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Die goldene Ära der Blockchain: Wie die dezentrale Technologie die Wirtschaft umkrempelt

Die Blockchain krempelt die Wirtschaft um und hat disruptives Potenzial für die gesamte Gesellschaft. Das glauben jedenfalls ihre Verfechter. Was steckt hinter der Technologie, die lange Zeit im Verborgenen blieb?

Von Luca Caracciolo
13 Min. Lesezeit
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(Grafik: t3n)

Um die digitale Revolution zu verstehen, hilft ein Blick ins ­Gemüse­fach. Die Avocado etwa, die in Südafrika, Israel, ­Chile oder Peru wächst, muss ihren Weg ja in unsere Breiten­grade finden. Wie aber lässt sich sicherstellen, dass auf dem Transportweg alles glatt läuft und zum Beispiel die Kühlkette nicht unter­brochen wird? Schließlich sterben laut Welt­gesundheitsorganisation jedes Jahr 400.000 Menschen durch den Verzehr verunreinigter und verdorbener Lebensmittel.

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Eines der Hauptprobleme sind die ineffizienten und nicht immer transparenten Transportwege. Zum Teil noch auf Papier oder mit veralteter Software dokumentiert, kann eine genaue ­Rückverfolgung der Lieferketten Wochen ­dauern – Zeitspannen, in denen Menschen weiterhin verunreinigte Lebensmittel verzehren. Oftmals bleibt die Vernichtung großer Mengen von Lebensmitteln die einzige Möglichkeit, um die Verbraucher zu schützen.

Was aber, wenn eine solche Lieferkette, die etliche Dienst­leister weltweit umfasst, von einer einzigen, digitalen Lösung abgewickelt wird? Eine Lösung, die immun gegen Manipulation ist und Statusänderungen für alle beteiligten Akteure innerhalb ­weniger Sekunden anzeigt? An dieser Stelle kommt die Blockchain ins Spiel: Eine dezentrale Datenbank, die in einem Netzwerk auf einer Vielzahl von Rechnern gespiegelt vorliegt und über einen ausgeklügelten Verifizierungsmechanismus die Echtheit der Datenbankeinträge gewährleistet – eine äußerst schlanke, in weiten Teilen automatisierbare und gegen Manipulation abgesicherte Lösung.

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Die Vorteile: Alle an der Lieferkette beteiligten Dienstleister arbeiten mit einem einzigen Datensatz. Jede Veränderung in der Lieferkette wäre nahezu in Echtzeit von allen einsehbar. Gleichzeitig ist jede Information von den Teilnehmern der Blockchain geprüft und freigegeben und im Nachgang unveränderlich. Der Zugang zu Detailinformationen ist jedoch genau geregelt, jeder Partner hat die Erlaubnis, auf bestimmte Informationen zuzugreifen – auf jene, die er braucht. Wichtige Informa­tionen wie Herkunftsbetrieb oder Ablaufdaten und Lieferungs­details – wie die Einhaltung der Kühlkette – ließen sich innerhalb von Sekunden nachverfolgen. Ungereimtheiten oder Lücken beim Transport einer Avocado würden also für alle beteiligten Akteure entlang der kompletten Lieferkette sichtbar – inklusive fälschungssicherer Prozessabbildung in der Blockchain: eine vollautomatisierte Abwicklung, die mit entsprechenden Sensoren an den Transportkisten ohne menschliches Zutun funktioniert.

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Offen versus geschlossen

Anwendungsbeispiele für Blockchain wie die Lieferkette von ­Lebensmitteln gibt es zahlreiche. Generell sind Lieferketten auch in anderen Branchen mit der Blockchain abbildbar – Flugzeugteile, Hafen-Container, Diamanten. Aber es geht nicht nur um Lieferketten. Zahlreiche Anwendungsszenarien in der Wirtschaft bieten sich für den Einsatz von Blockchain-Technologien an. So unterschiedliche Bereiche wie Künstlervergütung in der Musik­industrie, Reisebuchungen oder schlichte Geld-Überweisungen ins Ausland: Alles ist auf Blockchain-Basis denkbar und zum Teil in Pilotprojekten schon erprobt. Finanzen, Versicherungen, Handel, Logistik, Tourismus – rüttelt Blockchain an der Infrastruktur der gesamten Wirtschaft?

