CDO der Otto Group: „Digitale Transformation ist keine Magie“
Als wir uns mit Sebastian Klauke zum Gespräch in der Hamburger Firmenzentrale der Otto Group treffen, ist er offiziell noch kein Vorstandsmitglied – es ist erst Ende April, offiziell tritt er das Mandat zum 1. Mai an. Bemerkenswert schnell war sein Aufstieg auf jeden Fall: Nach kaum zwei Jahren im Unternehmen folgt Klauke, der direkt nach dem Physikstudium bei der Boston Consulting Group einstieg, später selbst ein Startup gründete und den Inkubator BCG Digital Ventures mit aufbaute, dem langjährigen Otto-Group-Vorstand Rainer Hillebrand nach. Zu internen Querelen habe das aber nicht geführt, erzählt er: „Zu mir ist niemand gekommen und hat gesagt, ‚das finde ich zum Kotzen‘ – im Gegenteil.“ Frisches Blut kann die Unternehmensgruppe durchaus gebrauchen, Herausforderungen gibt es genug. Seit die Otto Group im Dezember 2015 den „Kulturwandel 4.0“ initiiert hat, bleibt kein Stein auf dem anderen. Vom Headquarter, das zum modernen Campus umgebaut wird, über das Firmenflaggschiff Otto.de, das sich dank Plattformstrategie gegen Amazon behaupten soll, bis zu den Geschäftsmodellen einzelner Portfoliomarken: Alles steht auf dem Prüfstand. Klauke arbeitet mit seinem Team an den Schnittstellen, sorgt, wo nötig, für die Vereinheitlichung von Technologien und steht den Führungskräften der Tochterunternehmen als Berater zur Seite.
t3n: Herr Klauke, wann haben Sie zuletzt selbst etwas bei Otto bestellt?
Sebastian Klauke: Vorletzte Woche, glaube ich. Und zwar ganz banal eine Trainingshose, von Nike. Passte auch, keine Retoure!
t3n: Über den Otto-Katalog haben Sie die aber nicht mehr bestellt, der ist ja im Dezember 2018 eingestellt worden. Ein krasser Einschnitt?
Ehrlich gesagt: Nein. Der Katalog war schon lange nicht mehr das Leitvertriebsmedium, sondern einfach eine Beimischung im Marketingmix. Beim letzten Exemplar haben die Einnahmen die Produktionskosten noch überstiegen. Aber es war absehbar, dass sie es beim nächsten, spätestens übernächsten Katalog nicht mehr tun würden. Die Kunden bestellen heute zu 97 Prozent online oder mobil. Also haben wir ihn eben eingestellt.
t3n: Das klingt nach einem sehr nüchternen Abschied von der Printära …
Wir haben uns ja nicht per se von Print als Vertriebskanal verabschiedet. Marken wie Bonprix oder Witt setzen stark auf Print und sind damit auch sehr erfolgreich. Auch Otto selbst nutzt weiterhin themenspezifische Kataloge und verschiedenste Formen von Mailings. Die können Sie viel effizienter personalisieren, nicht zuletzt, was den Versandzeitpunkt angeht. Einmal pro Saison das ganze Land mit einem Hauptkatalog beglücken, das ist einfach nicht mehr zeitgemäß.
t3n: Die Modeversender Bonprix und Witt sind nur zwei von zahlreichen Marken, die unter der Otto Group zusammengefasst sind, rund 120 sind es laut Website insgesamt. Verlieren Sie da nicht manchmal selbst den Durchblick?
Nein. Klar, wenn man im Handelsregister durchzählt, wie viele Unternehmen zur Otto Group gehören, stimmt das. Aber wenn Sie sich die großen Marken anschauen, die, die auch in Richtung Kunden auftreten, dann sind es eher 30 als 120. Innerhalb dieser Gruppe haben wir noch einmal geschichtet und konzentrieren uns auf rund zehn Fokusunternehmen, darunter Otto.de, Bonprix, About You oder Hermes. Diese Fokusunternehmen machen rund 80 Prozent unseres Umsatzes. Die Otto Group ist also deutlich weniger fragmentiert, als man glauben könnte.
t3n: Welche Unternehmen machen Ihnen momentan Freude?
