Von der Startbahn ins All: ESA entwickelt horizontales Raumfahrzeug als SpaceX-Alternative

Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat ein neues Forschungsprogramm namens Invictus gestartet. Das Ziel ist die Entwicklung eines unbemannten, wiederverwendbaren Hyperschall-Fluggeräts, das bis 2031 fliegen soll.
Stellt euch vor, ein Raumfahrzeug startet horizontal von einer gewöhnlichen Startbahn, beschleunigt auf mehr als die fünffache Schallgeschwindigkeit, erfüllt seine Mission im Orbit und landet anschließend wieder wie ein Flugzeug am selben Ort. Genau diese Vision eines „Single Stage to Orbit“ (SSTO)-Systems, also eines Einstufen-Raumfahrzeugs, verfolgt die ESA mit Invictus. Das Konsortium für die Entwicklung wird von der britischen Ingenieurberatung Frazer-Nash Consultancy aus Dorking angeführt.
Vom Problem zur Lösung: Der Trick mit der Kälte
Die größte technische Hürde beim Hyperschallflug ist die extreme Hitze. Bei Geschwindigkeiten jenseits von Mach 5 (über 6.000 km/h) erhitzt die Luftreibung die einströmende Luft auf über 1.000 Grad Celsius, was konventionelle Triebwerke schmelzen lassen würde.
Die Lösung für dieses Problem liegt in einer speziellen Vorkühler-Technologie (Pre-Cooler). Dieses Bauteil sitzt vor dem eigentlichen Triebwerk und kühlt die heiße Luft in Sekundenbruchteilen auf Minusgrade herunter. Erst dann wird die Luft verdichtet und mit Wasserstoff als Treibstoff verbrannt. Dies ermöglicht den Betrieb eines luftatmenden Triebwerks bei Hyperschallgeschwindigkeit.
Phönix aus der Asche: Know-how von Reaction Engines gerettet
Diese Schlüsseltechnologie ist keine komplette Neuerfindung. Sie wurde über Jahrzehnte von der britischen Firma Reaction Engines Ltd. aus Abingdon entwickelt. Das Unternehmen arbeitete an eben solchen luftatmenden Antriebssystemen, musste jedoch im vergangenen Jahr Insolvenz anmelden.
Für das Invictus-Programm konnte das Konsortium um Frazer-Nash entscheidendes Personal und damit das wertvolle Know-how der ehemaligen Reaction-Engines-Mitarbeiter:innen gewinnen. So wird eine potenziell revolutionäre Technologie vor dem Verschwinden bewahrt und in einem neuen Rahmen weiterentwickelt, wie Frazer-Nash Consultancy bestätigt.
Schau dir die schönsten Aufnahmen des James-Webb-Teleskops in unserer Bildergalerie an
Ein ambitionierter Plan mit überschaubarem Startbudget
Die ESA selbst bezeichnet Invictus als „Europas neue Hyperschall-Testplattform“, die einen wichtigen Schritt für die strategische Autonomie Europas im Weltraum darstellt. Sie betont dabei auch das Potenzial für „Dual-Use“-Anwendungen, also eine zivile wie militärische Nutzung – ein Aspekt, der in der weiteren Entwicklung Beachtung finden wird.
Bei aller Ambition ist es jedoch wichtig, die aktuellen Rahmenbedingungen einzuordnen. In der ersten Phase investiert die ESA 7 Millionen Euro. Dieses Geld ist für eine 12-monatige Konzeptstudie vorgesehen, wie die ESA mitteilt. Es ist der erste, kleine Schritt auf einem langen und kapitalintensiven Weg zum flugfähigen Demonstrator im Jahr 2031.
Europa ist mit diesem Vorhaben nicht allein. In den USA arbeitet Sierra Space aus Louisville im US-Bundesstaat Colorado seit Jahren am Raumgleiter „Dream Chaser“, der bald zur Internationalen Raumstation ISS fliegen soll. Zudem betreibt die U.S. Space Force den geheimen X-37B, und auch China hat mit Shenlong bereits ein wiederverwendbares Experimentalflugzeug im Orbit getestet, wie Jalopnik zusammenfasst. Das Rennen um die nächste Generation der Raumfahrzeuge ist also bereits in vollem Gange.
Und was genau wären da die Vorteile gegenüber dem Aurora SSTO-System (von Polaris Raumflugzeuge aus Bremen), das vor einem Jahr von der Bundeswehr in Auftrag gegeben wurde? Letzteres soll, dank Aerospike-Triebwerk, Mach 10 erreichen und eine orbitale Nutzlast von mindestens einer Tonne (suborbital mehrere Tonnen) haben. Geplanter Erstflug 2027.
Wenn sich das ESA Konzept nicht bspw. durch eine deutlich höhere Nutzlast oder geringere Betriebskosten unterscheidet, sehe ich den Sinn einer separatem Neuentwicklung nicht.