Changerider: „Mit den aktuellen Maßnahmen verschiebt die Bundesregierung nur den Strukturwandel“
In den vergangenen Monaten mussten sich Unternehmen weltweit rasant an die Auswirkungen von Covid-19 und an die sich nahezu täglich verändernde Situation anpassen. Bei vielen Unternehmen hat spätestens jetzt die Krise die Schwachstellen der versäumten Digitalisierung sichtbar gemacht.
Wie der Stahlhändler Klöckner & Co mit dem Ausbruch der Coronakrise umgegangen ist, welche Auswirkungen der „Lockdown“ hatte, welche Chancen sich daraus ergeben und warum die aktuellen Hilfsmaßnahmen womöglich nur bedingt geeignet sind – darüber und über viele weitere Themen spricht Klöckner-CEO Gisbert Rühl mit Philipp Depiereux im virtuellen Changerider-Interview und liefert einen spannenden Einblick in die digitale Transformation des Stahlhändlers.
„Gerade durch Corona hat die Digitalisierung noch einmal einen unglaublichen Push bekommen“
„Es war schon eine eigenartige Situation durch den Shutdown“, beschreibt Gisbert Rühl, CEO von Klöckner, die Anfänge der Coronakrise. „Einerseits war man ziemlich entschleunigt, weil man die meiste Zeit zu Hause verbracht hat und andererseits mussten wir gerade zu Beginn der Krise natürlich innerhalb kürzester Zeit sehr viele Entscheidungen treffen, um dafür zu sorgen, dass Klöckner weiterhin lieferfähig bleibt. Das haben wir aber vor allem dank unserer digitalen Fähigkeiten sehr gut hinbekommen“, so Rühl. Die Verkäufe über digitale Kanäle seien überproportional gestiegen, weil viele Wettbewerber oftmals gar nicht lieferfähig waren.
Für Rühl ist daher weniger die aktuelle Krisenbewältigung ein Thema, sondern vielmehr die Frage, wie Klöckner die Transformation jetzt noch schneller umsetzen kann. Der Trend, der auch über die Krise hinaus anhalten wird ist für klar: „Ich glaube, dass die Digitalisierung gerade jetzt durch Corona noch einmal einen unglaublichen Push bekommen hat und in Zukunft auch noch einmal bekommen wird.“
„Wir alle mussten erkennen, dass Plattform-Unternehmen erfolgreicher sind“
Ein Thema, das bereits vor der Coronakrise auf der Agenda des Klöckner-CEO stand, ist die Transformation des Stahlhändlers zu einem Plattform-Unternehmen. „Wir alle mussten in den letzten Jahren erkennen, dass Plattform-Unternehmen erfolgreicher als traditionelle Unternehmen sind. Sie wachsen schneller, sind effizienter, haben niedrigere variable Kosten und vieles mehr. Daher war es eigentlich immer unser Ziel, uns in Richtung eines Plattform-Unternehmens zu bewegen.“
Die Frage, die daher jeder CEO stellen muss ist: Wie kann ich mein Unternehmen hin zu einem Plattformunternehmen transformieren? „Das geht nur dann, wenn ich meine Kernprozesse, mithilfe von Technologien wie Artificial Intelligence oder auch Robotics in letzterer Konsequenz vollkommen automatisiere.“ Das Ziel sei es, Mitarbeiter nicht länger Teil dieser Kernprozesse sein zu lassen, sondern sie stattdessen unter anderem im Orchestrieren dieser Prozesse einzusetzen: „Genau wie bei Amazon, dem größten Retailer der Welt, der keinen einzigen Verkäufer beschäftigt – das ist im Grunde genommen auch für mich der Weg zur Digitalisierung. Diesen Schritt gehen wir jetzt noch konsequenter, was natürlich auch zu einem erheblichen Mitarbeiterabbau bei uns führen wird. Im Sales-Prozess können wir etwa auf eine erhebliche Anzahl von Mitarbeitern verzichten, weil die Prozesse zukünftig automatisiert ablaufen werden.“
„Mit diesen Maßnahmen verzögern wir den Strukturwandel“
Wie hat sich der Blick auf deutsche Unternehmen seit der Coronakrise verändert? Bei dem letzten Gespräch beobachtete Gisbert Rühl bei vielen deutschen Unternehmen noch fehlenden Mut, etwas Neues auszuprobieren und die lähmende Saturiertheit abzulegen: „Vielleicht ist es noch zu früh, aber ich hoffe, dass die Erkenntnis gereift ist, dass jedes Unternehmen diese Themen stärker vorantreiben muss“, sagt Rühl heute. Das gern verwendete Bild, Deutschland habe die erste Halbzeit der Digitalisierung verloren, kommentiert Rühl so: „Ich würde das gerne in Drittel aufteilen: Das erste Drittel haben wir verloren: B2C, Peer2Peer, die Themen sind durch. Wir haben aber auch das zweite Drittel verloren, das ist Cloud Computing.“ Es sei völlig chancenlos, hier jetzt eine europäische Lösung zu entwickeln. „Wir sollten uns jetzt im dritten Drittel darauf konzentrieren, wie wir etwa Cloud Computing-Technologien anwenden, beispielsweise für Industrie 4.0. Da haben wir noch eine Chance, wenn wir jetzt schnell reagieren.“
Unternehmen sollten jetzt die Krise nutzen, um größere Umstrukturierungen vorzunehmen. „Der Ansatz, Unternehmen Hilfe zu leisten, ist der richtige. Was derzeit aber passiert, zu versuchen jede Branche und jedes Unternehmen über Wasser zu halten, geht in die falsche Richtung. Damit verzögern wir lediglich den Strukturwandel.“ Mehr dazu im Changerider-Video.
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