About You macht natürlich unglaublich Spaß. Die sind im letzten Jahr wieder um mehr als 60 Prozent gewachsen, auf gut 460 Millionen Euro Umsatz. In einem derart wettbewerbsintensiven Umfeld wie Fashion, mit relativ wenig Mitteleinsatz – das finde ich sensationell. Und dann der Einstieg von Heartland A/S, die Milliardenbewertung, About You als erstes Unicorn aus Hamburg: das ist eigentlich in jeder Dimension, die ich mir anschauen kann, cool.
t3n: Was macht About You denn so gut?
About You ist als Händler sehr sauber differenziert. Es ist der einzige Player, der das Thema Discovery ernsthaft, also nicht nur in Pressemitteilungen, wirklich so implementiert hat, dass man es in den Zahlen sehen kann.
t3n: Was heißt das konkret?
Die Leute gehen extrem hochfrequent in die App, lassen sich inspirieren und kaufen über das Storys-Feature direkt ein. Das hat aus meiner Sicht vorher wirklich niemand geknackt.
t3n: Welche Marken sind die Sorgenkinder?
Es ist kein Geheimnis, dass beispielsweise Sportscheck aktuell unter Druck steht. Hier haben wir schon ganz viel an Modell und Strategie gearbeitet – und stecken noch mittendrin. Ziel ist es, ein Einkaufserlebnis rund um das Thema Sport zu schaffen, auf allen Kanälen. Kundenberatung via Tablet, Beacons und Möglichkeiten zur Onlinebestellung im Store: Am Standort Hamburg, den wir gerade umfassend erneuern, können Sie schon erkennen, wie diese Differenzierung in Zukunft aussehen wird.
t3n: Sie sind dem stationären Handel also nicht abgeneigt?
Warum sollten wir? Wir sind nicht dogmatisch unterwegs im Sinne von: Stationär ist per se schlecht. Auch hier können wir langfristig Kundenbedürfnisse erfüllen. Nicht mehr, was die Bedarfsdeckung angeht. Das funktioniert heute allenfalls im Lebensmitteleinzelhandel. Aber Erlebnis und Beratung sind immer noch Alleinstellungsmerkmale des Offline-Retails. Nur weil es jetzt die Digitalisierung gibt, hocken die Leute ja nicht ununterbrochen zu Hause auf dem Sofa. Sie wollen rausgehen, was erleben. Warum nicht in einer Filiale?
t3n: Sie sprechen von der Notwendigkeit, sich als Händler zu differenzieren …
Ja, das ist die große Herausforderung: Der klassische, undifferenzierte Multibrand-Handel ist einfach stark unter Druck. Und dieser Druck wird nicht mehr weggehen, das geht jetzt nur noch in eine Richtung. Darauf reagieren wir gerade mit Sportscheck. About You oder andere vertikal integrierte Marken wie Bonprix sind schon klar positioniert.
t3n: Aber ist Otto.de nicht auch so ein undifferenzierter Multibrand-Händler?
Otto ist in unserem Portfolio der eine große Generalist, der neben Amazon in Deutschland signifikante Bedeutung hat und Milliardenumsätze verzeichnet. Und diese Position wollen wir ausbauen. Aktuell haben wir ungefähr drei Millionen Artikel und bauen die Sortimentsbreite kontinuierlich weiter aus. Innerhalb dieses generalistischen Sortiments spielt Home and Living eine herausgehobene Rolle. Das ist für uns ein ganz wichtiges Segment, in dem wir schon lange als Marktführer unterwegs sind, mit attraktiven Margen und verhältnismäßig geringen Retourenquoten.
t3n: Und diese Strategie funktioniert?
Otto.de macht rund 3,2 Milliarden Euro Umsatz. Und das, obwohl wir mit dem Ausbau zur Plattform im Grunde genommen noch am Anfang stehen. Es macht großen Spaß, hier aus einer Position der Stärke zu agieren – entgegen mancher Unkenrufe, die es in den Medien gab. Gleichzeitig ist es natürlich auch unsere größte Baustelle, unser größtes strategisches Projekt, das einfach klappen muss.
t3n: Bis 2020 will Otto 3.000 Partner auf die Plattform gebracht haben, momentan sind es erst rund 400. Wann fällt der große Startschuss fürs Marktplatzmodell?
Ich gehe davon aus, dass wir im vierten Quartal wirklich anfangen können, Otto.de als Plattform zu skalieren. Aktuell stecken wir noch mitten in den Vorbereitungen, um das steigende Volumen dann auch gewuppt zu kriegen.
t3n: Wie sehen diese Vorbereitungen konkret aus?
