Corona bringt Schwung in die Telemedizin – langfristig?
Der Karlsruher Arzt Michael Thomas Becker war von Anfang an begeistert von der Idee der Telemedizin. Beratung per Videokonferenz? Macht er für seine Patienten gerne, wenn auch der Bedarf noch bescheiden ist. Beschaffung von Software, mit der er auch in Sachen Datenschutz auf der sicheren Seite ist? Selbstverständlich, „bin dran“, sagt er. Häftlinge behandeln, ohne vor Ort im Gefängnis zu sein? Auch bei diesem seit vergangenen Jahr auf alle Gefängnisse im Südwesten ausgeweiteten Modellprojekt des Landes ist er dabei.
„Meist geht es um Erkältungskrankheiten“, sagt der Allgemeinmediziner auch mit Blick auf die Patienten seiner eigenen Praxis. „Die Erfahrungen sind insgesamt gut, man kann sehr viel lösen.“ Er prophezeit: „Der große Durchbruch für die Telemedizin kommt jetzt durch das Coronavirus.“
Baden-Württemberg als Vorreiter der Telemedizin
Das Angebot für die JVA ist ein Beispiel von vielen und zeigt exemplarisch die Vorteile von Behandlungen aus der Ferne. „Auch bei kurzfristigen Ausfällen von Anstaltsärzten kann jederzeit auf die Tele-Ärzte zurückgegriffen werden, so dass die ärztliche Versorgung – auch in der Krise – gewährleistet ist“, lobt Justizminister Guido Wolf (CDU). Fast 2.300 Mal wurden Häftlinge im vergangenen Jahr fernbehandelt, in diesem Jahr geschah das Stand April schon mehr als 1.500 Mal, erklärt ein Ministeriumssprecher.
Überhaupt hat sich das Land laut Sozialministerium als Vorreiter in Sachen Telemedizin etabliert. So würden im Zuge der 2017 entwickelten Strategie „Digitalisierung in Medizin und Pflege“ inzwischen 24 Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund elf Millionen Euro gefördert. Schon seit 2016 – damals war Baden-Württemberg damit bundesweit Vorreiter – sind Projekte mit Fernbehandlung zwischen Arzt und Patient, die sich nicht kennen, erlaubt. Seit dem 1. Juni ist dies nach einer entsprechenden Änderung der Berufsordnung der Landesärztekammer auch außerhalb vom Modellprojekten gestattet.
Dafür haben sich inzwischen viele Mediziner gerüstet. „Man kann davon ausgehen, dass Anfang April über 3.000 der niedergelassenen Haus- und Kinderärzte die Genehmigung von den Krankenkassen für Videosprechstunden hatten“, erläutert der Präsident der Landesärztekammer, Wolfgang Miller. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sind es sogar rund 3.800. Das heiße zwar nicht, dass alle diese Möglichkeit bereits nutzten. Es zeige aber, dass die Mediziner vorbereitet seien. „Es ist keine Revolution, die jetzt stattfindet, aber eine stetige Entwicklung, die durch die Coronakrise Schwung bekommen hat“, sagt Miller.
Das stellte auch das Ärztebewertungsportal Jameda jüngst fest. Ende März vermeldete es im Vergleich zum Vormonat eine Steigerung um 1.000 Prozent bei der Nachfrage nach Videosprechstunden, die über das Portal vereinbart werden können. Die bundesweite Nachfrage habe sich im April auf hohem Niveau stabilisiert, erklärt eine Sprecherin.
Corona als Katalysator der Telemedizin
Auch Patienten klinken sich aktiv in Angebote ein: Rund 9.000 Nutzer verwenden nach KVBW-Angaben inzwischen Docdirekt: Per Videotelefonie können sich Patienten für medizinische Beratung an niedergelassene Ärzte wenden. „Es gibt natürlich einen deutlichen Peak bei den 20- bis 40-Jährigen. Aber man darf die älteren Patienten nicht unterschätzen, auch sie rufen an!“, betont eine Sprecherin. Zwar sind die Patientenzahlen relativ gesehen noch sehr gering, doch sei Docdirekt ein Baustein auf dem Weg zu breiterer Nutzung von Telemedizin, ergänzt Miller.
Auf Docdirekt baut laut Sozialministerium auch elektronische E-Rezept auf: Seit fast zwei Jahren wird das Modellprojekt „Gerda“ gefördert. „Gerda“ steht für „geschützter E-Rezeptdienst der Apotheken“ der Landesapothekerkammer und des Landesapothekerverbandes, kann bisher von gesetzlich Krankenversicherten in Stuttgart und im Landkreis Tuttlingen genutzt werden und soll möglichst bald landesweit ausgerollt werden, erläutert ein Ministeriumssprecher. „Das Modellprojekt findet bundesweit große Beachtung und kann dort als Blaupause genutzt werden.“
Die KVBW rechnet damit, dass Telemedizin durch Corona einen langfristigen Aufschwung erfahren wird. Seit der Krise integrierten deutlich mehr Ärzte die Telemedizin in den regulären Praxisbetrieb. „Es lassen sich schnell einfache Fragen klären und mögliche Unsicherheiten aus dem Feld räumen.“ Vor allem aber müssten nicht so viele Menschen in die Praxen kommen. „Das kann auch beispielsweise bei der nächsten Grippe- und Erkältungswelle von Vorteil sein.“
Dass die Telemedizin zwar ein enormer Zusatznutzen, der direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient aber grundsätzlich nicht zu ersetzen ist, da sind sich die Experten einig. Aber Medizin und Technik hätten sich nun mal weiterentwickelt, erklärt Oliver Erens von der Landesärztekammer. Auch in der Distanz könne man sich nahe kommen. dpa
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