Wirst du gekodakt oder bist du schon agil?
„Uber yourself, before you get Kodak’ed!“ Dieses Motto repräsentiert die Essenz der digitalen Revolution und den Zeitgeist des Technologiedarwinismus. Wer heute den Trend von morgen verpasst, ist dem Untergang geweiht. Wie ein Unternehmen dem Schicksal von Motorola, Polaroid, Kodak oder Nokia entgehen kann? Myriaden von Beratern und Agilitätsgurus behaupten zu wissen, wie das funktioniert. Aber können diese selbsternannten Experten ihre Thesen auch belegen? Meiner Erfahrung nach können sie das nicht. Die Scrumifizierung oder Spotifyizierung von Organisationen klingt verlockend. All das führt jedoch zu trügerischen Auswirkungen und zu unübersichtlichen, komplizierten Kooperationsformen. Die Manager von Spotify quittieren den Versuch, ihre Organisationsform zu kopieren, mit folgender Bemerkung: Ihr Modell sei nur für neue Startups in Schweden geeignet, die in der Musikbranche tätig seien. Außerdem müsse man dafür unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung haben.
Zauberformel Kybernetik
Was zeichnet aber ein wirklich agiles Unternehmen aus? Woran erkennt man es? Unternehmen müssen sich an ihre Umwelt anpassen können. Nur wer ein überlebensfähiges System als Unternehmensorganisation schafft, wird im Markt bestehen. Das Unternehmen muss Organisationsstruktur und Kollaborationsform schnellstmöglich an seine komplexe, also dynamische Umwelt anpassen können. Das ist das vornehmliche Ziel von Agilität aus der Sicht eines Unternehmens.
Michael Pfiffner, ein Schweizer Manager mit jahrzehntelanger Erfahrung als Berater, hat eine quantitative Analyse von 135 Unternehmen durchgeführt. Diese befanden sich entweder bereits in einer Krisensituation (reaktives Vorgehen), oder sie sind erst gar nicht in eine derartige Schieflage geraten (proaktives Vorgehen). Als Grundlage seiner Analyse nutze Pfiffner das Viable System Model, das von dem Kybernetiker und Unternehmer Stafford Beer in den 70er Jahren entwickelt wurde.
135 können nicht irren
Die befragten Unternehmen haben laut eigenen Angaben zu ca. 55 Prozent Krisen erlebt. 45 Prozent gaben an, keiner Krisensituation ausgesetzt gewesen zu sein. Sie hätten jede derart kritische Entwicklung rechtzeitig identifiziert und ihr vorgebeugt.
Die Zusammensetzung der Unternehmen war interdisziplinär gewählt. Es gab Teilnehmer aus der Fertigungsindustrie, verschiedenen Dienstleistungsbranchen sowie Regierungseinrichtungen und Non-profit-Organisationen.
Anhand eines umfassenden Fragenkataloges wurden 31 Kriterien analysiert. Diese machen nachvollziehbar und messbar, ob ein Unternehmen lebensfähig ist. Es geht darum, welchen Umfang und welche Qualität die Unternehmensorganisation hat. Wie funktionieren die Kooperation und Kommunikation der verschiedensten Organisationsbereiche? Spielen Management, Geschäftsführung/Vorstände, Mitarbeiter, Team, Abteilungen etc. gut zusammen? Wie handlungs- und überlebensfähig ist das Zusammenspiel innerhalb des Unternehmens?
Das Ergebnis der Analyse hat, hier stark vereinfacht ausgedrückt, Folgendes ergeben: Die handlungs-, reaktions- und entscheidungsfähigeren Unternehmen praktizieren die folgenden Dimensionen ihrer Organisation besser als andere. Deshalb überstehen sie aktuelle oder potentielle Krisensituationen. Bei großer Distanz zwischen Problemstellung und Entscheidungsinstanz werden solche Probleme nicht erfolgreich gelöst.
