Weniger arbeiten: Flexible Arbeitszeitmodelle auf dem Prüfstand
Not macht erfinderisch. Das hat auch Klaus Hochreiter, Gründer der Onlinemarketingagentur Emagnetix, im eigenen Unternehmen erleben müssen. Vor wenigen Jahren war viel Arbeit da –, aber zu wenig Interessenten für offene Stellen: „Wir haben ein Gehalt über dem Branchenschnitt geboten, aber trotzdem gab es für Positionen manchmal keinen einzigen Bewerber“, sagt Hochreiter. Seine erste Erkenntnis: „Die Erwartungshaltung der Arbeitnehmer hat sich verändert, wir müssen etwas Einzigartiges schaffen.“
Vom Firmensitz im österreichischen Bad Leonfelden, eine halbe Autostunde nördlichWen von Linz, ging Hochreiter auf die Suche. Schaute sich im Silicon Valley um und in Skandinavien. Aus Schweden importierte er dann ein Modell, das seitdem für einen Run auf offene Stellen sorgt: Seit 2018 lässt Emagnetix nur 30 Stunden pro Woche arbeiten, zahlt aber für eine volle Arbeitswoche. In der Regel verteilen die Angestellten ihre Tätigkeiten auf vier Tage und bleiben am fünften dann zu Hause.
Aus zwölf Mitarbeitern wurden so in den vergangenen Jahren 30, auf Senior-Positionen bewerben sich mittlerweile bis zu 80 Menschen. Bei einer Umfrage im vergangenen Jahr sagten gut 80 Prozent der Mitarbeiter, dass sie sich gesünder fühlten. Und zwei Drittel gaben an, dass die Arbeitsbelastung gesunken sei – trotz komprimierten Stundenpensums. „Wir haben damit ein Alleinstellungsmerkmal“, erklärt Hochreiter zufrieden, „für uns ist es das richtige Modell.“
Oft sind es Notsituationen, die Unternehmer zum Umdenken zwingen. Die Coronakrise sorgt gerade dafür, dass Millionen von Menschen ihren Schreibtisch im Homeoffice einrichten müssen. Wo die Arbeit von zu Hause mit Betreuungspflichten, Einkaufsroutinen und Haushaltsaufgaben konkurriert, sind starre Zeitpläne unmöglich aufrechtzuerhalten. „Pausenzeiten werden individueller, teilweise bröckeln sowohl Kernarbeitszeiten als auch Arbeitszeitrahmen aufgrund der privaten Anforderungen“, schreiben Christian Piele und Alexander Piele vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Unternehmen, die vor der Krise noch „eine sehr restriktive Flexibilisierungsstrategie“ verfolgt hätten, müssten diese nun nach und nach aufgeben. Häufig mit einem positiven Zwischenfazit, so die Forscher:
„Es funktioniert ja doch recht gut!“
Das kann als Katalysator für eine bereits begonnene Entwicklung wirken. „Der Glaube so mancher Führungskraft, dass hochflexibles Arbeiten in ihrem Team nicht funktioniert, ist nach dieser unfreiwilligen Experimentierphase durch die Praxis widerlegt“, schreiben die Forscher. Doch damit das kein Strohfeuer bleibt, müssen die jetzt erzwungenen und improvisierten Lösungen nach der Krise systematisiert werden. Denn für Unternehmen bedeutet die Umstellung auf neue Arbeitszeitmodelle einen tief greifenden Wandel.
Je nach Modell müssen Firmen ihre Prozesse umkrempeln, neue Regeln definieren oder zu technischen Tools greifen. Doch nicht nur die Organisation der Arbeit muss sich wandeln. „Ohne eine entsprechende Vertrauenskultur werden viele Projekte scheitern“, sagt Jutta Rump, Professorin am Institut für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen. Im Kern sind individuelle Lösungen gefragt, die zu den Anforderungen eines Unternehmens und den Ansprüchen seiner Mitarbeiter passen.
