Dezentrale Revolution: Das Web3 ist mehr als der Hype um Bitcoin und NFT

Bitcoin, Non-Fungible-Token, Defi. Kryptische Begriffe machen derzeit Schlagzeilen. Was für die einen nur Spekulationsobjekte sind, ist für andere Ausdruck einer dezentralen Revolution namens Web3, die das Potenzial hat, unser Leben und Arbeiten zu verändern. [tableofcontents] Die Tage der Digital Natives sind gezählt. Sie waren die längste Zeit diejenigen, die besser als alle anderen verstehen, wie die technologisierte Welt um uns herum funktioniert. „Meine Kinder werden Krypto Natives sein“, ist etwa Sheila Warren überzeugt. Sie ist Blockchain-Expertin des Thinktanks World Economic Forum (WEF). Bereits die nächste Generation werde nicht verstehen, warum man die eigenen Bilder überhaupt auf irgendeine fremde Plattform hochladen sollte. „Wir werden in einer Welt leben, in der das völlig absurd klingt!“, sagt sie beim Videocall. „Schon die bloße Vorstellung, dass man eine zentralisierte Autorität befähigt, die eigenen Handlungen zu kontrollieren, wird unvorstellbar sein.“ Die Welt, von der Warren spricht, ist die des Web3. Nach dem auf Interaktion ausgelegten Web 2.0 mit seinen Bloggern und Influencern soll es die nächste Evolutionsstufe sein. Die Vision ist ein dezentrales, basisdemokratisches Internet, das die Menschen aus der Datensklaverei der zentralisierten großen Techplattformen befreit. Der Schlüssel dazu sind Blockchains, als unbestechlich geltende Datenbanken, die den Transfer von Werten abbilden. Für jeden einsehbar und durch keine zentrale Instanz reguliert. Ein sich selbst erhaltendes System. Warren rechnet damit, dass ernst zu nehmende Alternativen zu zentralen Social-Media-Anbietern wie Facebook und Instagram entstehen. Alternativen, die auf der Blockchain-Technologie basieren und die Kontrolle über die eigenen Daten garantieren: „Social Crypto wird kommen – die Nachfrage ist da.“ Seit der Pandemie säßen noch mehr Leute zu Hause und schafften dafür die notwendigen technischen Voraussetzungen, betont sie. Ein Blick in die Nachrichten der vergangenen Wochen und Monate zeigt aber auch: Regierungen bringen Krypto-Verbote und neue Regulierungen auf den Weg, es hagelt Strafen gegen Krypto-Handelsplätze. Ein Zeichen dafür, dass die Vision von einer neuen Welt ernst genommen wird? Mehr als Bitcoin- und NFT-Hype Es soll im Grunde das Internet entstehen, wie es ursprünglich erdacht wurde. Der geistige Vater des World Wide Webs, Tim Berners-Lee, beklagt immer wieder öffentlich den Zustand des Netzes: statt freiem Informationsaustausch zu viel Hass, Fake News und Abhängigkeit von Techkonzernen. Er arbeitet inzwischen selbst an Open-Source-Lösungen, die den Nutzern ihre Datenhoheit zurückgeben sollen. Was aber ist seit der Erfindung des Internets schief gelaufen? Als in den frühen 1990er-Jahren das World Wide Web entstand, änderte es schnell die Art, wie wir kommunizieren und uns informieren. Es entwickelte sich mit sozialen Medien und E-Commerce-Plattformen weiter: zum Web 2.0, wie wir es zu großen Teilen auch heute noch kennen. Kommunikation und Business findet direkt und nach dem Peer-to-Peer-Modell, also von einem Computer zum anderen statt. Allerdings funktioniert das nicht ohne Mittelsmann. Ein Nutzer, der beispielsweise auf Ebay etwas direkt von einem anderen Nutzer kauft, ist für die Abwicklung auf Ebay als Plattform angewiesen. Darum spricht man beim Web 2.0 oft auch von der Plattformökonomie. Beim Beispiel Ebay kennen sich die unterschiedlichen Akteure in der Regel nicht und wissen daher auch nicht, ob sie sich vertrauen können. Plattformen haben sich daher als vertrauenswürdige Dienstleister etabliert, die Interaktionen zwischen den Nutzern und Unternehmen organisieren. Das hat aber einen Haken, denn die Plattformen kontrollieren die Daten des Nutzers und können eigene Regeln aufstellen. Sie bestimmen, wer wann welche Dienstleistung in Anspruch nehmen darf und wer was genau zu sehen bekommt. Und sie können jeden Nutzer jederzeit von der Plattform schmeißen. Doch bis sich das Internet von einer anderen, einer