David gegen Goliath vs. das Beste aus zwei Welten – Wie Unternehmen und Startups voneinander profitieren können
Das Beste aus der Welt der Startups und der Welt der traditionellen Unternehmen miteinander zu kombinieren – eine Herausforderung, mit der sich Unternehmen vermehrt auseinandersetzen müssen. Dabei stehen fünf Kernherausforderungen im Vordergrund, die in der DNA von klassischen Unternehmen fest verankert sind, die aber von Startups ganz anders gehandhabt werden. Für Unternehmen scheinen die Aufgaben auf den ersten Blick unüberwindlich, aber wer sich genauer anschaut, wie die großen Player mit den kleineren Schritt halten können, wird sehen, wie beide Welten miteinander verbunden werden können, um etwas völlig Neues zu schaffen.
Herausforderung 1: Der Big-Bang-Ansatz
„Wir können das Produkt erst auf den Markt bringen, wenn wir alle Funktionen implementiert haben!“
In dem sogenannten Big-Bang-Ansatz wird ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung erst nach langwieriger Entwicklung und zu einem klar definierten Zeitpunkt in Betrieb genommen – und wenn ein detailliertes Betriebsmodell vorhanden ist. Unternehmen wollen damit sicherstellen, dass das neue Produkt den internen Standards entspricht und dem, was ihre Kunden üblicherweise an Qualität und Ausarbeitung gewohnt sind. Andernfalls riskieren sie, die Marke zu verbrennen oder Kunden zu verlieren. Die „Auf alles vorbereitet sein“-Mentalität führt zur „Featuritis“, bei der lange Listen an Features gefordert werden, bevor das Produkt mit einem „Big Bang“ in den Markt eingeführt wird – was lange Entwicklungszeiten mit sich bringt. Viele Unternehmen halten sich aus Angst lange Zeit damit auf, etwas Perfektes, Vollständiges zu kreieren und entwickeln dabei völlig am Markt vorbei.
Startups hingegen bringen frühzeitig Alpha- und Betaversionen mit einem minimalen Feature-Set heraus, um das Risiko eines späteren Scheiterns zu reduzieren. Sie erreichen die Produkt- beziehungsweise Marktanpassung durch kontinuierliches Testen und Verbessern auf Basis tatsächlicher Tests mit echten Kunden – und nicht auf Basis von hypothetischen Annahmen und oft nicht aktuellem, internen Wissen. Der Fokus liegt auf der frühzeitigen Erzielung eines Product-Market-Fits und der Verbesserung des Produktkerns. Weniger wichtige Features stehen erst zu einem viel späteren Zeitpunkt auf der Agenda.
Herausforderung 2: Der Large-Truck-Ansatz
„Sie müssen mir heute im Detail sagen, welche Anforderungen Sie haben und welche Features Sie brauchen. Ansonsten können wir die API nicht in 9 Monaten liefern.“
Im Large-Truck-Ansatz definieren Unternehmen eine klare strategische Ausrichtung für mehr als drei Jahre, um alle ihre Interessensgruppen zufriedenzustellen. Sie müssen nicht nur wissen, was heute passiert, sondern auch, was in zwei Monaten auf dem Plan stehen wird. Sichtbar wird dies oft dadurch, dass Mitarbeiter schon heute sagen können, in welchem Meeting sie an einem Mittwochnachmittag in drei Monaten um 15 Uhr sitzen werden. Diese detaillierte, langfristige Vorausplanung ist sinnvoll, da durch die Strukturen großer Unternehmen eine Vielzahl kleinerer Einheiten miteinander koordiniert werden müssen, um am Ende auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Dabei weiß jede Einheit aber nur soviel, wie sie wissen muss. Anstatt gemeinsam das große Ziel vor Augen zu haben, fühlen sich die Mitarbeiter oftmals entkoppelt von den Unternehmenszielen – die typische Situation ohne Weitblick, die der Durchschnittsautofahrer kennt, wenn er hinter einem großen LKW auf der Autobahn fährt. Durch diese langfristige Ausrichtung kommen allerdings auch lange, rigide Planungszyklen zustande und eine Resistenz gegenüber Planänderungen ist die Folge. Kleine Änderungen an der einen Stelle führen im Zweifelsfall zu großen Instabilitäten an anderer Stelle. Und im schlimmsten Fall ist dann der angepeilte Plan nicht mehr zu erfüllen.