Auch ohne Krise kehren bereits seit längerem immer mehr Unternehmen den Nine-to-Five-Jobs den Rücken. Ob reduzierte Stundenzahl, die Abkehr von Kernarbeitszeiten oder Führung in Teilzeit: Arbeitnehmer wollen sich flexibler um Verwandte, Hobbys oder sich selbst kümmern. „In der Gesamtschau der Ergebnisse lässt sich klar festhalten, dass die Arbeitszeitflexibilisierung die meisten Tätigkeitsbereiche heute schon stark durchdrungen hat“, schreiben auch die IAO-Forscher. Sie haben auf Basis einer Befragung der IG Metall die Verbreitung und Auswirkung von flexiblen Arbeitszeitmodellen in verarbeitenden Betrieben erforscht.
Ein Ergebnis der Studie ist, dass sich der Grad der Flexibilisierung je nach Größe des Betriebs und Position der Mitarbeiter unterscheidet. Während im Schichtbetrieb kaum Modelle wie Gleitzeit zu finden sind, arbeiten immerhin rund ein Viertel der Mitarbeiter der oberen und mittleren Führungsebene in Vertrauensarbeitszeit, viele davon in Verbindung mit mobiler Arbeit. Ein anderes Ergebnis: Flexible Modelle sind Beschäftigten – und Bewerbern – besonders wichtig. „Wir haben die Souveränität über die Arbeitszeit als neue Währung entdeckt“, beschreibt es Beschäftigungsexpertin Rump.
Auf der Suche nach den passenden Modellen
Die Digitalwirtschaft ist dabei häufig – wenn auch nicht immer freiwillig – Vorreiter, beobachtet sie. „Wo Fachkräfte limitiert sind, müssen sich Führungskräfte stärker mit den Bedürfnissen der Menschen auseinandersetzen“, erklärt Rump. Ihr Institut koordiniert das Projekt „Zeitreich“, das im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums zu Motiven und Umsetzung von alternativen Zeitmodellen forscht. Immer mehr Unternehmen jenseits der digitalen Vorreiter blicken neugierig auf die Ergebnisse des Instituts. Im Projekt ließen sich etwa auch eine Bäckereikette, ein Finanzamt und ein mittelständischer Installationsbetrieb beraten. Sie alle spüren den Druck, der Belegschaft mehr bieten zu müssen als das Standardmodell.
Emagnetix stellte sich dieser Herausforderung auf eigene Faust und nahm sich viel Zeit, um die Arbeitszeit zu verändern. Mehr als zwei Jahre lang bereitete das Unternehmen die Umstellung vor. Zu Beginn schwärmten die Mitarbeiter mit einem klaren Ziel aus: Wie lassen sich in einer Woche 8,5 Stunden Arbeit einsparen, um einen Tag aus dem dienstlichen Kalender zu streichen? „Da haben wir alle Arbeitsabläufe durchleuchtet“, sagt Gründer Hochreiter. So beschloss die Belegschaft etwa, meeting-freie Zeiträume einzuführen, damit die Angestellten sich einen Vormittag lang ohne Ablenkung auf ihre Arbeit konzentrieren können.
Zudem griff das Team in die IT-Trickkiste: Mit einem selbst geschriebenen Skript beispielsweise werden nun automatisch Zahlen für einen Wochenbericht zusammengetragen. Zuvor war das eine fehleranfällige und zeitraubende Tätigkeit am Montagmorgen. „Wir arbeiten laufend daran, mit Tools manuelle Arbeit einzusparen“, erzählt Hochreiter. Eine offene Kommunikation und ein Blick auf andere Vorreiter erleichtern den Weg zu Lösungen, die beiden Seiten etwas bringen. „Man muss das Rad nicht neu erfinden“, sagt Wissenschaftlerin Rump, und „man muss die Fehler von anderen Unternehmen auch nicht wiederholen“.
Bei der Bäckereikette etwa stand nicht das Homeoffice zur Debatte, aber ein besser geplanter Springerpool für spontane Einsätze und eine Fünftagewoche statt der üblichen sechs Schichten. Im Finanzamt suchte das Projekt Zeitreich nach Wegen, eine Vielzahl von Teilzeitmodellen so zu kombinieren, dass Absprachen nicht unmöglich werden. Für die neue Art zu arbeiten, bedarf es nicht immer starrer und bis auf die Minute ausgelegte Arbeitszeitregeln auf Unternehmensebene, sagen die IAO-Forscher: „Vieles kann auch und gerade unter Kolleginnen im Team flexibel geregelt und abgestimmt werden.“
Klare Kommunikation ist Nötig
Besonders herausfordernd ist die Abstimmung, wenn sich durch individuelle Modelle Kolleginnen nicht mehr im Büro begegnen, sondern gewissermaßen aneinander vorbei arbeiten. Viele Unternehmen fürchten, dass so ein asynchrones Arbeiten die Effizienz einbrechen lässt. Die Beschäftigten des US-Softwareunternehmens Gitlab arbeiten schon immer von zu Hause aus und sind quer über die Zeitzonen der Welt zerstreut.