dezentralen und damit vielleicht besseren Seite zeigen kann, muss noch einiges geschehen. Aktuell wird erst die Infrastruktur dafür geschaffen. Um die Plattformökonomie auszuhebeln, braucht es vor allem eins: die Akzeptanz der breiten Masse. Ohne Nutzer landet jede Technologie letztlich im Mülleimer der Geschichte. Die meisten Menschen nehmen im Moment aber wohl nur die schrillen Ausläufer des Web3 im Finanzbereich wahr: Bitcoin- und NFT-Hype. Das Auf und Ab des Bitcoin-Kurses, der eben mal von rund 60.000 Euro auf unter 50.000 Euro einbricht und damit Milliarden verbrennt. Die Grillen von Techunternehmer und Milliardär Elon Musk, der mit Tweets an seine rund 52 Millionen Follower auch Spaßwährungen wie Dogecoin Wert verleihen kann. Er macht sich dabei ein einfaches Prinzip zunutze: Ob Euro, letztlich bedrucktes Papier, oder Bitcoin und Dogecoin, letztlich eine Aneinanderreihung von Zahlen und Buchstaben – alles hat nur den Wert, den Menschen dafür zu zahlen bereit sind. Das zeigt sich gerade bei Non-Fungible-Token (NFT) – dem Hype, der sich auf der anderen großen Blockchain Ethereum abspielt. Dabei wird eine bestimmte Version einer im Prinzip unendlich vervielfältigbaren, digitalen Bild- oder Lieddatei zum Original erklärt. Und schon wird ein Wert in Form eines Tokens quasi aus dem Nichts geschaffen, der sich weiterverkaufen lässt. „Bei NFT und Bitcoin passiert gerade viel Unsinn; für viele geht es rein um Kursgewinne”, sagt Sheila Warren, die bereits als Anwältin an der Wall Street gearbeitet hat. Aber es gebe auch Menschen, die das disruptive Potenzial erkennen würden: Krypto entziehe sich der Kontrolle durch jegliche Form der Autorität und damit jeglicher Form der Zensur. Und tatsächlich haben nicht nur renditehungrige Spekulanten den Wert von NFT für sich entdeckt. Sondern auch politische Akteure von NSA-Whistleblower Edward Snowden bis zur kremlkritischen russischen Punkband Pussy Riot. „Stay Free“ heißt das Snowden-NFT und zeigt einen Umriss seines Gesichts auf dem Gerichtsurteil, das die Massenüberwachung von Telefondaten durch den US-Geheimdienst NSA für rechtswidrig erklärt. Der Erlös von 2.224 Ether, Mitte April umgerechnet 4,6 Millionen Euro wert, geht an seine Journalistenstiftung Freedom of the Press Foundation. Pussy Riot haben für ihren Song „Panic Attack“ ein immersives Augmented-Reality-Musikvideo mit dem Titel „Terrestrial Paradise“ gedreht und dafür im März 100 Ether eingesammelt. Mit ihrem Kryptogeld wollen sie sowohl ihre aktivistische Kunst finanzieren als auch Opfer häuslicher Gewalt in Russland unterstützen. [caption id="attachment_250736" align="alignnone" width="1080"] (Abbildung: t3n)[/caption] In der Tokenisierung sehen manche Finanzexperten zudem das Potenzial für neue Investmentmöglichkeiten: Durch die digitale Abbildung von physischen Vermögenswerten in Token soll es auch für Menschen mit kleinem Budget leichter werden, ein Bruchteil an einer Immobilie oder einem Startup oder auch Kunstwerk zu erwerben. Die sogenannte Fractional Ownership soll so eine gerechtere Verteilung von Eigentumsrechten bewirken. In Ländern, in denen Menschen unter schwachen staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen leiden und oft kein Bankkonto besitzen, könnten Kryptowährungen das Leben erleichtern, führen Krypto-Anhänger ins Feld. Grenzübergreifende Überweisungen kosten in Form von Krypto-Transaktionen oft nur einen Bruchteil dessen, was für traditionelle Auslandsüberweisungen anfällt. Wallets, digitale Geldbörsen, lassen sich zum Teil mit ein paar wenigen Klicks und ohne gültige Ausweisdokumente erstellen. Zu den Weltregionen mit den höchsten Nutzungsraten gehören nicht ohne Grund Afrika, Südostasien und Lateinamerika. Die Blockchain aller Blockchains Jenseits der Finanzwelt ist allerdings vom dezentralen Internet aus Nutzersicht noch nicht viel zu sehen. Die Web3-Architekten, die gerne von sich selbst als Community sprechen, die über den ganzen Globus verteilt ist, sind noch mit den technischen Grundlagen beschäftigt. Sie befinden sich noch im Maschinenraum