Dieter Kempf im Changerider: „Dieser Lockdown war richtig“

Seit einigen Monaten hält Covid-19 die ganze Welt in Atem und hat uns alle in einen Ausnahmezustand versetzt. Mit Blick auf die Wirtschaft warnte bereits das Wirtschaftsministerium vor der schlimmsten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie steht es also derzeit konkret um die deutsche Wirtschaft? Welche Folgen bringt der Lockdown mit sich, waren die Maßnahmen der Politik richtig gewählt und wie können Unternehmen und Politik die schlimmsten Folgen der Corona-Pandemie möglicherweise verhindern? Damit befasst sich auch Dieter Kempf als Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) ganz intensiv und spricht darüber mit Philipp Depiereux im Changerider. Nicht wie sonst während einer Fahrt im Tesla, sondern der aktuellen Lage angemessen: virtuell.
„Die Wirtschaft verbrennt im Moment jede Woche einen zweistelligen Milliardenbetrag“
Bei dem letzten Gespräch mit Kempf sah die Prognose für das Wirtschaftsjahr 2020 noch ganz anders aus. Damals ging Kempf von einem leichten Minus aus, aber „vor fünf Monaten konnten wir alle nicht damit rechnen, dass von der Seite ein Virus reingrätscht, das wirklich alles verändert, sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich“, sagt er heute. Abhängig davon, wie schnell die Aufhebungen des Lockdowns ihre Wirkung zeigen, wird man mit einem deutlichen Minus von etwa sechs Prozent rechnen müssen: „Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass wir in der Wirtschaft im Moment jede Woche einen zweistelligen Milliardenbetrag verbrennen“. Für Kempf ist daher sehr wichtig, dass das öffentliche Leben „in einem cleveren Ausbalancieren gesundheitspolitischer Aspekte, aber auch wirtschaftlicher Aspekte langsam wieder nach oben gefahren wird.“
Waren denn die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise richtig gewählt? Der Präsident des BDI hält die Entscheidung der Bundesregierung für nachvollziehbar: „Was man wirklich anerkennen muss, ist, dass dieses entschlossene Handeln beim Lockdown uns tatsächlich, auch im internationalen Vergleich, zu dem Land gemacht hat, das das systemische Risiko, dass unser Gesundheitssystem die Erkrankungen nicht bewältigen kann, nahezu perfekt gemeistert hat. Da muss man der Politik ein klares Lob zollen. Dieser Lockdown war richtig, auch wenn er wehgetan hat.“ Ein deutlicher Kritikpunkt aus seiner Sicht ist aber, dass unsere Bundesregierung noch immer über eine sehr schlechte Datenlage über die Gesamtsituation verfüge und unsere Testkapazitäten nicht ausreichend genutzt werden. „Dass wir die Datenlage nicht in den Griff bekommen haben, ich sage das ganz deutlich, ist einer Nation wie unserer nicht würdig.“
„Wir haben uns an der Grundidee eines vereinten Europas versündigt“
Eine weitere Problematik sieht Kempf in dem Vorgehen der Grenzschließungen innerhalb Deutschlands und Europas: „So sehr ich verstehen kann, dass der ein oder andere Regierungschef als erstes Mittel zur Grenzschließung gegriffen hat, so sehr bin ich der tiefen Überzeugung, dass wir uns damit an der Grundidee eines vereinten Europas ziemlich versündigt haben. Den Preis für diese Sünde werden wir noch lange bezahlen müssen.“ Aus seiner Sicht werden Länder, die das Infektionsgeschehen schlechter beherrscht haben und unter noch größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten leiden, uns mit einer „Mischung aus Eifersucht bis hin zu Unverständnis wegen ausbleibender Hilfe“ entgegentreten. Die Befürchtung ist, dass viel unserer vor der Europaparlamentswahl neu geschaffenen pro-europäischen Stimmung wieder verloren gegangen ist. Kempf sieht es daher als notwendig, an Grenzöffnungen zu arbeiten und zu erkennen, dass das Infektionsgeschehen weniger in bestimmten Ländern, sondern mehr an bestimmten Brennpunkten eine große Gefahr darstellt.
Nach den Erfahrungen der letzten Monate ist für Kempf jetzt vor allem wichtig, sich wieder Mut zu machen: „Wir müssen uns deutlich machen, dass es eine Perspektive gibt, wenn wir diese entschlossen angreifen.“
„Versuchen Sie sich zurückzuhalten, den starken Staat darzustellen, der uns in allen Segmenten und allen Bereichen lenken will.“
Denn neben vielen Schwierigkeiten und zahlreichen Veränderungen bringt die Coronakrise auch Positives mit sich. „Wir haben immer davon gesprochen, dass Deutschland mutiger sein muss, mehr Dinge ausprobiert werden sollen, dass man auch mal Scheitern darf und wir agiler und schneller handeln müssen – und auf einmal sehen wir, dass das alles innerhalb kürzester Zeit funktionieren kann“, erinnert sich Philipp Depiereux an die letzte Changerider-Fahrt mit Kempf im vergangenen Jahr. Auch Kempf sieht die Entwicklungen durch Covid-19 als Chance für einen Digitalisierungsschub: „Ich hoffe, dass dieser dann auch in allen Bereichen stattfinden wird. Denn es gibt viele stationäre Geschäfte, bei denen viel mehr möglich gewesen wäre, wenn sie sich frühzeitig auf digitale Plattformen begeben hätten“, so Kempf. „Am Ende hoffe ich aber auch darauf, dass wir eine vernünftige Kombination hinbekommen: Wir sollten uns den technischen Möglichkeiten dort bedienen, wo es Vorteile bringt, wo es situativ am besten ist, dabei aber den Vorteil einer direkten Kommunikation, des Beisammenseins nicht außer Acht lassen. Denn am Ende sind wir immer noch soziale Wesen.“
Sein Appell am Ende dieser virtuellen Changerider-Fahrt richtet sich an die Wirtschaft, unsere Gesundheit natürlich an erste Stelle zu setzen, aber jetzt auch die Chancen zu erkennen und diese Chancen auch richtig zu nutzen. Sein zweiter Appell richtet sich an die Politik: „Versuchen Sie sich zurückzuhalten, den starken Staat darzustellen, der uns in allen Segmenten und allen Bereichen lenken will. Das wäre nicht das Modell, das ich mir für Deutschland, für dieses freie Europa vorstelle.“
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