Das Geschäft von Otto.de bestand ja zuvor praktisch zu 100 Prozent aus Handel auf eigene Rechnung. Unsere ganzen Systeme sind auf dieses Modell geeicht und zum Teil auch einfach in die Jahre gekommen. Ein ERP-System beispielsweise passen Sie ja nicht dauernd an, wenn keine Not am Mann ist. Unser Frontend ist up to date, aber jetzt, wo wir das Geschäftsmodell ändern, müssen wir an den Kern: Wenn wir jetzt anfingen, an die teilweise alten Handelssysteme irgendwelche Marktplatzfunktionalitäten dranzuflanschen, kämen wir in Teufels Küche, dann wären wir irgendwann überhaupt nicht mehr reaktionsfähig. Darum bauen wir jetzt mehrere Teile des Backbones technologisch neu. Und das dauert halt ein bisschen. Kostet auch Geld, 100 Millionen Euro sind dafür allein im laufenden Geschäftsjahr eingeplant. Aber wir haben uns bewusst dafür entschieden.
t3n: Amazon hält Kunden auf seiner Plattform mit Filmen, Serien und Musik bei der Stange. Welche kreativen Wege gehen Sie?
Ich weiß nicht, ob Kreativität hier der richtige Maßstab ist. Wir differenzieren uns in Sachen Kundenbindung sehr stark über Service und persönliche Erreichbarkeit. Das könnte man zumindest als ungewöhnlich einstufen, immerhin macht es fast kein großer E-Commerce-Player da draußen. Und die, die es versuchen, kriegen es nicht hin.
t3n: Wie muss ich mir das vorstellen?
Wir setzen neben dem Selfserviceaspekt, der ja die Stärke der digitalen Plattformen ist, ganz stark auf persönliche Betreuung. Das können wir besser als andere, immerhin greift unser Kundenservice auf die jahrzehntelange Erfahrung im Otto-Versand zurück. Wir können es uns sozusagen leisten, guten Service zu bieten. Bei uns erreichen Sie nach wie vor Menschen, egal ob es um Fragen zum konkreten Bestellprozess oder eine detaillierte Beratung zu komplexen, technischen Produkten oder Möbeln geht. Wenn Sie bei Otto.de eine Waschmaschine kaufen, kommen zwei Leute, schließen sie an und nehmen direkt auch das Altgerät mit. Darauf bekommen wir viel positives Feedback. Und natürlich ist das eine Form der Differenzierung, auch, wenn es vielleicht weniger bahnbrechend klingt, als eigene Filme und Serien zu produzieren.
t3n: In dieser Richtung ist also nichts geplant?
Aktuell nicht, nein.
t3n: Aber ob das ausreicht, um gegen Amazon eine Chance zu haben?
In jedem Interview werde ich gefragt: Haben Sie überhaupt eine Chance gegen Amazon? Natürlich haben wir eine Chance gegen Amazon, natürlich! Wir haben keinen Grund, uns gegenüber den großen Techkonzernen aus den USA oder China in den Staub zu werfen. Diese Tendenz beobachte ich hier in Europa immer wieder. Auch in der Autobranche zum Beispiel, in der ich lange Zeit als Berater gearbeitet habe.
t3n: Was haben Sie dort beobachtet?
Erst können alle vor lauter Kraft kaum laufen: Wir haben die tollsten Produkte der Welt! Und dann baut Google auf einmal ein Auto und sofort schreien alle: Hilfe, Hilfe, morgen sind wir tot. Ich glaube, das ist viel zu fatalistisch. Digitale Transformation ist doch nichts Magisches, was nur einige wenige Eingeweihte können. Wofür man ins Silicon Valley pilgern muss, um sich erleuchten zu lassen. Es ist vielmehr genau wie bei jedem anderen Vorhaben: fünf Prozent gute Idee, 95 Prozent konsequente Umsetzung. Warum sollten wir das nicht können?
t3n: Gibt es Dinge, die die Otto Group besser kann?