der Revolution. Aber die Maschinerie läuft auf Hochtouren. Gavin Wood, einer der Köpfe hinter der Blockchain Ethereum und Gründer der Web3-Foundation, steckt Ende März wochenlang im Developer Retreat, „tief im Code“, wie es sein Pressesprecher ausdrückt. Wood arbeitet mit seinem Team am „Internet der Blockchains“. Ihr Ziel ist es, eine Meta-Blockchain zu schaffen und damit alle Probleme auszumerzen, unter denen die bisherigen Blockchains von Bitcoin bis Ethereum leiden. Bessere Skalierbarkeit, sprich mehr Transaktionen pro Sekunde, bessere Governance, sprich Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen, und zum ersten Mal Interoperabilität. Polkadot heißt diese Blockchain aller Blockchains. Sie befindet sich gerade in der letzten Entwicklungsphase. „Polkadot ist eine Art Meta-Blockchain, die andere Blockchains absichert, miteinander verbindet und sprechen lässt“, erklärt Björn Wagner im Videocall. Er ist neben Gavin Wood Mitgründer und Chief Commercial Officer von Parity, dem Softwareunternehmen hinter Polkadot. Sie werden zum einen von der Web3-Foundation für ihre Entwicklungsarbeit an Polkadot bezahlt und zum anderen durch Polkadot-Token entlohnt. Um das Prinzip zu erklären, zieht Wagner eine Parallele zur Entwicklung von Webservern. So wie in den Anfängen des Internets viele ihren eigenen Webserver aufgesetzt hätten, um eine einzige Website zu bauen, hätten zuletzt viele Firmen ihre eigene Blockchain für ihre Anwendungen von Grund auf neu gebaut. Damit haben sie ihm zufolge „viel Zeit beim Wiedererfinden des Rades“ verloren und zum anderen nur neue Daten- und Funktionalitätssilos geschaffen. Nutzer können dadurch ihre Daten und Assets nicht von einer Blockchain zur anderen mitnehmen. „Deshalb haben wir uns gesagt, wir bauen ein Software-Development-Kit, das es den Leuten sehr einfach macht, angepasste Blockchains zu bauen, die sich dann mit Polkadot verbinden lassen.“ So entstehe ein globales, abgesichertes Netzwerk – das „Internet der Blockchains“. Seinen Angaben zufolge nutzten bereits Hunderte Firmen aus allen Bereichen von Finance bis Entertainment rund um die Welt das von Parity entwickelte Blockchain-Development-Kit Substrate, um ihre Use-Cases auf Polkadot umzusetzen. Noch in diesem Jahr sollen die sogenannten Parachains auf Polkadot gelauncht werden, die es erlauben sollen, dass die Blockchains miteinander interagieren können. [caption id="attachment_250737" align="alignnone" width="1080"] (Abbildung: t3n)[/caption] Polkadot soll auch ein grundlegendes Problem von Bitcoin lösen: den immensen Energieverbrauch. Bitcoin entstehen vereinfacht gesagt durch das Lösen komplexer mathematischer Rätsel, die Unmengen an Rechenkraft und damit Strom erfordern. Durch diese Konstruktion der Bitcoin-Technologie (Proof of Work) steigt der Energiebedarf mit jedem neuen Bitcoin weiter. Geschätzt alle zehn Minuten entsteht ein neuer Block auf der Bitcoin-Blockchain. Wie viel Energie Bitcoin verschlingt, will der niederländische Wirtschaftswissenschaftler Alex de Vries mit seinem Index aufzeigen. Auf der Plattform Digiconomist hat er im März seine jüngste Prognose veröffentlicht: Bitcoin könnte auf Jahressicht so viel Energie wie alle Rechenzentren weltweit auf einmal verschlingen und einen CO2-Fußabdruck wie London hinterlassen. In der Folge werden dort Bitcoin geschürft, wo Energie billig zu haben ist. Entweder als Überschussenergie durch Wind- und Wasserkraft, oder aber auch aus Kohle. Das lässt sich auch am Bitcoin-Energieverbrauchs-Tracker der University of Cambridge ablesen: Sie gehen Stand Ende April von einem jährlichen Energieverbrauch von 134,68 Terawattstunden aus – das ist mehr, als Schweden verbraucht. Der Index zeigt auch, wo auf der Welt die meisten Bitcoin geschürft werden: Über 65 Prozent entstehen in China. Auf Platz 2 mit einem Anteil von gerade einmal um die sieben Prozent liegen die USA und Russland. Deutschland ist Stand Mitte April für vernachlässigbare 0,56 Prozent verantwortlich. Bitcoin sei zwar eine dezentrale Währung, das dazu nötige Ökosystem aber sei nicht