Selbstverständlich wird auch bei Startups geplant. Aber das Lösen der täglichen Herausforderungen steht im Vordergrund und dabei kann es vorkommen, dass man den Plan von einem Tag auf den anderen radikal ändern muss. Der schnelllebige Markt macht eine solche Flexibilität notwendig. Wer nicht agil genug ist, bleibt auf der Strecke. Die wichtigste Zutat ist das Attacker-Mindset des Teams, das dabei hilft, flexibel zu arbeiten und zu tun was nötig ist, um das Produkt zu einem Erfolg zu machen.
Herausforderung 3: Der Protecting-the-Kingdom-Irrtum
„Ich kann das nicht mit dir teilen. Das werde ich in einigen Wochen mit dem CEO besprechen.“
Diese Herausforderung befasst sich mit dem Schutz des eigenen Wissens gegen potenzielle Widersacher. Mitarbeiter in traditionellen Unternehmen schaffen sich oft eigene kleine Königreiche, die sie gegen andere Mitarbeiter verteidigen. So lauern selbst entwickelte Konzepte und gute Ideen in Schubladen, bis der richtige Moment kommt – in dem man die „once in a lifetime“-Chance hat, mit dem Chef des eigenen Chefs zu sprechen. Dann kann man endlich die eigene gute Idee vorbringen und selbst glänzen. Die so entstehende Silo-Mentalität führt allerdings zu einem minimalen Wissensaustausch und innovative Ideen verenden qualvoll und unbesprochen in Schubladen. Der vorherrschende mentale Zustand gleicht dem einer Paranoia und die verlorene „Schubladen-Innovationskraft“ schwächt am Ende das Unternehmen.
Startups leben vom Austausch und von den kleinen und großen Ideen, die auf täglicher Basis geteilt werden und die oftmals zu den entscheidenden Weichenstellungen führen können. Das Vorenthalten von Informationen ist genau dann nicht notwendig, wenn der Einzelne genug Wertschätzung erfährt, weil er seine Ideen auf täglicher Basis einbringen kann – und nicht auf die eine Gelegenheit warten muss, von der seine Karriere abhängt. Startups schaffen ein Klima, in dem jede Idee wertvoll genug ist, um besprochen und gehört zu werden – und wo der Originator aber auch der Mit-Kreator einer Idee wertgeschätzt wird. Der vorherrschende Geisteszustand gleicht einer Pronoia: einer Verschwörung des Helfens.
Herausforderung 4: Das Silverback-Problem
„So kannst du arbeiten? Ich zeig dir, wie das gemacht wird, denn ich leite eine Einheit mit 200 Mitarbeitern und unterstütze direkt den Vorstand.“
Das Silverback-Problem beschreibt einen Zustand, in dem der „Silberrücken“ aka der Chef Recht hat – unabhängig davon, ob er wirklich Recht hat oder nicht. Denn oft werden Hierarchien in Unternehmen mit Weisheit assoziiert und Weisheit wiederum mit Wahrheit. Je höher Menschen in einer Hierarchie stehen, desto mehr Weisheit haben sie folglich gesammelt und desto mehr scheint das, was sie als wahr erachten, auch wahr zu sein. Unterwirft man sich dieser Logik nicht und teilt womöglich nicht die Meinung des Vorgesetzten, hat womöglich eine unbequeme eigene Meinung, so kann man bei der nächsten Beförderungsrunde schnell leer ausgehen. Um diese Struktur immer wieder zu verstärken, können Silberrücken-Situationen entstehen, in denen der Vorgesetzte gerne auch mal demonstriert, wer hier eigentlich der Chef ist.
