprung weg von bestehenden Arbeitsmodellen ist gleich gut. Psychologe Rose warnt beispielsweise davor, unbedacht den Schalter komplett auf Remote-Arbeit umzustellen. Für einige Firmen mag das verlockend sein. Zum einen können so langfristig teure Mieten für repräsentative Büros eingespart werden. Zum anderen bietet sich zumindest theoretisch die Chance, global auf die Suche nach Fachkräften zu gehen, anstatt etwa IT-Experten nach Ostwestfalen locken zu müssen.
Vertrauen statt Videokontrolle
Für manche Techfirma mag sich eine solche Strategie auszahlen. Doch vielen anderen Unternehmen könnte das langfristig auf die Füße fallen. „Wer ausschließlich Homeoffice verordnet, lässt den Angestellten am Ende weniger Wahlfreiheit“, sagt Rose. „Die Souveränität über Arbeitszeit und -ort ist letztlich das, was die New-Work-Bewegung ausmacht.“ Ein Nebeneffekt: Wer seinen Kolleginnen und Kollegen ausschließlich am Bildschirm begegnet, entwickelt nicht zwangsläufig eine Loyalität zum Unternehmen. Lockt dann ein anderes Projekt mit etwas mehr Gehalt, dürfte das nächste Teammeeting mit Abschiedssekt bald im Kalender stehen.
Arbeitgeber, die durch Corona eher widerwillig zum flächendeckenden Homeoffice gezwungen wurden, haben oft noch einen weiten Weg vor sich. Die Technik ist zumindest nach Auskunft der Unternehmen eher kein Problem mehr. VPN-Tunnel, Laptops und remotefähige Anwendungen waren schon vor den Kontaktbeschränkungen bei vielen Firmen zumindest vorhanden, zeigt die IAO-Studie. „Es bestätigt sich die Erkenntnis, dass virtuelles Arbeiten zuerst einmal bestimmte technologische Grundvoraussetzungen hat, damit alles funktionieren kann – und diese Voraussetzungen in einem überraschend hohen Maß gegeben waren“, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie.
„Die Souveränität über Arbeitszeit und -ort ist letztlich das, was die New-Work-Bewegung ausmacht.“
Nico Rose, Wirtschaftspsychologe, International School of Management in Dortmund
Die neue Freiheit kam aber nicht immer aus einer inneren Überzeugung heraus. „Viele Vorgesetze konnten gar nicht anders, als ihren Mitarbeitern mehr zu vertrauen“, sagt auch Rose. „Durch das Homeoffice gab es einfach weniger Kontrollmöglichkeiten.“ Besonders in den USA habe es auch eine Art Gegenbewegung gegeben, berichtet der ehemalige Bertelsmann-Personaler. Arbeitgeber ließen zum Beispiel Monitoring-Software auf den Endgeräten der Belegschaft installieren. So konnten sie genau verfolgen, welche Programme während der Arbeitszeit geöffnet waren. Ebenfalls beliebt: Die Laptop-Kamera übertrug den gesamten Arbeitstag lang ein Bild an den Manager – der konnte nachfragen, wenn ein Mitarbeiter zu lang vom Bildschirm verschwand. „Daran sieht man, wie das alte System noch zurückschlagen will“, sagt Rose.
In Deutschland sind solchen Praktiken häufig rechtliche Riegel vorgeschoben. Das wird gerade in den ersten Wochen der Krise auch für Unwohlsein bei manchen Führungskräften gesorgt haben. Eine Umfrage des Social-Intranet-Startups Coyo zeigte, dass 28 Prozent der Unternehmensentscheider einen Kontrollverlust im Homeoffice fürchteten. In der akuten Krise sorgte diese Unsicherheit auch für Konflikte. Es musste schnell entschieden werden, zum Teil auch radikal – aber von wem? „Wenn es darum geht, Entscheidungsfindungen zu beschleunigen, werden die zugehörigen Prozesse oft bei einzelnen Personen gebündelt“, hat Nikolaus Schmidt, Geschäftsführer der Consulting-Sparte bei dem Weiterbildungsanbieter Haufe, beobachtet.