Wir funktionieren grundlegend anders als die Techgiganten aus China und den USA. Die Otto Group ist seit 70 Jahren ein Familienunternehmen. Als ich hier angefangen habe, war ich überrascht, wie lange viele der Kollegen schon im Unternehmen sind, es gibt eine unglaubliche Loyalität. Und zahlreiche, über viele, viele Jahre etablierte Lieferantenbeziehungen. Diese DNA, ich formuliere es mal etwas klischeehaft, des werteorientierten, soliden Hamburger Kaufmanntums, die differenziert uns – auch in den Augen der Kunden. Aber man muss ehrlich sein: Das differenziert nur dann, wenn man in Sachen Convenience, Angebot oder Preis auch wettbewerbsfähig ist. Ausschließlich auf Werte zu setzen, funktioniert nicht. Aber als Sahnehäubchen können sie extrem stark sein.
t3n: Ist die Otto Group noch ein Handelsunternehmen oder schon ein Techkonzern?
Wir sind ein Handels- und Dienstleistungskonzern, in dem Technologie eine immer größere Rolle spielt. Aber unsere Wurzeln liegen ganz klar im Händlertum. Was gut ist: Händler sind Trüffelschweine für Chancen. Ein guter Händler ist im besten Sinne opportunistisch. Diese DNA hilft durchaus.
Dass die Otto Group, bei allem Bewusstsein für ihre Tradition, sehr konsequent an der digitalen Transformation arbeitet und ihre DNA dabei auch ein Stück weit neu codiert, ist kein Geheimnis. Es gibt kaum eine Konferenz zu dem Thema, bei der nicht jemand aus dem Konzern auf der Bühne sitzt. Otto ist sein bester eigener Showcase.
t3n: Hand aufs Herz, was hat bisher nicht gut funktioniert?
Das Schwierigste ist tatsächlich die Veränderung der Kultur. Dass sich ein Geschäftsmodell ändert, dass andere Fähigkeiten gebraucht werden und so weiter, das ist zwar auch anstrengend, aber das kriegt man hin. Wirklich heftig ist allerdings, wie sehr man die Art und Weise, wie man arbeitet, anpassen muss. Ganz viele Dinge, die früher etabliert waren, weil sie so funktional und erfolgreich waren, die gehen nicht mehr.
t3n: Was zum Beispiel?
Etwa das Aufbrechen von Silos. Wir fragen uns, wo können wir auf technologischer Ebene Strukturen vereinheitlichen, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Wie kommen wir schneller zu besseren Entscheidungen? Wie erzeuge ich einen Wettbewerb der Ideen? Oder Hierarchien: Ganz ohne geht es selbst in den fortschrittlichsten Startups und Techkonzernen nicht. Aber sie werden ganz anders gelebt als früher, es gibt eine völlig andere Kultur von Speakup und Querdurch und so weiter. So eine neue Kultur des Miteinanders übt man nicht in fünf Minuten ein, das ist ein langer Weg, immer bergauf. Und unterwegs gehen Leute verloren, weil sie Angst kriegen. Wandel macht immer auch Angst.
t3n: Hat Otto viele Leute verloren?
Nein, wir haben ziemlich wenige Leute verloren. Auch das gehört zur DNA von Otto: Wenn wir merken, dass jemand nicht mitkommt, nehmen wir uns die nötige Zeit. Weil wir daran glauben, dass unsere Leute die richtigen Leute sind. Aber es ist anstrengend. Und wir haben natürlich auch die eine oder andere Autobahnausfahrt verpasst.
t3n: Welche denn?
Zalando etwa wäre, wenn wir aggressiv genug gegengesteuert hätten, heute vielleicht nicht so groß. Die Otto Group hat damals mit Mirapodo einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt, dabei aber auf Fremdkapital verzichtet und deutlich weniger Marketing betrieben. Das hat die Entwicklung zu stark ausgebremst. Mit About You haben wir dann von Anfang an in anderen Größenordnungen gedacht.Strategisch unklug war wohl auch Michael Ottos Entschluss im Jahr 2000, nicht, wie von Jeff Bezos angeboten, 100 Millionen US-Dollar in Amazon zu investieren …
Er hatte damals gute Gründe für die Entscheidung. Aber klar: Vielleicht wäre dann alles ganz anders verlaufen. Letztlich bringt es aber nichts, ausgiebig über diese Themen nachzudenken. In Summe hat es gut genug geklappt: Wir sind noch da. Wir sind groß, wir wachsen und wir verdienen Geld.
t3n: Herr Klauke, danke für das Gespräch.