Eine feste Wochenstundenzahl gibt es für die etwa 800 Mitarbeiter nicht. Dafür aber die eherne Regel, alles zu dokumentieren: In einem Handbuch sind Prozesse definiert, bei jedem Video-Meeting wird parallel ein Protokoll geschrieben, im hauseigenen Programm werden Aufgaben in kleine Bausteine zerlegt, dokumentiert und abgearbeitet. Dadurch soll jeder Mitarbeiter permanent in der Lage sein, nach seinem individuellen Zeitplan voranzukommen. Auf überlappende Arbeitszeiten kommt es dann nicht mehr an. „Es wäre unmöglich, anders zu arbeiten“, sagt Darren Murph, der als Gitlab-„Head of Remote“ beim Videointerview aus seinem Arbeitszimmer in North Carolina grüßt. „Man kann ja nicht warten, bis irgendwo jemand aufgewacht ist, um ihm dann virtuell auf die Schulter zu tippen.“ Keine Regel ohne Ausnahme: Geht eine Diskussion zwischen Mitarbeitern mehr als dreimal hin und her, empfiehlt das Handbuch, einen gemeinsamen Zeitpunkt für einen Video-Call zu suchen.
„Man kann ja nicht warten, bis irgendwo jemand aufgewacht ist, um ihm dann virtuell auf die Schulter zu tippen.“
Die enge Abstimmung ist auch in einem anderen Modell unerlässlich, das bei vielen Vorgesetzten immer noch auf Skepsis stößt. Wer in einer Führungsposition arbeitet und gleichzeitig Zeit für sich, die Familie oder andere Aufgaben haben will, kann sich den Posten inzwischen in einigen Unternehmen teilen. Dieses Jobsharing stößt bei vielen zunächst auf Skepsis. „Viele glauben, dass die Abstimmung zu viel Zeit kostet“, sagt Esther Himmen. Sie und ihre Tandem-Partnerin Katharina Wiench haben gemeinsam die Jobsharing-Beratung Pairforming gegründet. Je besser ein Tandem eingespielt ist, desto weniger Zeit brauche man, um sich abzustimmen. „Für das reine auf dem Laufenden halten, reichen dann oft nur eine bis zwei Stunden in der Woche.“
Für viele Top-Sharer, wie die Teilzeitführungskräfte auch genannt werden, steht aber nicht nur die verkürzte Arbeitszeit im Mittelpunkt der Überlegung. Mal arbeiten beide 60 Prozent, mal die eine Vollzeit und der andere Teilzeit. Es gibt auch Tandems, die beide Vollzeit arbeiten, aber sich die Aufgaben aufteilen und die Verantwortung gemeinsam tragen. „Durch eine Überlappung können echte Synergien gehoben werden“, erklärt Himmen. Etwa, weil die beiden Führungskräfte unterschiedliche Stärken oder Expertisen mitbringen und über wichtige Entscheidungen diskutieren können. Solche Modelle bringen also nicht nur mehr Flexibilität für die Führungskräfte, sondern können auch zu besseren Ergebnissen führen.
Wie sich Tandems koordinieren, sei sehr unterschiedlich. Viele tauschen sich über digitale Tools aus. „Jobsharing treibt so auch die Digitalisierung in Unternehmen voran“, beobachtet sie. Himmen rät allerdings davon ab, ganz auf den direkten persönlichen Kontakt zu verzichten. „Es bleibt wichtig, von Angesicht zu Angesicht Perspektiven auszutauschen und Kompetenzen zu ergänzen.“
Auch jenseits der Abstimmung ist viel Freiheit für die Angestellten anspruchsvoll. „Um total flexibel zu arbeiten, muss man sehr organisiert sein“, sagt Antonio Mimmo. Er leitet von Bratislava aus bei Gitlab das Marketing im europäischen Raum. Sein Vorgesetzter sitzt in den USA, sein Team in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Mimmo startet in der Regel morgens gemütlich in den Tag, macht am Nachmittag häufig noch einmal ein paar Stunden frei – und klinkt sich dann am frühen Abend in ein paar Videokonferenzen ein. „Das funktioniert gut, aber es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich meinen Rhythmus gefunden hatte“, berichtet er.