Der Einsatz von Blockchain ergibt immer dann Sinn, wenn Prozesse aus den Unternehmen herausführen und virtuelle Werte und Güter wie Eigentumsrechte oder materielle wie Container durch ein Netzwerk an Beteiligten geführt werden. Ändert sich der Status dieser Assets regelmäßig, kann eine Blockchain-Infrastruktur diese Änderungen für alle beteiligten Unternehmen transparent machen und die Abwicklung deutlich vereinfachen. Effi­zienzsteigerung und Bürokratieabbau sind die großen Versprechungen in der Wirtschaft. Laut der ­Yougov-Studie „Potenzial­analyse Blockchain“ prüfen 47 ­Prozent der ­deutschen Unternehmen den Einsatz von Blockchain-Technologien, 21 Prozent arbeiten an Proto­typen. Allerdings halten nur sieben Prozent der Fach- und Führungskräfte die Technologie derzeit für markt­reif und einsatzbereit.

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Bei diesen ersten Pilotprojekten in der Wirtschaft kommen meistens sogenannte private Blockchains zum Einsatz – also speziell für den Betrieb eines Anwendungsfalls betriebene Blockchains. Anders als bei offenen Blockchains wie etwa Ethereum oder Bitcoin haben in privaten Blockchains Unternehmen oder Privatpersonen, die nicht an dem entsprechenden Prozess beteiligt sind, keinen Zugriff auf die gespeicherten Daten. Beispiel Lieferkette einer Avocado: Nur die „Dienstleister“ dieser speziellen Lieferkette, wie etwa der Landwirt, der den Anbau verantwortet, oder die Transportunternehmen, wickeln die Lieferung über die dafür geschaffene spezielle Blockchain ab.

Ein weiterer Grund für die Hinwendung zu privaten Blockchains ist die fehlende Regulierung in öffentlichen Blockchains wie bei Bitcoin oder Ethereum – für die klassische Unternehmenswelt ein ernsthaftes Hindernis, stärker einzusteigen. „Cut out the middleman“ ist Programm, denn durch den dezentralen Charakter der Blockchain ist im Grunde keine zentrale Instanz mehr nötig, die den Ablauf festschreibt und regelt. Im Code der Blockchain ist ­alles Wesentliche für die Abwicklung einer Transaktion oder eines ­Assets mit Statusänderungen festgeschrieben. Kann Code aber im Konfliktfall zur Rechenschaft gezogen werden?

Auch das Thema Datensicherheit ist eine Herausforderung. Bitcoin und Ethereum bieten zwar Verschlüsselung mit einem öffentlichen und privaten Schlüssel an. Allerdings lassen sich alle Transaktionen analysieren, die von einem Schlüsselpaar generiert werden – etwa, um das „Verhalten“ eines öffentlichen Schlüssels und dessen Interaktion mit anderen Applikationen im Netzwerk zu verfolgen. Heißt konkret: Es ist möglich, Interaktionen zwischen Partnern nachzuverfolgen – was mit dem Schutz von Firmengeheimnissen kaum vereinbar ist.

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Die Vorbehalte in der Wirtschaft sind aber auch aus einem anderen Grund noch hoch. Eine Blockchain für einen Kunden aufzusetzen ist kein klassisches Projekt – man muss von Anfang an alle beteiligten Partnerunternehmen miteinbeziehen. „Es geht ganz stark um ein verändertes Mindset und einen ­Kulturwandel, wie man Prozesse lebt“, so Sebastian Steger, Blockchain-Experte bei Roland Berger. Offenere Geschäftsmodelle mit Kunden und Partnern müssten erst entstehen und gewollt werden. ­Oliver Gahr, Program Director „Innovation, Blockchain und IoT“ im IBM-Forschungs- und Entwicklungszentrum in Böblingen,­ sieht das ähnlich: „Blockchain ist ein Teamsport, das ist man in einem Business-Umfeld nicht unbedingt gewöhnt.“ Automatisierte Abwicklungen mit einem hohen Grad an Transparenz – das ist nicht etwas, in das sich Unternehmen einfach so reinstürzen. Dennoch: IBM hält das Potenzial von Blockchain-Technolo­gien für groß, arbeitet laut eigenen Aussagen mit Kunden weltweit bereits an über 400 Projekten – unter anderem etwa mit Walmart an einer Blockchain-Lieferkette für die bessere Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln.

