Freiheit nach Konzept: Wie die Management-Methode Holacracy funktioniert
Klaus Polley entmachtet sich Stück für Stück selbst. Seit März stellt der 43-Jährige sein Team bei der Telekom auf den Kopf. Polley führt eine führungslose Struktur nach dem Holacracy-Konzept ein. Er klingt vergnügt, wenn er über seine Selbstentmachtung spricht – auch wenn das in einem Konzern nicht einfach ist. Außerhalb seines 60-köpfigen Teams für Rechnungsschreibung bei T-Systems versteht niemand so recht, wie Arbeiten ohne Hierarchie funktionieren soll. Denn die Telekom als 225.000-Mitarbeiter-Monstrum ist wie fast alle Betriebe klassisch organisiert: Die Entscheidungen trifft die Spitze, Mitarbeiter darunter müssen sie umsetzen. Das bedeutet Stress für die ganz unten, aber auch Druck für die Chefs oben. Am Ende müssen sie nämlich den Kopf hinhalten, wenn ihr Unternehmen nicht von der Stelle kommt. Polley durchbricht dieses System und rollt, Mitarbeiter für Mitarbeiter, Holacracy aus. Bislang, sagt er, ist bei ihm in Hannover deshalb kein Chaos ausgebrochen.
Ein kaum führbares Team
Polley nennt vor allem einen Grund, warum er der Mitarbeiter-Basis mehr Macht überträgt: mangelnde Innovation. Über die Jahre ist sein Team gewachsen, sodass es inzwischen kaum noch führbar sei. Im klassischen System kommen die Impulse von oben. Aber was, wenn der Chef oben gar nicht mehr weiß, was unten passiert? Polley machte diese Erfahrung und steuert dagegen. Der Betriebswirt und Psychologe meint: „Wenn sich Städte verdoppeln, steigt ihre Innovationskraft. Wenn das in Unternehmen passiert, wird sie eher geschwächt.“ Er ist überzeugt, dass das kein Naturgesetz ist.
Die Idee hinter den dezentralen Strukturen nennt sich Holacracy, oder eingedeutscht: Holokratie. Software-Unternehmer Brian J. Robertson hat das ziemlich komplexe Gedankengebäude aus der Praxis heraus entwickelt, schließlich ein Buch zum Konzept geschrieben und das Unternehmen HolacracyOne gegründet. Wer den Ansatz ausprobieren will, kann es kostenlos tun. Wer dazu die Organisations-Software Glassfrog nutzen will, zahlt für die Pro-Version neun US-Dollar pro Monat und Nutzer. Berater brauchen eine Lizenz, wenn sie anderen beim Einführen von Holacracy helfen wollen. HolacracyOne wirbt mit hunderten Unternehmen, die im holakratischen Modus arbeiten.
Eines davon sitzt in Berlin: Das Startup Blinkist verzichtet auf herkömmliche Jobtitel, verteilt Holacracy-typisch Rollen an Mitarbeiter und ordnet sie Kreisen zu, in denen sie mit viel eigener Verantwortung arbeiten. Blinkist beschäftigt etwa 35 Mitarbeiter. Sie fassen Sachbücher auf ihren Kern zusammen und vermarkten die kurzen „Blinks“ in eigenen Apps. Blinkist praktiziert seit zwei Jahren Holacracy. Wie Polley bei der Telekom berichtet auch Sina Haghiri von Blinkist über Wachstumsschmerzen innerhalb der Belegschaft. Es sei „viel gestritten“ worden und Teams hätten gegeneinander gearbeitet. Darum entschlossen sich die Gründer, dass ihre Mitarbeiter selbst Verantwortung für den eigenen Erfolg übernehmen müssen, statt sie an andere abzuschieben.
