Innovationsforscher: Bis 90 Prozent unserer Ideen sind falsch – und wieso das bereichernd ist

Der Innovationsforscher Stefan H. Thomk plädiert dafür sich bei der Suche nach neuen Ideen, "wie in einem Versuchslabor" zu verhalten. (Screenshot: Youtube / Harvard Business School Executive Education)
Stefan H. Thomke ist Professor an der Harvard Business School und forscht zum Thema Innovationsmanagement. Er ist überzeugt: Die besten Ideen entstehen in Unternehmen, die ständig neue Experimente wagen. In seinem Buch „Experimentation works: The surprising Power of Business Experiments“ beschreibt er, wie eine solche experimentelle Unternehmenskultur entsteht.
t3n: Herr Thomke, jedes Unternehmen will besonders innovativ sein. Aber wie kommt man auf wirklich innovative Ideen?
Zunächst einmal sollte man sich von der Vorstellung verabschieden, es gehe darum, die eine große geniale unternehmerische Idee zu haben. Auf so eine Eingebung zu hoffen oder darauf hinzuarbeiten, kann den Innovationsprozess sogar bremsen.
t3n: Wie ginge es besser?
Man sollte sich eingestehen: Die meisten Ideen, die wir haben, funktionieren nicht. Die Kunden verhalten sich meist vollkommen anders, als die klugen Köpfe in Marketing, Produktentwicklung oder Management sich das überlegt haben. Das ist die Realität. Unternehmen, die Ideen ständig und unmittelbar am Kunden testen, wissen das: 80 bis 90 Prozent unserer Ideen erweisen sich als falsch.
t3n: Das klingt nun nicht sehr inspirierend …
Im ersten Moment vielleicht nicht, aber letztlich bedeutet es: Ich muss kein Genie sein, um bahnbrechende Innovationen zu entwickeln. Das ist doch sehr befreiend. Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook oder auch Netflix sind nicht deshalb so erfolgreich, weil sie eine einzelne, großartige Idee hatten. Sondern, weil sie täglich Hunderte oder sogar Tausende kleine Ideen für neue oder bessere Produkte und Dienstleistungen entwickeln, testen und wieder verwerfen. Diese Unternehmen haben über viele Jahre in eine Infrastruktur und Kultur investiert, die es ihnen ermöglicht, zigtausende Tests pro Jahr effizient durchzuführen. DAS ist das Geheimnis ihres Erfolgs: Die nötige Disziplin für immer wieder neue, kontrollierte Experimente.
t3n: Disziplin und Kontrolle bringen viele Menschen gar nicht mit Kreativität und Innovation in Verbindung. Irgendwo müssen doch auch die vielen Ideen herkommen, bevor sie getestet werden – oder?
Ich spreche lieber von Hypothesen als von Ideen. Fach- und Erfahrungswissen und Intuition sind wichtig, um diese Hypothesen aufzustellen, klar. Meine Intuition sagt mir vielleicht: Ein neues Produkt-Feature könnte unseren Kunden gefallen. Oder: Eine Verbesserung im Design unseres Shops könnte dazu führen, dass mehr Kunden bei uns einkaufen. Diese Ideen entstehen gewissermaßen nebenbei im Alltag. Die Kunst der experimentellen Unternehmensführung liegt darin, diese Hypothesen nie ungeprüft zur Wahrheit zur erklären, sondern sie immer zu testen. Die Zeit für diesen Zwischenschritt müssen wir uns nehmen, wenn wir weiterkommen und kluge Entscheidungen treffen wollen.
t3n: Man erklärt also das Prinzip „Trial and Error“ zur Strategie?
Eine gute Experimentierkultur ist nicht Trial and Error. Ich verhalte mich vielmehr wie in einem Versuchslabor: Ich stelle eine Hypothese auf – und dann teste ich, ob sie stimmt, indem ich mir anschaue, wie Kunden darauf reagieren. Und das tue ich möglichst oft, wiederhole Tests wieder und wieder und passe dabei jeweils nur Kleinigkeiten an. So lange, bis die Idee richtig, richtig gut funktioniert. Oder eben scheitert. Wenn 80 bis 90 Prozent von 10.000 Ideen falsch sind, bedeutet das eine Erfolgsquote von zehn Prozent. Also Tausend nachweisbar wirksame Verbesserungen oder neue, erfolgreiche Produktideen. Und vielleicht war sogar eine wirklich bahnbrechende dabei. Kreative Ideen sind nichts Magisches, Geheimnisvolles. Wenn man das begriffen hat, macht es richtig viel Spaß, ständig neue Ideen zu entwickeln und zu testen. Das ist auch eine Art kreativer Flow.
t3n: Haben Unternehmen in unsicheren Zeiten wie diesen wirklich die nötige Zeit, um sich ständig ausgefeilte Tests auszudenken und diese nach wissenschaftlichen Standards penibel durchzuführen?
Im digitalen Umfeld sind Tests nicht mehr aufwendig und teuer. Es gibt so viele Tools, mit denen ich die Reaktion von Menschen auf meine Ideen testen kann. Und: Je unsicherer die Zeiten sind, desto mehr bin ich auf Experimente angewiesen. Gerade jetzt verändern sich doch durch die Pandemie enorm viele Gewohnheiten und Verhaltensweisen – im Kleinen wie auch im Großen. Da kommt nur mit, wer ständig sehr genau testet, ob die eigenen Produktideen und Projekte wirklich zu diesen veränderten Bedürfnissen und Rahmenbedingungen passen.