Es wäre aber falsch zu glauben, dass die klassische Unternehmenswelt nur auf private und abgeschlossene Blockchains setzt. Zwar wird hier von Seiten der Wirtschaft das größte Potenzial gesehen, aber die ursprüngliche Idee der Blockchain als offene und dezentrale Technologie führt das quasi ad absurdum. Hinter offenen Blockchains wie Bitcoin oder Ethereum steckt mehr als die Effizienz einer verteilten Datenbank. Es geht um die Vision einer digitalen Ökonomie, die offener ist und nicht von wenigen Plattformen beherrscht wird. Bitcoin oder Ethereum bieten die einzigartige Chance, den dezentralen Charakter des Internets auf eine neue Stufe zu heben: eine Art zweites Internet, das neben Daten jetzt auch Werte sekundenschnell weltweit transferiert.

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Um das Potenzial der Blockchain in diese eher offene Richtung zu erschließen, ohne sich komplett zu öffnen, schließen sich Unternehmen deshalb zu Konsortien zusammen. Unter dem Titel Hyperledger etwa treibt die Linux Foundation auf Open-Source-Basis die Weiterentwicklung von Blockchain-Techno­logien speziell für das Enterprise-Segment voran – unter Mitarbeit zahlreicher Unternehmen wie SAP, Daimler, IBM und Intel. Speziell für den Versicherungsbereich gibt es das B3i-Konsortium mit Vertretern wie Allianz und Generali. Außerdem hat sich eine eigene Enterprise Ethereum Alliance gegründet, mit dem Schwerpunkt auf Unternehmensanwendungen auf der ­Ethereum-Blockchain. Mitglieder hier sind sowohl namhafte Unternehmen wie Microsoft und Cisco, aber auch Startups und nicht zuletzt die Ethereum Foundation selbst.

Vor allem die Enterprise Ethereum Alliance beweist das Interesse der Old Economy an dem Potenzial öffentlicher Blockchains. Es gibt auch erste Pilotprojekte, die auf die Ethereum-Blockchain setzen – wie Fizzy, eine Police des französischen Versicherungsunternehmens Axa, bei der sich Fluggäste gegen Verspätungen absichern. Sobald ein Nutzer die Fizzy-Police über die entsprechende Website in Anspruch nimmt, werden sowohl der Kaufvorgang als auch die spätere Schadensmeldung im Verspätungsfall automatisiert über die Ethereum-Blockchain abgewickelt – ohne dass der geschädigte Fluggast tätig werden muss. Axa setzt laut eigenen Aussagen bewusst auf Ethereum, um die Transparenz in der Schadensabwicklung zu erhöhen und so für mehr Vertrauen auf Kundenseite zu sorgen.

Auch die Lufthansa mischt mit. Die Fluggesellschaft arbeitet mit dem Blockchain-Reisestartup Winding Tree zusammen, das den Reisevertrieb reorgani­sieren will. Mit einem dezentralisierten B2B-Marktplatzsystem, das Blockchain-basierte Buchungen von Reisen ermög­lichen soll, will Winding Tree die Ineffizienz minimieren, die durch die Vielzahl der Zwischenhändler entsteht. Fluggesellschaften, Hotels und andere Reisedienstleister sollen dann idealerweise ihre Dienste auf der Plattform von Winding Tree anbieten. Das Startup setzt für die Umsetzung der Plattform auf die Ethereum-­Blockchain, die Lufthansa plant eine größere Investition.

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Will die Old Economy also doch ein wenig Revolutionsluft schnuppern? Ein bisschen zumindest. Sebastian Steger glaubt ­allerdings, dass private Blockchains in einem ersten Schritt die Entwicklung der neuen Technologie vorantreiben. Deshalb würden neue Anwendungsfelder im Markt vor allem in diesem Bereich zu finden sein. Doch sollte der Begriff der „Enterprise ­private Blockchains“ nicht so ausgelegt werden, dass immer nur unternehmen­sinterne Blockchains zum Einsatz kommen. „Das würde in der Tat am Potenzial der Technologie vorbeigehen“, glaubt Steger.