Es ist jetzt Haghiris Aufgabe, neue Leute für offene Stellen zu finden – und wenn es schlecht läuft, sein Problem. In seiner Rolle als Personal-Manager ist der 28-Jährige sein eigener Boss. Er muss Stellenausschreibungen nicht absprechen und weiß: Bis zu 500 Euro kann er pro Stelle in Online-Jobbörsen investieren, bei Programmierern sogar das Doppelte. Die Alleinverantwortung verhindert zig E-Mails mit sieben Leuten in CC oder elendig lange Slack-Chats. Als Ergebnis steht dann nicht immer die beste Lösung, aber immerhin: Es gibt eine Lösung. Es bedeutet aber auch: Wenn das Budget ausgegeben und kein passender Kandidat gefunden ist, muss Haghiri gucken, wie er das Problem löst. „Die meisten Leute hier würden sofort gehen, wenn wir es wieder anders machen würde – und ich würde heute noch kündigen.“
„Die Organisation nimmt Geschwindigkeit auf“
Damit das befürchtete Chaos ausbleibt, ist Holacracy nicht nur eine Ideologie, sondern auch ein Gesetzbuch. Rollen haben Domains, Kreise treffen sich zu Tactical Meetings und die wiederum brauchen einen Facilitator. Wer das erste Mal in die „Constitution“ schaut, die Verfassung von Holacracy, will vielleicht doch lieber im herkömmlichen System verharren. Hat sich der Schock gelegt, ergeben viele Regeln einen Sinn.
Für Sina Haghiri macht genau dieses komplexe Regelwerk den Unterschied zur meist wenig effektiven Vollversammlung in der Uni aus. Im Plenum darf auch jeder mitreden, doch schnell voran geht es nicht, eben weil alle durcheinander plappern und jeder an allen Fronten die Welt auf seine Art rettet. Deshalb gilt bei Holacracy: Rollen mit genau definierten Aufgaben.
Der Facilitator muss die Treffen kurz und effektiv halten und ihren Ablauf peinlich genau überwachen. Zu jedem Tactical gehört sogar ein fest eingeplanter privater Moment, der Check-in. Wer will, kann dort kurz berichten, was ihn bedrückt – dann ist es raus und kein Kollege bezieht die schlechte Stimmung auf sich. Sind die emotionalen Fragen geklärt, führt der Facilitator durch das Meeting, in dem über vieles geredet, aber nicht alles ausdiskutiert wird.
Berater Stefan Faatz-Ferstl rät überforderten Erstanwendern zu Geduld und spricht von einer Reise, die drei bis fünf Jahre dauern kann. Der Wiener arbeitet bei der Agentur „Dwarfs and Giants“, die derzeit die einzigen offiziellen Holacracy-Coaches im deutschsprachigen Raum stellt. Die Agentur arbeitet intern selbst mit Holacracy. Faatz-Ferstl etwa legt das Corporate Design fest und kümmert sich in einer weiteren Holacracy-Rolle um die Büromöbel. „Ich fahre also selbst ins Möbelhaus und habe Budget. Die anderen müssen meine Entscheidung respektieren.“ Wie bei Blinkist und den Personalentscheidungen gilt auch in so banalen Dingen wie neuen Tischen und Stühlen: Nicht die beste Entscheidung ist das Ziel, sondern überhaupt eine Entscheidung zu treffen. „Die Organisation nimmt Geschwindigkeit auf.“
Die sauber durchregulierte Welt ohne Chefs birgt jedoch auch Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Diese Erfahrung machte das Unternehmen Buffer, das das gleichnamige Social-Media-Tool betreibt. Mitgründer Leo Widrich berichtet über verunsicherte neue Mitarbeiter, die sich in der flachen Struktur nicht zurecht finden. Sie suchen etwas zum Festhalten, einen Leitwolf. Zugleich bilde sich in Organisationen eine natürliche Hierarchie – weil unerfahrene Mitarbeiter schauen, wie erfahrenere Kollegen ein Problem lösen und sich dies zum Vorbild nehmen.