Andere Kollegen, erzählt Mimmo, setzen dagegen für sich – trotz potenzieller Freiheit – auf ein striktes Neun-bis-18-Uhr-Modell. Verpassen sie dabei zentrale Meetings aus anderen Zeitzonen, können sie sich die Aufzeichnung später anschauen und ihre Gedanken nachtragen. Stratege Murph ist sogar überzeugt, dass auf diese Art und Weise bessere Ergebnisse zustande kommen: „So tragen die Mitarbeiter dann etwas bei, wenn es ihnen gut in die Zeit passt –, und nicht in einer zwangsverordneten Brainstorming-Session.“
Vertrauen statt Präsenz
Flexiblere Arbeitszeitmodelle dürfen nicht dazu führen, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, meint Digitalagenturchef Hochreiter. Deshalb lässt er gerade die E-Mail-Server am Abend und am Wochenende abschalten. Einen ähnlichen Vorstoß hatte Autogigant Volkswagen bereits vor gut acht Jahren angekündigt. Die Idee: Niemand soll sich gezwungen fühlen, noch spät am Abend auf die E-Mail der Chefin zu reagieren –, auch wenn die vielleicht am Nachmittag dafür in der Frühlingssonne gesessen hatte. Zu viel Freiheit könne auch dazu führen, dass Angestellte weniger auf ihre Gesundheit achten, warnen Forscher.
Um das zu verhindern, sind vor allem Führungskräfte gefragt. Unternehmen brauchten eine „Vertrauenskultur, keine Präsenzkultur“, formuliert es Wissenschaftlerin Rump. In der Praxis bedeutet das, dass viel Zeit in den persönlichen Austausch fließt – und deutlich weniger in die operative oder inhaltliche Feinarbeit. Als Führungskraft kann man nicht mehr jede Excel-Tabelle und Präsentation im Blick behalten. „Mikro-Management bei voller Flexibilität funktioniert einfach nicht“, sagt Gitlab-Marketingmanager Mimmo. Jeden seiner drei Teammitglieder lädt er daher einmal pro Woche zum „Coffee-Chat“. Dabei sollen aktuelle Arbeitsprojekte hintenanstehen, im Fokus stehen die persönliche Stimmungslage und die Zufriedenheit mit den aktuellen Abläufen. „Ein Prozess, der vor einer Woche noch funktioniert hat, passt vielleicht diese Woche schon nicht mehr“, sagt Mimmo. Auch Emagnetix-Gründer Hochreiter ist überzeugt: Möglich ist sein Modell nur, wenn auch die Werte stimmen. „Es muss zuerst die richtige Kultur im Unternehmen vorhanden sein“, sagt er. „Ich muss ein Grundvertrauen haben in die Mitarbeiter, sonst wird so ein Modell scheitern.“
Im Top-Sharing gilt das umso mehr. Über Prozessschritte und Arten der Zusammenarbeit könne man verhandeln, meint Himmen. „Schwieriger wird es, wenn der Umgang mit Menschen oder die Art zu führen nicht zusammenpassen.“ Disziplin ist dann aber auch in der Führungsebene gefragt. Hochreiter etwa schafft es – noch – nicht, sich an die selbst verordneten 30 Stunden zu halten. Immerhin: Von dem früheren etwa 80-Stunden-Pensum sei die Belastung bei ihm und seinem Partner auf etwa 40 Stunden in der Woche gesunken, berichtet er. Und die Richtung ist klar: „Auch für uns sollte das eigentlich einmal gelten, 2021 wollten wir das Ziel erreichen“, sagt Hochreiter. „Aber durch die Krise wird sich das wohl um ein bis zwei Jahre nach hinten verschieben.“