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Glosse

Cohns fabelhafte digitale Welt oder: Mit Verlust ist zu rechnen und Opfer müssen gebracht werden

Krisen sind gut – wir werfen alten Ballast ab und schreiten voll Freude in eine digitalisierte Zukunft.

Von William Cohn
4 Min.
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Cohns fabelhafte digitale Welt. (Bild: t3n)

„Jeder Schuss ein Russ’, jeder Stoß ein Franzos’, jeder Tritt ein Britt’!“ Als mein Großvater und Ihr Urgroßvater, verehrte Leserin, verehrte Leser, vor über 100 Jahren ins „Feld der Ehre“ zogen, um dort ihr Leben für Kaiser, Gott und Vaterland zu lassen, war der Feind noch ganz klar und eindeutig gesetzt. Die Kaiser in Berlin und Wien schwadronierten vom Opfer des Volkes und die Generäle auf beiden Seiten zählten die Toten in Hunderttausenden. Darunter vermutlich eine erschreckend hohe Zahl Ihrer männlichen Vorfahren. Mein Großvater, Pilot an der Westfront, hat den Krieg – wenn auch an Seele und Körper verletzt (drei Durchschüsse) – überlebt.

Und jetzt, kaum ist der erste Weltkrieg grade mal 100 Jahre vorbei, mitten in der aktuellen Krise, wird wieder von notwendigen Verlusten und zu bringenden Opfern in die Öffentlichkeit schwadroniert.

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So überraschte uns vor ein paar Tagen Frau Professor Jutta Günther, Dozentin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen, in der Radiowelt auf Bayern 2 mit der interessanten Wortspende, dass die aktuelle Krise „der Wirtschaft“ – abhängig von ihrem finanziellen Polster – vielleicht doch ganz gut überlebt werden könne, die große Chance läge vor allem in den Investitionen in erweiterte Digitalisierung. Das klingt fast hoffnungsmachend. Wir stecken das restliche Geld, das uns in Omas Sparstrumpf noch geblieben ist, in noch mehr Computer und anderes Equipment, mit dem wir dann noch hochfrequenter auf Aufträge warten, die nicht mehr kommen, weil keiner mehr welche zu vergeben hat?

„Vielleicht wäre der Robokoch der ideale Weg, alle Probleme der Gastronomie zu lösen“

Vor noch nicht allzu langer Zeit, in den Anfängen der Computerisierung so ungefähr in den 90er Jahren, kursierte in Wirtschaftskreisen folgendes Bonmot des honorigen und angesehenen hanseatischen Unternehmers Oswald Dreyer-Eimbcke: „Es gibt drei Möglichkeiten, eine Firma zu ruinieren. Die schnellste: durch Spielen (und Spekulation an der Börse, Anm. des Autors); die schönste: durch eine Liaison mit der attraktiven Sekretärin; und die sicherste: durch Einführung der EDV (heute Informatik).“ Die Liste der Unternehmen, bei denen genau dieses eintrat, ist endlos, ein prominentes Beispiel ist das große, international renommierte und berühmte Basler Architekturbüro Suter & Suter.

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Und da ich nun ein wissenschaftsgläubiger Mensch bin, nahm ich die Worte der Frau Professor sehr ernst und habe ich mich sofort gefragt: Wie kann sich die notleidende Gastronomie und Hotellerie durch Investition in weitere Digitalisierung vor dem Untergang retten? Okay, gute Köche sind eine teure Rarität, könnte ich Spitzenköche klonen, wäre ich heute Milliardär. Vielleicht wäre der Robokoch, wie er in Amerika in einigen Steakhäusern bereits vorkommen soll, der ideale Weg, alle Probleme der Gastronomie auf einen Schlag zu lösen? Sie investieren in ihre Digitalisierung, Computer und Roboter sind immer gleich zuverlässig und, wenn man Pech hat, gleich schlecht, und Sorgen um einen Michelin-Stern muss man sich gar nicht erst machen.
Und der Robokelllner wackelt durch die Gaststube, den Gästen eifrig Suppe über die Hose kleckernd. Nur die neue, direkt mit dem Finanzamt verbundene digitale Registrierkasse wirft einen satten Benefit ab – für den Fiskus.

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Und wo, liebe Frau Professor, sehen Sie die Chancen für die Digitalisierung jenes Teils der deutschen Wirtschaft, der immerhin einen größeren Anteil am Bruttosozialprodukt hatte als die „Leitindustrie“, die Automobilindustrie? Sie werden es nicht glauben wollen, aber es war die Kunst-, Kultur- und Veranstaltungswirtschaft!

„Der Trend zum Einwegkünstler ist nicht zu übersehen“

Eigentlich ist das doch ganz einfach: Statt von einem Orchester mit echten, lebendigen Musikern kommt das Konzert nur noch aus der Konserve, Aufnahmen gibt es ja genug, und auf der Bühne tanzen Hologramme längst urheberrechtefreier Künstler? Hat nicht Boesendorfer in Wien kürzlich einen elektronisch-mechanischen Flügel präsentiert, der in der Lage ist, das Spiel eines Pianisten so aufzuzeichnen und dann vollautomatisch und authentisch wiederzugeben, dass es vom Original nicht zu unterscheiden ist? Der Trend zum Einwegkünstler ist eindeutig nicht zu übersehen!

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Vielleicht gibt es in Zukunft nur noch ganz wenige Opernhäuser, Theater, Konzertsäle auf der Welt, von denen aus zuschauerfreie Aufführungen ins heimische Pantoffelkino vor die Couchpotatos anfangs noch live, später nur noch als Aufzeichnung gestreamt werden?

Außerdem frage ich mich: Poesie und Lyrik, wozu brauchen wir das? Gedichte schreiben will ja sogar schon die KI können! Zwar ist es noch ziemlich sinnentleertes und poesiebefreites Gelalle, aber wenn der Zuhörer oder Leser erst mal vergessen hat, wie Poesie und Lyrik wirklich klingen können, wird er sich auch mit diesem Datenmüll befüllen lassen!

Ist das Ihre Vorstellung von der Zukunft der Seele des deutschen Volkes, von unserer Kunst und Kultur? Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist eine armselige, vertrocknete Vision unseres zukünftigen Lebens.

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„Sind Künstler und Kulturschaffende die notwendigen Opfer und Verluste?“

Und was machen wir bis dahin mit all den beschäftigungsbefreiten Künstlerinnen und Künstlern? Hartz IV steht denen ja bereits offen und wegen der Selbstmordrate müssen Sie sich gar nicht genieren, aktuell wird ja vermieden, diese zu veröffentlichen. Sind das Ihre Vorstellungen, Frau Professor Günther, von den Chancen, die wir durch diese Krise erfahren, um unsere wirtschaftlichen Strukturen weiterzuentwickeln? Wie soll denn in Ihren Augen die Wirtschaft weiter „digitalisiert“ werden?

Oder sind wir Künstler und Kulturschaffende die von Ihnen so liebevoll angemahnten notwendigen Opfer und Verluste? Wir wissen Ihre Fürsorge sehr zu schätzen! Vielleicht legen Sie ja ab und an mal ein Blümchen auf das Grab eines aus dem Leben gegangenen Künstlers.

Und bei allem Enthusiasmus für eine Digitalisierung als Hilfsmittel für unsere Gesellschaft, bleibt mir die drängende Frage: Was ist die Zukunft des Menschen?

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Was unsere fabelhafte digitale Welt sonst noch an Überraschungen für William Cohn bereithält, lest ihr hier.

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