Freiheit kann aber auch verunsichern
Die Blogging-Plattform Medium arbeitete jahrelang nach holokratischen Vorgaben und lernte: Das System ermöglicht ein modernes Arbeiten, aber nicht in allen Situationen. Kreise und Rollen arbeiten fokussiert an ihren Zielen, aber es kostet Kraft, ein richtig großes Ziel anzustreben – eben weil alle in ihren kleinen Aufgaben stecken, wie es Head of Operations Andy Doyle im März in einem Medium-Post beschrieb. Medium strebe starke Individuen an, aber auch starke Chefs, die mit ihrer Kompetenz wichtige Entscheidungen treffen, wenn es notwendig ist.
Auch bei Zappos, dem Zalando-Vorbild, läuft nicht alles rund. Das US-Unternehmen hat Holacracy vor drei Jahren eingeführt. Doch mittlerweile offenbaren sich erste Probleme: Die Managementmethode habe Mitarbeiter verwirrt und demoralisiert zurückgelassen, schreibt Fortune. Galt das Unternehmen bisher als Vorzeigebeispiel für gute Mitarbeiterführung, verliere es nun bei den eigenen Beschäftigten an Halt.
Den Organisations-Experten Hermann Arnold wundert das nicht. Er ist grundsätzlich für flache Strukturen, jedoch gegen die starre Absolutheit, mit der Holacracy behauptet, die Lösung gefunden zu haben. „Viele Anwender laufen einfach den Regeln nach, ohne sie für sich zu hinterfragen“, meint Arnold. „Wir sind aber noch nicht soweit, zu verstehen, welchen Formen der Führung die Zukunft gehört.“ Arnold war lange Geschäftsführer von Umantis, heute Haufe-Umantis, einem Anbieter von Talent-Management-Software. Er trieb die betriebsinterne Basisdemokratie voran – und schließlich wurden sogar Chefs abgewählt.
Arnold sieht Holacracy nur als einen Ansatz unter vielen: „Es ist vermessen, Holacracy als etwas zu sehen, das alle Probleme löst. In der Wahrnehmung geschieht das dennoch oft – obwohl das wohl nie von den Erfindern beabsichtigt war.“ Das Konzept berücksichtigt nach Arnolds Erfahrungen, eben wegen seiner vielen Regeln, zu wenig den Faktor Mensch. Sein Ideal ist ein „offenes Betriebssystem für die Unternehmensführung“, vergleichbar mit einem App-Store. „Wir wollen zehn, 20 oder 100 Applikationen haben, die das gleiche Problem lösen. Wie im Marktplatz für Smartphone-Applikationen – da gibt es ja auch zig verschiedene Anwendungen, die einen zum Beispiel To-Do-Listen erstellen lassen.“ Jeder könne sich dann die perfekt passende Lösung aussuchen.
Für den Firmen-Vordenker geht nichts über kleine Teams, die eigenmächtig vom Konzept bis zum fertigen Produkt handeln können – ohne den holokratischen Überbau. Selbstorganisation und mehr Verantwortung würde Arnold immer zunächst bei denen einführen, die Lust haben: „Wenn ich von heute auf morgen Agilität im Unternehmen verordne, verliere ich die vielen Late Movers und verschwende meine Energie. Würde ich Holacracy bei Daimler einführen, flöge mir der Laden um die Ohren. Als Ergebnis müsste ich es von oben durchdrücken, was ein Widerspruch wäre.“
Klaus Polley von der Telekom teilt die Kritik von Hermann Arnold nicht, er hält das System gar für das Gegenteil von starr. Für ihn ist Holacracy „das Linux unter den Führungskonzepten“, das offen sei, sich verändere und nicht dogmenhaft daher komme. „Ich habe ja nicht Holacracy genommen, um es als Bibel vor mir herzutragen, sondern weil wenige Fragezeichen in dem Konzept stehen.“ Das mit der Bibel verbietet sich allein deshalb, weil die Holacracy-Jünger bei der Telekom noch eine Minderheit sind. Um die Kollegen anderer Abteilungen nicht zu verwirren, arbeitet die Rechnungsschreibung intern ohne klassische Führung, behält aber nach außen seine alte Form und seine alten Jobbezeichnungen. Ein bisschen Boss darf Polley also bleiben. Vorerst.