Warum das 9-Euro-Ticket der schlechte Anfang eines guten Wegs sein könnte

Das Neun-Euro-Ticket kommt und es findet reißenden Absatz. 56.000 der Tickets wurden bereits in den ersten 24 Stunden im Hamburger Verkehrsverbund verkauft, 35.000 waren es bereits am ersten Tag bis Mitternacht in Berlin. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen geht davon, dass am Ende 30 Millionen der stark vergünstigten Tickets verkauft werden. Es könnte somit der größte Feldversuch in der Geschichte des deutschen Personennahverkehrs werden – oder das größte Bahnchaos seit dem Start des Wochenendtickets Mitte der 90er Jahre.
Woran liegt das? An der Möglichkeit, endlich mal im Bummelzug nach Sylt zu fahren? Sicherlich nicht, denn das wird oberhalb der Zwei- bis Drei-Stunden-Marke wohl kein vernünftiger Mensch machen (und das wurde auch nur durch die Reaktion der Sylter, angefacht durch Boulevard-Medien, überhaupt zum Thema). Daran, dass jetzt jeder sämtliche Fahrten ins Büro und am Wochenende mit Bus und Bahn erledigen will? Sicherlich auch nicht – denn außerhalb der Großstädte und Ballungsräume beschweren sich viele (zu Recht) darüber, dass sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln deutlich länger von A nach B brauchen als mit dem Auto. Und das Kostenargument wird gerade Autofahrer, die ja bekanntermaßen zumindest theoretisch jetzt billiger tanken können, auch nicht überzeugen.
Was kann der steigenden Energiepreisen geschuldete Großversuch also bringen – ein Projekt, das eigentlich nur der Tatsache geschuldet ist, dass man angesichts der groß angelegten Benzinsubventionen auch den Nicht-Autofahrer:innen irgendetwas bieten musste. Es kann dazu beitragen, dass die Menschen den ÖPNV überhaupt erst einmal wieder kennenlernen, sich damit auseinandersetzen, vielleicht nicht alles gleich schlechtreden. Denn es ginge im Prinzip gar nicht um die Frage „Auto oder ÖPNV“, sondern eher darum, welche Fahrten man mit dem Bus erledigen kann und für welche man das Auto nutzt.
Zu selten, zu unpünktlich, zu teuer: Wird der ÖPNV seinem Ruf gerecht?
Drei Dinge sind es, die die Menschen an öffentlichen Verkehrsmitteln generell, aber speziell auch in Deutschland stören:
Fahrtmöglichkeiten, Fahrtdauer, Taktung: Zugegeben, in München oder Berlin ist all das Jammern auf vergleichsweise hohem Niveau, aber schon in Augsburg, Neuruppin, Saarbrücken oder Ingolstadt gibt es Gegenden, die man kaum zumutbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht. Selbst große Arbeitgeber sind inzwischen so stark aufs Auto fokussiert, dass Angestellte vorrechnen, dass sie die doppelte oder dreifache Zeit ins Büro bräuchten, wenn sie sich gegen das Auto entscheiden müssten.
Und dann erst der ländliche Raum. Das Meme, dass man mit dem Neun-Euro-Ticket sämtliche drei Busse auf dem Land nutzen kann, die im Laufe eines Monats vorbeikommen, mag etwas übertrieben sein, aber ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht. Hier können aber appbasierte Lösungen wie Sammeltaxis, Rufbusse oder irgendwann vielleicht auch autonome Fahrzeuge für Entlastung sorgen. Das jetzt anzugehen, wäre mehr als sinnvoll angesichts von Nachhaltigkeitszielen und verstopfter Ballungsräume.
Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit: Daran könnten alle Verkehrsbetriebe arbeiten – doch das setzt sowohl im Fall der regionalen Verkehrsbetriebe als auch bei der Bahn einfach auch voraus, dass ausreichend Ressourcen (sowohl personell als auch technisch) vorhanden sind. Der ausfallende Zug, die defekte Weiche, der Zugbegleiter, der es (kein Witz!) nicht rechtzeitig zum Umsteiger schafft, all das hat auch etwas damit zu tun, wie sehr in den letzten Jahren gespart wurde. Wenn heute DB Regio-Chef Jörg Sandvoß erklärt, man sehe das Neun-Euro-Ticket als Chance, den Regionalverkehr der Bahn von der besten Seite zu zeigen und „alles in Bewegung zu setzen, was wir haben“, dann kann man dennoch erahnen, dass die zusätzlichen 50 Züge, die die Bahn bundesweit (!) rollen lassen will, in den nächsten Wochen nicht ausreichen werden.
Kosten und Komplexität der Preissysteme: Nein, ÖPNV muss nicht kostenlos sein, es wäre schön, wenn er es wäre, aber außerhalb Luxemburgs ist das angesichts der angespannten Haushaltslage wohl illusorisch. Aber wenn die beiden anderen Faktoren stimmen, lässt sich auch das Kostenargument verschmerzen – insbesondere wenn Autofahrer:innen sich bewusst machen, dass der Pkw, auch wenn er „eh da steht“, Geld kostet. Der öffentliche Verkehr darf aber umgekehrt auch nicht so unverschämt teuer sein, wie er es zurzeit in vielen Fällen (geworden) ist. Der schlechteste Move wäre es, wenn die Verkehrsunternehmen sich ab September trotzig hinstellen und die Preiserhöhungs-Keule rausholen.
Es gibt da nämlich etwas, das für viele ÖPNV-Nutzer ein schlagendes Argument für ein wie auch immer bepreistes Ticket nach dem Muster der aktuellen Aktion wäre: Wenn man zum einen nicht für eine Ein-Stunden-Fahrt drei (!) Tickets unterschiedlicher Verkehrsverbunde und der Bahn erwerben müsste (und im Vorfeld ein mittleres Studium dafür braucht, die günstigste Variante zu ermitteln) und wenn man zum anderen nicht bei den sporadischen Einzelfahrten so dermaßen von den Verkehrsunternehmen für sein spontanes Ansinnen bestraft würde.
Kommt die Renaissance des ÖPNV oder bleibt er unbeliebt wie bisher?
Klar kann ich, wie einige Menschen immer wieder stolz bei Twitter berichten, für 17,90 Euro ohne Bahncard in fünf Wochen mittwochmorgens von München nach Kiel kommen, aber wenn ich dafür, dass ich heute mit der Familie über eine einzige Landesgrenze und zwei Verbundgrenzen fahre, den Gegenwert eines Kurzurlaubs zahlen soll, dann nehme ich halt doch das Auto.
Insofern ist all das, was wir in den kommenden Wochen sehen werden, möglicherweise und hoffentlich der Startschuss für eine größer angelegte Renaissance der Öffentlichen, für ein Monats- oder Jahresticket, das so günstig ist, dass es sich auch für Gelegenheitsnutzer eignet, und so vielseitig, dass man für die Nutzung kein Lexikon braucht. Übrigens wäre das Roaming-Modell im Fair-Use-Modus, wie wir es seit Jahren EU-weit im Mobilfunkbereich kennen, ein gutes Vorbild dafür: Ich kann schließlich, wenn ich beruflich in Frankfurt zu tun habe und dort mit der U-Bahn fahre, nicht parallel in Berlin fahren, sodass die Risiken für alle Beteiligten überschaubar bleiben.
Das setzt allerdings voraus, dass genügend Menschen sich jetzt für das Ticket entscheiden, um zu signalisieren, dass es durchaus ein Interesse an Alternativen zum Pkw-Verkehr gibt. Und es setzt voraus, dass die Politik (parteiübergreifend) endlich versteht, dass die Automobilhersteller zwar für ganz tolle Arbeitsplätze stehen, dass es neben dem Autoverkehr aber auch noch andere Dinge gibt, die mit Milliarden subventioniert gehören – im Interesse der Menschen und im Sinne der Nachhaltigkeit.