Ende einer Ära: Was das Ende des Otto-Kataloges über unsere Gesellschaft aussagt
Der Versandhauskatalog ist ein Symbol für das Wirtschaftswunder und der Otto-Katalog ein Symbol dafür. Nach fast 70 Jahren ist jetzt der letzte, große deutsche Versandhauskatalog in die Haushalte unterwegs. Neckermann und Quelle sind schon längst vergangen. Nun stellt auch Otto den dicken Hauptkatalog ein, die Kunden wollen das Ungetüm nicht mehr. Einst bestellte mehr als die Hälfte der Bundesbürger Waren aus den Katalogen, heute will der Kunde online shoppen. Vielleicht ist das auch ganz gut so, vielleicht ist das ein Zeichen, dass manche Prioritäten neu geordnet werden.
Der Versandhaus-Katalog: Rund 70 Jahre Konsumgeschichte
Das Aufkommen der Versandhauskataloge weckte die selben Sitten- und Moralwächter, wie heute der Siegeszug des Onlinehandels. Hans Magnus Enzensberger schrieb damals: „Das deutsche Proletariat und das deutsche Kleinbürgertum lebt heute, 1960, in einem Zustand, der der Idiotie näher ist denn je zuvor.“ Und verdammte die Kataloge als Zeichen der Verdummung durch Konsum und Materialismus. Dazu passend galt auch in den ersten Jahren, dass es „unfein“ sei, im Versandhauskatalog zu bestellen. Die feine Gesellschaft rümpfte die Nase über den Pöbel, der sich Schuhe und Textilien aus dem Katalog bestellte. Den Ruf des Durchlauferhitzers für die Volks- und Massenware streifte der Katalog erst ab, als die Waren exklusiver wurden. Als Delikatessen und edler Schmuck in den 60er-Jahren Einzug hielt, hatte der Katalog auch die „oberen Zehntausend“ für sich eingenommen. Natürlich nur für exklusive Waren, versteht sich. Das Beinkleid kaufte der Herr von Welt weiterhin im Mode-Fachgeschäft. Oder heimlich bei Otto.
Im Osten war der Katalog ein begehrtes Objekt, schier unfassbar schien die reiche Fülle an Waren und Angeboten für die DDR-Bevölkerung, die sich schon für Alltagswaren in die Schlange einreihen musste. Trotz des Umstandes, dass keine Bestellungen und Lieferungen in den Osten möglich waren, nutzen die DDR-Bürger den Katalog nicht zur reinen Belustigung. Moderne Kleider wurden beispielsweise auch mal nach einem Katalogmuster nachgenäht. Die DDR-Führung versuchte sich selbst an dem Versandhandelsgeschäft. Die meisten Waren kamen aber erst ein bis zwei Jahre nach Verfügbarkeit im Westen in den Centrums-Ostkatalog – und waren dann des öfteren schon vergriffen. Schließlich wurden nicht nur die Waren, sondern auch das Papier zu knapp und 1976 wurde er eingestellt.
Vor dem damaligen Versandhaus Otto startete schon 1927 das mittlerweile geschlossene Versandhaus Quelle. Otto dürfte aber immerhin noch das größte aktive, alte Versandhaus sein. Auch wenn der Handelskonzern Otto heute mehr Onlinehändler als Versandhaus ist.
Es ist schwer zu verifizieren, wo und wann der erste Versandhauskatalog in Deutschland auftauchte. Der heute noch aktive Kakteen-Versand Haage lieferte schon 1824 die ersten Kataloge aus, auch wenn das eher Versandlisten als Kataloge waren. Auch das erste Versandhaus dürfte älter sein, als heute oft angenommen wird: Das „Adreßbuch und Warenverzeichnis der chemischen Industrie des Deutschen Reichs“ von 1888 führt beispielsweise ein medizinisches Versandhaus namens Dr. Albert Bernard, Nachfolger, das schon 1658 gegründet wurde.
Den ersten bebilderten Versandhauskatalog nimmt in Deutschland der heute noch existierende sächsische Hoflieferanten Mey & Edlich für sich in Anspruch. Der Katalog wurde schon ab 1886 versandt. Heute handelt Mey & Edlich unter der Marke Walbusch.
Der Otto-Katalog damals und heute
Der Otto-Katalog überlebt seinen Ost-Bruder bis zum diesjährigen Weihnachtsfest. Danach ist auch er zu Recht Geschichte, denn 95 Prozent der Otto-Kunden bestellen mittlerweile online. 1950 verschickte Otto den ersten „Katalog“ der Unternehmensgeschichte: Eine mit Kordel handgebundene Sammlung von aufgeklebten Fotos auf Leinenkarton, insgesamt 28 Paar Schuhe auf 14 Seiten.
1952 hatte übrigens der Beate-Uhse-Katalog seinen ersten Auftritt. Er trug die berühmte Aufschrift: „Stimmt in unserer Ehe alles?“ und erzeugte einen enormen Aufruhr. 1953 folgte dann der weniger kontroverse erste große Otto-Katalog. Mit deutlich mehr Produkten als die Ausgabe von 1950 bot der Winter-Katalog eine vergleichsweise enorme Auswahl. Während im Radio „Vaya con dios“ von Les Paul und Mary Ford dudelte, blätterte sich der Otto-Kunde durch Petticoats, Kostüme im Pariser Chic von Dior und Kleider und Röcke in weit schwingender Form. Während die Intellektuellen über Jean-Paul Sartres „Das Sein und das Nichts“ diskutierten, folgten die Fashion-Victims von 1953 der Mode, die Brigitte Bardot oder der Rockabilly-Trend vorgaben. Aber auch Strampelanzüge und Lätzchen waren im Katalog zu finden.
