IT-Vorbild Estland: Was wir von der baltischen Republik lernen können

„Ich habe den besten Job der Welt, ich darf den ganzen Tag mit Lego spielen.“ Rasmus Kits grinst zufrieden. Der Mann mit dem buntgestreiften Pullover verschränkt die Arme und blickt von seinem Schreibtisch aus auf das Treiben vor sich: Acht- und Neunjährige wuseln um die Tische herum, greifen in die Kästchen mit den Legosteinen, blicken auf ihre iPads, bauen die Steine an und holen sich neue.
Was nach Spielgruppe klingt, ist tatsächlich Unterricht. Kits ist Lehrer an der Tallinna XXI. Kool, der größten Schule der estnischen Hauptstadt, und lehrt Robotik in der dritten Klasse. Mit den Legos fertigen die Kinder eigene kleine Roboter. „Für sie ist das nur ein Spiel“, sagt der Lehrer mit Blick auf seine Schüler. Aber nebenbei lernen sie programmieren. Und zwar nicht textbasiertes, sondern graphisches: Auf den Tablets sehen sie in Bildern, wie sie den Roboter bauen müssen, damit er funktioniert.
Estland: Digitale Früherziehung
Dass schon Schüler mit technischen Geräten experimentieren, das ist in Estland Alltag. Die baltische Republik setzt auf digitale Früherziehung: Kinder sollen ein Verständnis davon erlangen, worauf sie im Netz achten müssen oder wie eine App funktioniert. Das Motto: Digital first. Diese Idee deutet sich nicht nur in der Bildungspolitik an, sie zeigt sich in Estland überall.

Robotik-Klasse in Estland: Die Schüler der dritten Klasse lernen grafisches Programmieren mit Hilfe von Lego-Robotern. (Foto: t3n)
Der baltische Staat bietet eine Wlan-Abdeckung von 99 Prozent, die Verwaltung funktioniert ohne Papier, die Esten können mit ihrer ID-Karte alle Behördengänge online erledigen. Sogar Ausländer können dank der E-Residency heute digitale Staatsbürger in Estland werden und die bürokratischen Vorteile nutzen. Mit diesem Ansatz hat sich Estland einen Namen als digitaler Vorreiter gemacht – in ganz Europa. Nicht schlecht für ein Land mit der Einwohnerzahl von München.
Wer herausfinden will, warum der baltische Staat die großen Nationen abhängt, der muss bei Robert Krimmer vorbeischauen. Der Österreicher sitzt in einem Büro im Süden Tallinns, in einem Regal stehen Bücher und mehrere Packungen Manner, auf dem Schreibtisch der Desktop und stapelweise Papier. Krimmer arbeitet als Professor für E-Governance an der Technischen Universität in Tallinn, er beschäftigt sich hauptberuflich mit der Digitalisierung des Landes. „In Estland geht es nicht darum, Dinge zu verunmöglichen, wie das eben der deutsche Ansatz ist“, sagt der Wissenschaftler. Der baltische Staat probiert erst einmal aus und versucht sich im Digitalen. Erst wenn etwas nicht so funktioniert wie geplant, handelt er.
Ein Beispiel dafür ist die elektronische ID-Karte. Mit der können die Esten alle bürokratischen Vorgänge online abwickeln: Sie können ihre Steuererklärung digital einreichen, den Führerschein verlängern, online wählen, sogar Verträge untereinander abschließen. Durch die digitale Identität soll Betrug so gut wie unmöglich sein. Um die Vorteile davon zu verdeutlichen, bemühen die Esten gerne die Krankengeschichten des estnischen Politikers Edgar Savisaar und des Rennfahrers Michael Schumacher.

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Savisaar kam 2015 ins Krankenhaus, etliche Ärzte schauten sich seine Krankenakte an – obwohl sie nicht dazu befugt waren. Dank der ID-Karte ließ sich nachvollziehen, wer unerlaubterweise Einblick genommen hatte, die entsprechenden Ärzte wurden bestraft. Als dagegen die Krankenakte von Schumacher an die Öffentlichkeit gelangte, ließ sich der Schuldige nicht finden. Was die Esten damit ausdrücken wollen: „Nur weil etwas ausschließlich auf Papier verfügbar ist, heißt das nicht, dass der Datenmissbrauch nicht trotzdem passiert“, erklärt Krimmer.
Estland und die Probleme mit der ID-Karte
Dass es auch Nachteile der völligen Digitalisierung gibt, wurde ausgerechnet kurz vor der Regionalwahl deutlich. Ein Sicherheitsleck in der ID-Karte machte weltweit Schlagzeilen. Mit der Lücke könnten Hacker theoretisch an die Daten von 760.000 Personen gelangen. Die estnischen Behörden beruhigten: Noch sei kein Fall von Datenklau bekannt. Als im November immer noch keine Lösung gefunden war, fror die Regierung die Onlinefunktion der ID-Karten vorläufig ein.
„Wer IT-Anwendungen aber ausprobiert, der sieht oft den Nutzen.“
Trotzdem halten die Esten an ihrem System fest. Robert Krimmer hat dafür eine einfache Begründung: Wer immer nur über IT-Anwendungen spreche, sie aber nicht ausprobiere, denke immer darüber nach, was alles schief gehen können. „Wer IT-Anwendungen aber ausprobiert, der sieht oft den Nutzen“, so der Professor. So ist es auch in Estland: Zwar sind die ID-Karten anfällig, aber sie sind eben im Alltag auch sehr hilfreich.
Das Prinzip dahinter lernen auch die Kinder in der Robotik-Klasse von Rasmus Kits: Learning by doing. Ein Prinzip, das sich auch andere Länder von Estland abgucken sollten.
Warum es in Estland auch Gründer einfacher haben, was es mit den Estcoins auf sich hat und wie die Digitalisierung in dem baltischen Staat mit Mozart und Österreich zusammenhängt, das erklären wir ausführlich in der t3n 50. Zur ganzen Geschichte und zum Heft geht es hier.
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