Dazu passten auch etwa Projekte wie Fizzy von Axa oder das Engagement der Lufthansa. Die Unternehmen bauten aber mit ihren Pilotvorhaben noch lange keine weltweiten öffentliche Blockchain-Angebote auf. Ethereum diene bei solchen Vorhaben eher als Lieferant von Entwicklungswerkzeugen, die von Unternehmen genutzt werden.

Dezentralität als Geschäftsmodell

Vor allem Startups richten ihre Geschäftsmodelle klar auf die Charakteristika öffentlicher Blockchains wie etwa Ethereum aus. So auch Dietrich Sümmermann, Gründer von Motionwerk. Die 100-prozentige Innogy-Tochter entwickelt mit Share und ­Charge ein Blockchain-basiertes System, mit dem Besitzer von Lade­stationen für Elektroautos und Elektroautoinhaber die Bezahlung für den geladenen Strom abwickeln können.

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„Bei einigen Corporates erleben wir, dass sie die Blockchain-Technologie prostituieren in dem Sinne, dass sie die Technologie in alte Geschäftsmodell- und Denkmuster reinpressen“, beschreibt Sümmermann die Abschottung der Blockchain-Technologie auf Seiten der Wirtschaft. Share und Charge setzt bewusst auf Ethereum – Sümmermann erklärt auch, warum: „Die zentralen Plattform-Modelle verschieben sich“, glaubt er. Das alte Spiel „Wer die meisten Daten hat, gewinnt“ gehe stärker in Richtung dezentrale Kooperationsmodelle. In dieser Ökonomie gewinne nicht der, der die meisten Daten hat, sondern jener, der die ­besten Kooperationsmodelle und Services entwickelt. „Wir fragen uns: Wie können wir unsere Nische finden in einem offenen Öko­system und die besten Kooperationsmodelle anbieten?“

Ein wenig erinnert das Spannungsverhältnis von privaten und öffentlichen Blockchains an die 90er, als das Intranet noch ein heißes Thema in der Unternehmenswelt war. „Es gab eine Zeit, da galten Intranets als die Zukunft der digitalen Vernetzung. Heute lachen wir darüber. Die Revolution wird definitiv public sein“, glaubt Christoph Jentzsch, der an Ethereum ­mitentwickelt hat und Gründer von Slock.it ist, einem Blockchain-­Startup, das eine Plattform fürs Internet der Dinge innerhalb der ­Ethereum-Blockchain baut. Die Idee: Je mehr Maschinen ans Netz angeschlossen werden, desto wichtiger ist es, dass sie auf einer rudimentären Ebene miteinander „sprechen“. Diese Kommunikationsinfrastruktur will Slock.it über die Ethereum-Blockchain schaffen. Ein Beispiel: Das smarte Türschloss an der Wohnung, das sich öffnet, sobald sich der Gast der Tür nähert. Erstmal nichts, was nicht auch heute schon geht. Aber nicht nur das Schloss öffnet sich – die Zahlung wäre längst abgewickelt, eine Vermittlungsinstanz wie Airbnb gar nicht nötig. Die Blockchain löst alle wichtigen Verwaltungs­schritte automatisiert aus: Bestellung der Wohnung, Bezahlung, Abwicklung.

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Eine private Blockchain, so Jentzsch, sei gar nicht so spektakulär und nicht so weit weg von klassischen Datenbank-Technologien etwa auf SQL-Basis, eine Interoperabilität von verschiedensten Applikationen nur in öffentlichen Blockchains möglich. Aber es geht um mehr. Die großen Akteure in der heutigen Plattform-Ökonomie würden – in der Theorie – ihre Macht verlieren. Wenn es Slock.it in fünf Jahren nicht mehr gäbe, würde die Plattform trotzdem weiterlaufen. Die Funktionsweise der Slock.it-Plattform ist in der Blockchain festgehalten und kann nicht ohne weiteres geändert werden. „Eine dezentrale Struktur, die sich selbst erhält“, so Jentzsch. Die großen Plattformen der heutigen Digitalwirtschaft wie Facebook oder Google hingegen funktionieren ohne Unternehmen dahinter nicht, würden ohne Lenker zusammenbrechen. Ob aber eine Plattform langfristig funktionieren kann, die ohne Menschen auskommt und nur auf automatisiertem Code basiert, ist dabei eine unbeantwortete Frage. Wer kümmert sich um die Weiterentwicklung, wer liefert Support?