Gedruckte Kataloge wird es weiter geben, nur kleiner
Die Ära des dicken, hunderte Seiten starken Versandhauskatalogs ist vorüber. Weder die Otto-Kundschaft möchte ihn, noch dürften Umweltschützer dem Papiermonster eine Träne hinterher weinen. Der gigantischen Holzverschwendung zum reinen Konsumzweck lohnt es sich nicht hinterherzutrauern. Es ist gut, dass das Geschichte ist.
Ganz aussterben wird der Katalog vorerst nicht. Viele Händler, auch Unternehmen der Otto Gruppe, drucken immer noch Saison-Kataloge zu speziellen Sortimenten. Das ist keineswegs von vorgestern, sondern wirkt immer noch als absatzfördernde Maßnahme. Dies muss dann aber sehr sorgfältig auf den Zeitpunkt abgestimmt sein: Amazon versendet beispielsweise seit einigen Jahren Weihnachtskataloge mit beliebten Spielzeugen.
Warenpräsentation als Spiegel der Zeit
Auch wenn Enzensbergers Tirade aus den 60ern heute für viele schwer nachzuvollziehen sein wird, ist das Urteil des streitbaren Schriftstellers heute noch gültig. Er betrachtete den damaligen Neckermann-Katalog und wird von der Faz mit einem vernichtenden Urteil zitiert: Enzensberger schrieb, es ließen sich durch diesen Katalog „genauere und fruchtbarere Schlüsse auf unsere Zustände ziehen als aus unserer ganzen erzählenden Literatur.“
Die polemische Analyse Enzensbergers verurteilt Sprache, Präsentation und Konsumterror gleichermaßen. Die Sprache in den heutigen Katalogen ist oft schöner und lesbarer, denn meist handelt es sich um Magazin-artige Veröffentlichungen und nicht mehr um die stupiden Produktbild-Sammlungen der Anfangszeit. Aber wie sehen die digitalen Warenpräsentationen und Produkttexte heute oft aus? Nüchtern, holprig-stolpernd und technokratisch hohl. Diktiert von der seelenlosen Herrschaft eines Algorithmus, nicht mehr vom sehenden Auge des Kunden. Wir schreiben für Crawler, Mechanismen und Algorithmen, nicht mehr für Menschen. Selbst unser Suchverhalten hat sich dieser technokratischen Evolution untergeordnet. Oder sucht jemand hier nach einem „schönen, bequemen Pullover aus Merino-Wolle in azurblau, vielleicht einen Touch mehr in Richtung navyblau.“ Nein, der Einkaufslyriker von heute wirft dem Algorithmus weltgewandt ein „Pullover, Wolle.“ hin. Und aktiviert vielleicht noch einen Farbfilter.
Eventuell sollten wir manches Mal an die schillernde Katalogwelt, an die reichhaltig und üppig inszenierte Bildsprache zurückdenken und mehr Herzblut in die Optik und mehr Liebe zur Sprache in die Warenpräsentation legen.
Und vielleicht wird es auch an der Zeit, das Märchen vom Onlinehandel, der die Innenstädte zerstört, neu zu erzählen.
Enzensbergers Konsumkritik lässt sich auf die Innenstädte übertragen, deren Hauptzweck in den vergangenen Jahrzehnten der Konsum war. Die Entwicklung hin zum Onlinehandel ist nicht direkt eine Abkehr vom Konsum, aber sie ordnet doch den Konsum einer neuen Priorität unter.
Das Einkaufen ist nebensächlicher geworden, aus den jungen Generationen verabreden sich nur noch wenige zum exzessiven Einkaufen am Samstag. Einkaufen wird immer weniger zur Freizeitbeschäftigung und mehr zur Beschaffung. Vielleicht brauchen wir einfach keine Innenstadt mehr, die dem Konsum gewidmet ist, vielleicht sind wir dem Versandhaus-Katalog und der Shopping-Meile langsam einfach entwachsen. Vielleicht verbringen wir unsere Zeit ja lieber mit Menschen, als mit Läden. Und gewinnen durch die Digitalisierung des Handels ein kleines Stück Menschlichkeit zurück.
Wenn jetzt noch dieser dicke Wälzer „Gelbe Seiten“ eingestellt würde…
Der Katalog ist tot – das lese ich seit 20 Jahren. Genauso wie die Mär vom papierlosen Büro…Fakt ist, dass beispielsweise für die Tourismusbranche mehr Kataloge denn je gedruckt werden. Der Grund? Sie funktionieren.
Einfach aufklappen, Urlaubsziel suchen, „Öhrchen machen“ und das gewünschte Ziel dem Partner oder der Familie zeigen. Bis heute funktioniert das und wird die kommenden 10 Jahre weiterhin so funktionieren.
Inzwischen kommen die „schönen inszenierten“ Fotos von den Usern selbst, Bei H&M zum Beispiel haben Kunden die Möglichkeit die Outfits in Aktion zu zeigen. Und dass es nur nicht nur um die reine Produktdarstellung geht zeigen auch die „Get the Look“ oder Lookbook Rubriken. Man kann im übrigen in jedem Bild Farben fälschen, egal ob einzeln oder im Kontext. ;)
Es war abzusehen, dass der dicke Wälzer geht. Die reinen Onlinemarken graben den klassischen Versandhäusern das Wasser ab, wie man an Quelle und Neckermann gesehen hat. Otto hat sich zumindest davor bewahrt.
Da bin ich mal gespannt ob es der richtige Schritt ist. Als EX-Freelancer von Neckermann kann ich nur sagen dass das Einstampfen des Kataloges zu Umsatzeinbrüchen führte. Der Grund: Viele Kunden haben im Katalog ausgesucht und dann online bestellt.
Hoffen wir mal dass Otto den Nutzerfluss besser analysiert hat.