Eine strenge Hierarchie ist in einer Ausnahmesituation oft am einfachsten zu etablieren. Das gilt insbesondere für Unternehmen, die noch keine Erfahrung mit verteilter Verantwortung haben. Doch auf Dauer bremsen solche Befehlsketten die Belegschaft aus – und das in einem Zeitalter, in dem Geschwindigkeit weiter an Bedeutung gewinnt. „Wenn diese Barriere übersprungen wird, kann man viel eher eine Organisation aufbauen, die tatsächlich VUCA-tauglich ist“, sagt Schmidt. Hinter dem Schlagwort steckt eine Welt, die gleichermaßen von stetem Wandel, komplexen Geschäftsbeziehungen und einer wachsenden Unsicherheit geprägt ist.
Denn wer als Führungskraft hier immer noch auf akribisches Mikromanagement setzte, verlor in der hektischen Phase schnell die Übersicht. Und wer bei jedem Kontrollanruf kritisch auf Vogelgezwitscher oder Kinderlachen im Hintergrund achtete, demotivierte seine Mitarbeiter eher. Die IAO-Studie hält klar fest: Beim Thema „Führen auf Distanz“ herrscht ein hoher Schulungsbedarf. Doch das optimistische Fazit der Arbeitsforscher: „Die gute Nachricht dabei ist: Diese Schulungs- und Weiterentwicklungsansätze können entwickelt und umgesetzt werden. Vorausgesetzt, die Grundhaltung stimmt. Und dafür sind jetzt erhebliche Fortschritte erreicht worden.“
Eigenverantwortung kommt nicht per Update
Gleiches gilt auch für die Mitarbeiter: Selbstverantwortung war plötzlich gefragt – auch an Orten, an denen zuvor nach klar vorgegebenen Prozessen gearbeitet wurde. „Da verändern sich Arbeitsrealitäten ganz massiv“, sagt Haufe-Consulting-Chef Schmidt. In einer Umfrage seines Hauses unter 1.600 Führungskräften und Mitarbeitern zeigte sich: 44 Prozent der Unternehmen setzten in der Krise auf mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Mitarbeiter. Diese Fähigkeiten, so bestätigt es ein Drittel der befragen Firmen in der Haufe-Umfrage, werden in den kommenden Jahren immer stärker nachgefragt werden.
Auch hier müssen Unternehmen in Weiterbildung investieren, um langfristig von einer entscheidungsfreudigeren Belegschaft zu profitieren. Denn eine neue Arbeitskultur lässt sich nicht automatisch per Update an alle Mitarbeiter ausspielen. Klare Kommunikation ist eine Strategie – die genaue Umsetzung jedoch wiederum sehr individuell. Bei Juit startete das Team etwa zu Beginn mit morgendlichen Videokonferenzen, reduzierte diese Frequenz jedoch nach einiger Zeit wieder.
In Kopenhagen verschaffte sich das Team von Soundboks einen Überblick über all die ausgefallenen Festivals. Atmete einmal tief durch. Und entschied sich dann für noch mehr Vertrauen. „Unsere Angestellten sind clever genug“, berichtet Thomsen. „Es ging für uns darum, ihnen Klarheit zu verschaffen –anstatt genaue Instruktionen vorzugeben.“ Nach ein paar Wochen schmiss das Team zudem die Struktur um. Statt nach Funktionen arbeiteten die Mitarbeiter jetzt nach Märkten zusammen. So passten Produkte, Ideen und Ansprache der Kunden jeweils zum rechtlichen Stand in den verschiedenen Ländern. „Die Teams konnten so in jedem Markt mit einer Stimme sprechen“, erläutert Thomsen.
Auch andere Unternehmen haben nach den chaotischen Wochen jetzt einen ersten Überblick, welche Arbeitswelt bei ihnen möglich ist – und welche Schritte sie in der Zukunft vielleicht angehen wollen. Mit etwas Glück wurde die Furcht vor zu viel Veränderung dabei weggespült: „Die spannendste Erkenntnis für viele: Es geht auch anders, ohne dass die Welt aus dem Rahmen fliegt“, sagt Wissenschaftler Rose.
Ich find das sehr interessant und wir stellen uns hier auch neuen Herausforderungen! Die Entscheidung der Telearbeit sollte gegeben sein und dem MA überlassen werden! Nicht jeder ist Fan davon und das sollte auch respektiert werden und Betriebe sollten sich das merken und diese Option ebenfalls anbieten. Denn zufriedene Mitarbeiter arbeiten auch effizienter. Dazu fand ich auch diesen Artikel sehr interessant: https://www.ifb.de/news/home-office-neuer-trend-zu-hybrid-arbeitsplaetzen/1113