Außerdem birgt Offenheit auch Schwierigkeiten. Eine große Herausforderung bei öffentlichen Blockchains ist die ­Skalierbarkeit – denn wenn immer mehr Startups mit ihren Appli­kationen in die Ethereum-Blockchain drängen, sorgt das für eine „Verstopfung“ der Infrastruktur. „An der Skalierbarkeit wird hart gearbeitet“, erklärt Jentzsch. Er hoffe, dass das Problem in spätestens drei bis fünf Jahren gelöst sei. Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze, etwa das Raiden-Netzwerk, das einen zusätzlichen ­„Layer“ über die Ethereum-Blockchain legen und die in einer Sekunde durchführbaren Transaktionen deutlich steigern soll. Andere Szenebeobachter sind kritischer – Coinkite-CEO Rodolfo Novak, der mit seinem Startup Hardware-Wallets für Bitcoin anbietet, spricht in einem Artikel auf Coindesk.com eine deutliche Sprache: „Es sind viele nicht erprobte Technologien im Umlauf sowie sehr gutes ­Marketing“, erklärt er in Bezug auf Sharding, eine Idee aus der eher traditionellen Datenbank-Welt, die vorsieht, dass jeder Node nur einen Teil der bisher nötigen Daten speichern müsste – was die Leistungsfähigkeit von Ethereum deutlich steigern könne. Novak spricht in diesem Zusammenhang von einem unverantwort­lichen Level „irrationalen Überschwangs“, wenn es um neue technische Ideen geht – überhaupt sei er verwundert, dass Ethereum schon so lange durchgehalten habe.

Ob eine offene Blockchain wie Ethereum am Ende die Blockchain für alle wird, lässt sich zu diesem frühen Zeitpunkt ohnehin nicht sagen. „Private und Public Blockchains sind zwei unterschied­liche Use-Cases, für beides gibt es eine Berechtigung und in Zukunft entsprechende Einsatzszenarien“, meint Friederike Ernst, COO bei dem Blockchain-Startup Gnosis. Das weltweit verteilte Team arbeitet an einer Plattform für Vorhersagemärkte und hat in diesem Jahr rund 12,5 Millionen Euro in einem ICO eingenommen. Gnosis selbst setzt auf die Ethereum-Blockchain, weil das Startup vor drei Jahren bei der Gründung schlicht keine andere Blockchain mit ähnlichen Funktionalitäten gab. Dennoch: Auch Ernst glaubt, dass die Skalierungsprobleme in Zukunft gelöst werden könnten – zu viele spannende Projekte beobachtet sie momentan.

Blockchain als Gesellschaftsprinzip?

Unterm Strich bleibt die Frage: Sind die Unternehmen schon bereit für Blockchain mit all ihren Konsequenzen? Sebastian Steger wirkt im Vergleich zu den Vertretern der Blockchain-Startups eher bescheiden, wenn er über das Potenzial in der Wirtschaft spricht. „Blockchain ist keine Super-Technologie“, glaubt er. Vielmehr ist sie die Speerspitze und Konsequenz einer generellen Digitalisierung der Wirtschaft. Dass zeige sich darin, dass ihr Einsatz eben nicht nur von technologischen Faktoren abhängt, sondern auch von kulturellen. Steger rechnet damit, dass die ersten großen Live-Anwendungen von Blockchains in der Wirtschaft, die über einen Pilotenstatus hinaus­gehen, frühestens in drei bis fünf Jahren zu erwarten sind.   

Shermin Voshmgir vom Blockchainhub in Berlin glaubt an eine viel weitreichendere Vision. Die Technologie werde für mehr als die bloße Optimierung der Abläufe in einigen Branchen sorgen. Blockchain werde langfristig jede Industrie betreffen. Das, was im Bereich der privaten Blockchains passiere, erinnere sie stark an SAP in den 90ern. Damals war es wichtig, erste Schritte in Richtung Digitalisierung zu gehen, aber das sei nichts „Revolutionäres“ gewesen – eher notwendig. Auch in den kommenden Jahren werden Unternehmen viel Bürokratie abbauen und mit Blockchain-Technologien ihre Prozesse deutlich verschlanken können.