In Startups wird die Realität täglich herausgefordert und hinterfragt. Dabei entsteht Wahrheit durch das Stellen von Fragen und den kollaborativen Diskurs, wodurch das eine Mal das Produktmanagement die Richtung weist und das nächste Mal das nutzerzentrische Design ausschlaggebend ist. Wichtig ist schließlich ein Produkt zu bauen, das man erfolgreich auf den Markt bringen kann – und nicht, wer am Ende Recht hatte. Der Unternehmergeist besticht dadurch, die beste Lösung für das Produkt finden zu wollen und nicht der ältesten, weisesten oder lautesten Stimme automatisch zu folgen.
Herausforderung 5: Die Zero-Tolerance-Politik
„Ich bin nicht verantwortlich für die Abschaltung.“ – „Aber Ihre Maschine stand still!!!“ – „Es ist nicht meine Schuld! Ich habe genau das getan, was in meiner Stellenbeschreibung beschrieben ist.“
In vielen Unternehmen werden klare Stellenbeschreibungen und damit verbundene Aufgaben mittels strenger Regeln – null Toleranz – durchgesetzt, die jeder befolgen muss. Wer zu stark in fremden Gewässern fischt, macht sich schnell unbeliebt: Was außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs liegt, wird von Mitarbeitern üblicherweise nicht bearbeitet, schließlich will man nicht in die Silos der anderen eindringen oder gar jemandem auf die Füße treten. In einer Kultur, in der klassische tayloristische Strukturen herrschen, macht es wenig Sinn für Mitarbeiter, die Komfortzone zu verlassen. Im Gegenteil: Es ist vielmehr riskant für das gesamte Unternehmen, wenn jeder das macht, was er möchte und an Dingen arbeitet, die vielleicht gerade wichtig sind, aber für die eine andere Einheit im Unternehmen verantwortlich ist.
In Startups wird Forschergeist erwartet und eine horizont-erweiternde Neugier, sich auch mit Fragestellungen und Problemen außerhalb der eigenen Gewässer zu beschäftigen. Nicht umsonst bringen viele den Blick über den Tellerrand mit, den sie sich auf Grund ihres „bunten Lebenslaufes“ hart erarbeitet haben. Startup ist, wenn der Engineer den derzeitigen Go-to-Market-Plan hinterfragt oder der Stratege im Design Review eine super Idee zur einer Feature-Visualisierung einbringt. Eine „fail-early“- und „psychological safety“-Kultur wird unterstützt, die es leichtmacht, in fremden Gewässern eigene Ideen einzubringen, weil am Ende nur eines zählt: das beste Produkt zu kreieren.
Fazit
Traditionelle Unternehmen haben mit vielen in ihrer DNA verankerten Herausforderungen zu kämpfen, die sie langsamer und weniger flexibel machen. Nichtsdestotrotz haben sie eine Vielzahl an Vorteilen zu verbuchen, um die sie jedes Startup beneidet: Zum einen profitieren sie von der Stärke ihrer Marke und ihres Rufs. Langfristige Kundenbeziehungen bieten ihnen eine tiefe Marktkenntnis und einen unvergleichlichen Zugang zu Kunden. Jedoch noch viel wichtiger wiegt der Fakt, dass sie am Ende einfach das notwendige Kapital besitzen, um innovative Ideen finanzkräftig zu unterstützen – ohne zeitaufwändige Investorensuche. Verbindet man nun diese einzigartigen Vorteile mit einem Team, das die Startup-DNA (und eben nicht die Unternehmens-DNA) lebt, kann aus einer anfänglichen, kleinen Idee am Ende ein wirkungsvolles und bahnbrechendes Venture werden.