Cohns fabelhafte digitale Welt oder: Lügen haben kurze Beine
Eine der Sichtweise angepasste Wirklichkeit
Für alle die Mächtigen dieser Welt ist es wohl noch nie ein Problem gewesen, die Wirklichkeit ihrer Sichtweise anzupassen. Was müssen sich also die Bildbearbeiter des NKWD, des Innenministeriums der jungen UdSSR, gemüht haben, Leo Trotzki und Lew Kamenew, nachdem diese aus der glorreichen kommunistischen Partei und aus ihrem eigenen Leben entfernt worden waren, durch das Übermalen mit Holzbrettern aus dem berühmten Bild mit dem auf dem Swerdlow-Platz in Moskau große Reden schwingenden Lenin verschwinden zu lassen.
In Diktaturen und ähnlich erquicklichen Staatsformen lassen die Mächtigen vorzugsweise in Ungnade gefallene Mitstreiter und missliebige Zeitgenossen nicht nur aus der Existenz, sondern auch aus ihren Bildern verschwinden, daran hat sich wohl seit den alten Ägyptern nichts geändert.
Im Kapitalismus hingegen werden vorzugsweise die Oberweite und andere relevante Körperteile gepimpt. Leute wegzuretuschieren, gehört auch schon mal zum Butterbrotgeschäft des „Bild“redakteurs [sic!] und vergessene Hände und anderes an fragwürdigen Stellen erregen in der Öffentlichkeit bestenfalls nur noch Heiterkeit.
Was will die Bild-Text-Schere sagen?
Doch nicht nur Heiterkeit, sondern auch Befremden. Ist nicht die allseits beliebte Bild- und Untertiteltextschere ein bewährtes Arbeitswerkzeug des Redakteurs zur Beeinflussung der Lesermeinung? Haben Sie sich schon mal gefragt, warum Illustrationen inhaltlich etwas ganz anderes aussagen als der dazugehörige Artikel? Ihn gar konterkarieren? Könnte es sein, dass dadurch eine ganz bestimmte Einstellung zum Leser transportiert werden soll? (Eine Text-Bildschere dient nicht dem Frisieren von Text oder Bild, sie beschreibt vor allem im Bewegtbild das Auseinanderdriften von Textinhalt und Bildbedeutung.)
Es gibt plethora an Internetseiten zu diesem Thema, die dem Einsatz von Bildern zu Lesermanipulation auf den Grund gehen. So gibt es Beispiele, bei denen die Originalaufnahmen neben publizierte Ausschnitte gestellt wurden. Ein Bild zeigt beispielsweise: GI bedroht irakischen Gefangenen mit seiner MP. Nix is, in der Originalaufnahme reicht ein zweiter, weggeschnittener GI dem Gefangenen seine Feldflasche zum Trinken. Wir sehen also mitnichten eine militärische Gräueltat, sondern einen barmherzigen Samariter in Uniform. (ap / Ursula Dahmen) Aber, gebetsmühlenartig ist aus den Redaktionen zu hören: Positive Nachrichten verkaufen sich nicht, die Leser wollen ihr täglich Gräuel und Blut gezeigt bekommen! Ehrlich? Und warum wurde der Stierkampf in Spanien dann verboten?
Und was hat das mit unserer digitalen Wirklichkeit zu tun? Schlicht alles, öffnet die so einfach gewordene digitale Bildbearbeitung nicht jeder x-beliebigen Fälschung Tür und Tor?
Natürlich sind die modernen Bildbearbeitungsprogramme wunderbar und man kann damit großartige Bilder erschaffen! Für den Lichtbildkünstler ein legitimer Traum. Abwedeln, Zusammenkopieren und mit der Schere Herausschneiden war gestern. (Ja, ich weiß, es war ein Skalpell.)
Und wo liegen die Grenzen?
Doch wo liegt die Grenze zur Fälschung und zum Betrug? Wenn gnädige und mitleidige Bildredakteure und Postproduzenten dem alternden Star die Runzeln aus Gesicht und Dekolleté glätten, ist das dann noch eine freundliche Lüge, schon eine Fälschung oder gar ein verabscheuenswürdiger Betrug?
Im Gegenzug tauchen immer wieder Bilder von Menschen auf, bei denen erkennbar ist, dass sie als politische Gegner bewusst verhässlicht und verunglimpft wurden. Vor allem ein füchsischer amerikanischer Fernsehsender scheint sich dieses Mittels immer wieder bedienen zu wollen. Was fatal an die Methoden des berüchtigten „Völkischen Beobachters“ – für die Nachmillenniumsgeborenen: das Kampfblatt der Nasenbärtchenpartei – erinnert. Und das vor 88 Jahren für Verunglimpfung und Desinformation zuständige Ministerium [sic!] nannten die Veranstalter der kürzesten 1.000 Jahre der Geschichte immerhin ganz aufrichtig „Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda“. Von Wahrheit war da von vornherein nie die Rede.
Dass im Grundgesetz und im Gesetz für das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung das Wort „Wahrheit“ mit keiner Silbe erwähnt wird, lässt den nachdenklichen Leser ratlos zurück, denn wie sagte Innenminister de Maizière 2015 anläßlich der Räumung des Hannoverschen Fußballstadions so schön: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“ – im Klartext, die Wahrheit ist nichts für das gemeine Volk.
Was ist die Wahrheit?
Seither läßt mir die Frage keine Ruhe: Wenn sich alles so leicht „digital bearbeiten“, den „Sehgewohnheiten anpassen“ lässt, wie erkenne ich, dass ich von einem Bild, einer Information, einem Artikel gerade die Wahrheit erfahre und nicht nur platt belogen werde?
Oder muss ich heute eo ipso schlicht bei allem, was ich höre, sehe, lese, davon ausgehen, es ist gar nicht wahr, es soll mich manipulieren und etwas denken lassen, was ich vielleicht gar nicht denken will?
Gibt es denn gar keinen Weg, keine Möglichkeit dem Leser, dem Betrachter, dem Hörer, dem Zuschauer zu garantieren, dass er nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit und nicht nur alternative Fakten vermittelt bekommt? Vielleicht sollte man ja für alle Medienbeteiligten den „Sokratischen Eid“ einführen, die Verpflichtung zur bedingungslosen Wahrheit?
Was unsere fabelhafte digitale Welt sonst noch an Überraschungen für William Cohn bereithält, lest ihr hier.