Philosoph Markus Gabriel: „Die sozialen Netzwerke müssten uns einen Mindestlohn zahlen“

In der neuen Folge des Video- und Podcastformats von Etventure-Gründer Philipp Depiereux und t3n ist dieses Mal Markus Gabriel, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, zu Gast. Bereits in seinem aktuellen Buch „Der Sinn des Denkens“ wie auch im Changerider-Interview verbindet Gabriel auf spannende Weise philosophische Theoriebildung mit aktuell-politischen Themen. Dadurch entstehen neue und spannende Sichtweisen auf Digitalisierung, künstliche Intelligenz und den Mensch als „Quelle aller Werte“.
Was ist die Ausgangslage: Menschen werden durch die Digitalisierung intelligenter, denn „wir lösen unsere Probleme schneller“, so Gabriel im Changerider und damit bleibe mehr Kapazitäten für andere Dinge. „Seit der Digitalisierung kommt es zu einer gigantischen Wirtschaftsexplosion. Die letzten zehn Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gehören mit zu den besten, die Deutschland ökonomisch je hatte. Und das hat mit der Digitalisierung zu tun“, so der Philosoph.
In den Köpfen vieler Menschen gibt es allerdings noch immer die Horrorvorstellung, dass eine KI in Form einer Software oder eines Androiden die Menschheit à la Hollywood bedroht. Markus Gabriel versucht, den Menschen die Angst zu nehmen und erklärt zunächst, was künstliche oder menschliche Intelligenz im ureigensten Sinne überhaupt ausmacht: „die Fähigkeit, ein gegebenes Problem in einem bestimmten Zeitraum zu lösen.“ Dabei spielt die Zeit eine enorm wichtige Rolle denn: „Jemand ist intelligenter als jemand anderes, wenn er oder sie ein Problem schneller löst als die andere Person.“ Das ist schließlich auch die Basis unserer IQ-Tests.
Digitalisierung macht den Menschen intelligenter
Unter „Lernen“ versteht er den Austausch eines Problems durch ein besseres: „Man hat etwas gelernt, wenn man ein altes Problem durch ein neues ersetzt, das das alte Problem schneller löst. Wenn ich beispielsweise Autofahren gelernt habe, muss ich als nächstes herausfinden, wohin ich denn fahren will.“ Und für solche Problemlösungen bedienen wir uns immer häufiger des Internets und nutzen Apps, die uns leichter an unser Ziel bringen oder uns ganz generell Aufgaben schneller lösen lassen. Der Philosoph geht sogar noch weiter und spricht von einer „Intelligenzexplosion durch die Digitalisierung, eben weil wir sehr viele Probleme viel schneller lösen können.“
Und das ist nicht alles. Wir nutzen Apps, um beispielsweise schneller durch die Stadt zu kommen, bekommen Filmempfehlungen unseres Streaminganbieters und füllen soziale Netzwerke mit unseren Aktivitäten. Mit solch inzwischen alltäglichen Handlungen produzieren wir den ganzen Tag Daten, mit denen große Konzerne arbeiten und ihre Geschäfte machen. „Das entscheidende Problem ist, dass wir nicht angemessen dafür bezahlt werden, dass wir mehr leisten als jemals! Wir produzieren den ganzen Tag Daten und damit Probleme für Softwareunternehmen, die etwas mit unseren Daten, also mit unseren Problemen anfangen. Damit verdienen die Unternehmen ihr Geld. Sonst wäre Mark Zuckerberg nicht Milliardär, sondern vielleicht ich. Warum ist der eine Milliardär und der andere nicht? Und zwar deswegen, weil wir für ihn arbeiten! Wie viel Geld habe ich je von Facebook bekommen, dafür, daas ich dort Mitglied bin? Gar nichts. Man bietet mir einen Gegenwert an: die Gratis-Nutzung der Plattform, aber das ist nicht vergleichbar mit einem Mindestlohn. Erster Vorschlag, den ich also machen würde: Die sozialen Netzwerke, auch unsere Suchmaschinen, Google und Co., müssten uns einen Mindestlohn für die Benutzung zahlen.“
„Fake-News-Betrüger an der Ecke“ müssen verboten werden
Neben der Weitergabe von persönlichen Daten im Internet sieht Gabriel aber auch in Fake News ein Problem, dass gesellschaftlich unbedingt erkannt werden sollte. „Stell dir mal vor, man würde beispielsweise in Bonn leben und überall, an jeder Ecke steht jemand der unseren Kinder immer sagt: Zwei plus zwei ist fünf, die Evolutionsbiologie gibt es nicht oder die Einsteinsche Relativitätstheorie ist falsch. Also jemand, der ganz offensichtlich falsche Tatsachen verbreitet, und unsere Kinder fangen an, das zu glauben. Würde diese Person irgendwelche Drogen verteilen, käme sehr schnell die Polizei und würde diese Personen entfernen. Faktisch ist das Internet aber heute voll mit diesen Leuten. Das Internet ist nicht böse, sondern es ist einfach schlecht gemacht. Denn darin gibt es viele solcher Leute, die uns manipulieren.“
Gabriel sieht es auch als medienethisches Problem, dass sich aus seiner Sicht auch die Qualitätsmedien dem Konkurrenzdruck beugen, um gegen den „Betrüger an der Ecke“ anzukommen. Wer hat die heißeste Story, wer bekommt am meisten Klicks – „dieses System muss verboten werden, weil es ansonsten zum Ende des demokratischen Rechtsstaats führt“, so Gabriel.
„Wir müssen wieder lernen in ein geeignetes, wertschätzendes Verhältnis zum Menschen zu treten.“
Zum Schluss appelliert er, dass der Mensch die „Quelle aller Werte“ ist. Daher schulden wir den Tieren und auch unserer Umwelt etwas, wir schulden dem Rest der Wirklichkeit etwas, weil wir uns selbst an erster Stelle etwas schulden. Der Mensch muss heute lernen, „sich nicht selbst zu zerstören und durch künstliche Intelligenz ersetzen zu wollen“.
Im weiteren Gespräch berichtet der Vollblut-Philosoph von unserem neuen „alten Menschsein“, Fragen zur aktuellen Medien- sowie Weltpolitik, wieso es Philosophie in der Grundschule geben sollte und warum mittlerweile sogar das Klopapier in China getrackt wird – dies und mehr auch im Changerider-Podcast.
Für eine weitere Fahrt im Changerider nominiert er Frauke Rostalski, Rechtsphilosphin und Strafrechtlerin von der Uni Köln, deren Fachgebiete der Datenschutz, KI und Philosophie sind.
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Diese und alle weiteren Folgen sind als Video oder ausführliche Gespräche im Podcast auf iTunes, Soundcloud oder Spotify verfügbar.
Wir brauchen mehr Philosophen, die sich mit politik beschäftigen. Ganz tolles Interview!