Aber das sei alles nur der Anfang, denn: „Blockchain und ­Tokens sind das Betriebssystem unserer zukünftigen Gesellschaft. Wir programmieren gerade unsere Gesellschaft über automatisierbaren Code neu“, erklärt sie. Was das heißt? Über Tokens ließe sich eine völlig neue Form gesellschaftlicher Teilhabe organisieren. Momentan herrsche noch viel Unwissen, und oftmals würden Tokens nur mit Geld und Wertsteigerung assoziiert, was schlicht falsch sei. „Stell dir Blockchains einfach wie Stämme vor – die Leute, die das gut finden, kaufen sich darin über Tokens ein. Das ist eine komplett neue Art, wie Gesellschaft oder Wirtschaft funktioniert.“

Blockchain als Organisationsprinzip einer ganzen Gesellschaft? Gar eines politischen Staates? Ein solches Projekt gibt es schon und nennt sich Bitnation. Eine dezentrale Plattform, auf der Regierungsleistungen und Verwaltungsakte über die ­Ethereum-Blockchain abgewickelt werden – etwa Schlichtungsverfahren, Identifikationssysteme, Versicherungen oder das Führen aller Arten von Registern. Ein Staat, der seine Regeln im Code festschreibt und keine Staatsgrenzen kennt. „Ich stelle mir eine sehr viel freiere und wohlhabendere Welt vor, die auf freiwilligen Vereinbarungen basiert statt auf Gewalt innerhalb willkürlich gezogener Grenzen“, beschreibt Bitnation-Erfinderin Susanne Tarkowski Tempelhof ihre Vision. Nationalstaaten, glaubt sie, werden in den kommenden 50 bis 100 Jahren abgelöst von freien Stadtstaaten und Landgemeinden auf lokaler Ebene – und auf globaler Ebene von Organisationen wie Bitnation. Die Idee: Innerhalb solcher Organisationen buhlen dann viele tausend oder ­Millionen Regierungen um die Gunst der Bürger, indem sie die besten Dienstleistungen anbieten.

Blockchain als Regierungsform und Code als ausführende Gewalt: Mit unserem Demokratieverständnis sind solche Ideen nur schwer vereinbar. Die vielleicht wichtigste Errungenschaft staatspolitischer Entwicklung wäre innerhalb einer Blockchain-­basierten Organisation nicht gegeben: die Gewaltenteilung. ­Exekutive, Legislative und Judikative in einem einzigen technischen Gefüge? Der Missbrauch politischer Macht wäre ­„vorprogrammiert“, eine Diktatur des Codes wahrscheinlich. Wer würde die Gruppe von Menschen überhaupt legitimieren, die solche Systeme bauen? Welche Instanz schreitet ein, wenn etwas schiefläuft? Und überhaupt: Wer trägt die politische Verantwortung?

Auch Voshmgir sieht die Problematik der fehlenden Legitimität. Weil sie aber an das gesamtgesellschaftliche Potenzial von Blockchain glaubt, prangert sie an, dass der gesamte Diskurs zu Blockchain fast ausschließlich von Ingenieuren, Entwicklern und Mathematikern geführt wird – und völlig vorbei an der rest­lichen Gesellschaft. Mit dem Blockchainhub versucht sie deshalb, Auf­klärungsarbeit zu leisten. Was ist Blockchain überhaupt genau und wie funktioniert sie? Und welchen Einfluss könnte sie in Zukunft spielen? „Wir müssen für eine breite Gesellschaft transparent machen, was gerade passiert, und sie an der Diskussion beteiligen.“

Ob es also lediglich um die Lieferkette einer Avocado oder gar um unsere Demokratien geht – eine Antwort bleibt vorerst aus. Dass Blockchain allerdings schon jetzt ein konsequentes ­Weiterdenken der Digitalisierung in nahezu allen Branchen in den Unternehmen bewirkt, ist vielleicht fast wichtiger als die Technologie selbst.

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Ist die Kryptowährung Handel, Produktion und Kurse durch Kontrolle (Die Anbieter könnten zudem bestimmen, wie schnell gewisse Inhalte von der Quelle zum Nutzer gelangen) wegen der Änderung des Telekommunikationsgesetzes in USA und weiter vieleicht später in EU als Möglichkeit oder als möglich zu bezeichnen ? Was denkt ihr darüber bitte?

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