dezentral, schreibt de Vries. Angefangen von der begrenzten Anzahl an Herstellern der fürs Bitcoin-Mining nötigen Hardware, besonders der Asic-Computerchips, bis zu den Rechnerfarmen in China. Neue Energieregulierungen könnten Bitcoin hier an einem neuralgischen Punkt treffen. Brauchen wir eine Ethik für die Blockchain-Welt? Bei Polkadot hängt die Blockbildung dagegen nicht von der Rechenleistung, sondern direkt vom eingesetzten Kapital in Form von Polkadot-Token ab. „Skin in the Game“, nennt das Parity-CCO Wagner. Die Sicherheit aller echten Blockchain-Systeme fundiere letztendlich auf ökonomischen Anreizen. Das soll heißen: Die Teilnehmer verlieren signifikant, wenn sie sich betrügerisch verhalten – und verdienen, wenn sie die Regeln des Systems befolgen, erläutert er. Und bei Polkadot haften die Beteiligten ihm zufolge mit ihren eingesetzten Token. Ethisches Verhalten will das World Economic Forum gleich blockchain-übergreifend fördern: Im Februar 2020 hat die Organisation eine eigene Ethik-Charta vorgestellt, die mittlerweile Presidio Principles heißt. Zu den Unterzeichnern gehört zwar nicht die Web3-Foundation, aber unter anderem die Ethereum Foundation. Unternehmen, Investoren und auch Regierungen nutzen die Prinzipien als Checkliste, bevor sie sich auf Blockchain-Projekte einlassen, berichtet WEF-Expertin Warren. Die wichtigsten Fragen seien dabei, ob die Anwendung es Nutzern erlaubt, die eigenen Daten mitzunehmen. Und ob die Governance-Prinzipien die Möglichkeit einräumen, falsche Daten zu melden und zu korrigieren. Ziel sei es, dass „die Nutzer erkennen können, ob das, was sie nutzen, wirklich dezentral ist oder nicht“. Was passieren kann, wenn nicht auf die Aufklärung und den Schutz der Nutzer geachtet wird, hat sich bei den virtuellen Börsengängen, den Initial-Coin-Offerings, 2017 und 2018 gezeigt. Nachträglich hat eine Studie der Satis Group rund 80 Prozent der 2017 durchgeführten ICO als Betrug klassifiziert. Einige Menschen haben dabei sehr viel Geld verloren. Wenn Blockchain in der nächsten Phase wirklich skalieren soll, darf sich das nicht wiederholen, schreibt Warren in einem Beitrag für das Portal Coindesk. Da sich Blockchain vom Buzzword zum Business-Case entwickle, nähere sich die Technologie schnell einem Wendepunkt, schreibt Warren weiter. Mit prognostizierten Ausgaben in Höhe von 12,4 Milliarden US-Dollar bis 2022 werden die heute getroffenen Entscheidungen in den kommenden Jahren Auswirkungen auf bedeutende Teile der Bevölkerung haben. Was noch fehlt Die großen Techplattformen schauen derweil dem Treiben nicht tatenlos zu. Facebook etwa versucht, mit der Diem Association selbst bei Decentralized Finance mitzumischen. Zentralbanken erproben ihre eigenen Digitalwährungen und Regierungen kündigen neue Regulierungen für Finanzprodukte oder höhere Kapitalertragssteuern an. „Die Flut an Informationen schafft viel Wert, der von Playern monetarisiert wird, die kein Interesse an einer dezentralen Bewegung haben“, sagt Warren im Gespräch. Es stehe einfach sehr viel Geld auf dem Spiel. Und wie bei jeder Revolution haben die Alteingesessenen mehr Anreiz, die Dinge beim Alten zu lassen. „Die dezentrale Bewegung ist nicht aufzuhalten – Regulierungen können sie höchstens verlangsamen“, sagt Björn Wagner von Parity. „Ein Netzwerk lässt sich nicht regulieren.“ Gerade in Ländern mit restriktiven Staatssystemen wie China gebe es viele innovationshungrige Entwickler, die an dezentralen Lösungen arbeiteten. Auch ein beträchtlicher Anteil der Fördergelder der Web3-Foundation landet dort. Damit das dezentrale Netz mit seinen dezentralen Anwendungen wettbewerbsfähig wird, muss es mindestens eine vergleichbare Nutzererfahrung bieten wie die großen Plattformen des Web 2.0, ist sich auch Wagner bewusst. Die Herausforderung sei in diesem frühen Stadium, die besten Talente dafür zu gewinnen, die Infrastruktur zu bauen. Krypto Native könnte sehr bald genauso selbstverständlich wie Digital Native im Wörterbuch stehen. Wenn auch nicht unbedingt als Erstes im Duden. Mitarbeit: Sébastien Bonset