7 Dimensionen wirksamer Unternehmensagilität
1. Entscheiden und Handeln, wo sich Wissen und Kompetenz befinden.
Die Organisationsstruktur besteht aus eigenständig und autonom funktionsfähigen Einheiten. Diese sollten in ihrem Aufgaben- und Verantwortungsbereich Entscheidungsautorität besitzen – in allen Belangen. Jedwede Aktivität innerhalb und außerhalb des Unternehmens wird übergreifend und transparent koordiniert. Sei es gegenüber den Kunden, den Wettbewerbern oder Kooperationspartnern. Ganz nach dem Motto: „Die Linke weiß stets, was die Rechte tut.“
2. Ressourcen bekommt, wer Leistung erbringt.
Ein operatives Management stellt die Bereitstellung benötigter Ressourcen sicher. Kontinuierlich und übergreifend misst es den Zustand des Unternehmens: Wie steht es um Produktivität und Effizienz? Dabei ist das Management selbst Bestandteil dieser Messung. Es findet eine kontinuierliche, qualitätsgesicherte und interdisziplinäre Kommunikation statt. Daten zu allen Belangen interner und externer Fragestellungen werden bereitgestellt. So können Entscheidungen getroffen werden.
3. Kontinuierliche Situationsanalyse und Rückkopplung.
Veränderungen und Einflussfaktoren der Umwelt müssen konsequent beobachtet und analysiert werden. Dazu gehören: Branche, Wettbewerb, Kunden, Politik, Gesellschaft etc. Daraus ergeben sich Entscheidungen: Muss das Unternehmen Schritte einleiten, um eine Krise abzuwehren?
4. Sensitive, effektive Regelkreise sind vorhanden.
Es gibt eine unmittelbare und unverzügliche Planung und Vorbereitung von Aktionen. Normative, strategische und operative Bereiche des Unternehmens werden an zukünftige Umwelteinflüsse angepasst.
5. Der Organisationszweck ist allgegenwärtig und handlungsleitend.
Die Unternehmen stiften Sinn und Identität auf einer normativen Ebene. Es gibt eine Entwicklung sowie die Anpassung und Durchsetzung verbindlicher Richtlinien.
6. Jede Ebene agiert wie ein Unternehmen im Gesamtkontext.
Die gesamte Organisation arbeitet auf allen Rekursionsstufen: Die jeweiligen Arbeitsweisen, Vorgehensmodelle, Geschäftsprozesse, Geschäftsmodelle etc. werden unmittelbar an einwirkende Umwelteinflüsse angepasst.
7. Sämtliche Kommunikationswege sind offen, neutral und leistungsfähig.
Alle Organisationseinheiten sind miteinander vernetzt. Die Kommunikationsstruktur ist uneingeschränkt, Kommunikationswege sind nachvollziehbar. Zusammen stellen sie einen übergreifenden und interdisziplinären Kommunikationsfluss sicher. Das Wissen des Unternehmens ist jederzeit zugänglich.
Pfiffners Analyse hat gezeigt: Diese sieben Dimensionen halten Unternehmen am Leben. Je ausgeprägter sie waren, desto überlebensfähiger und resilienter zeigte sich das Unternehmen. Dabei wurde auch die Qualität der überwundenen oder vermiedenen Krisensituation detailliert erfasst. All das wurde in die empirische Auswertung einbezogen und bestätigt damit die Wirksamkeit des Viable System Model, das er als Ausgangsbasis seiner Betrachtung nutzt.
Ende des Agilitätsblablas – Fakten!
Natürlich ist das Ergebnis der Studie wesentlich umfassender. Außerdem geht sie tiefer ins Detail, als es dieser Artikel darstellen kann. Aber bereits dieser Auszug vermittelt ein sehr konkretes Bild: Organisationen wollen dazu in der Lage sein, Überraschungen aus ihrer Umwelt standzuhalten. Die Studie zeigt Struktur, Kultur und Formen der Zusammenarbeit in einer Organisation auf, die dazu nötig sind. Mit einer solchen Vorgehensweise kann man sie erkennen und unverzüglich und angemessen reagieren. Fehler können passieren, müssen aber nicht existenzbedrohend sein. Sie werden als Quellen zur Systemverbesserung verstanden und aktiv genutzt. Es geht darum, aus Fehlern zu lernen, nicht sie zu vermeiden. Dieser Erkenntnisgewinn muss konstruktiv und selbstverständlich umgesetzt werden.
Manche Methoden bieten Vorgehensweisen für spezifische Problemstellungen an. Diese können Organisationen jedoch nicht als Ganze in einen agilen Kollaborationszustand versetzen. Die Antwort liegt nicht in simplifizierten Patentrezepten. Nur der Aufbau und Betrieb lebensfähiger Systeme schafft Abhilfe. Organisationen müssen auf unvorhersehbare Umwelteinflüsse reagieren und notwendige Fähigkeiten entwickeln können.
Agile Unternehmen können nicht anhand eindimensionaler Methoden etabliert werden. Eine wirksame Vorgehensweise ist nötig – interdisziplinär und empirisch nachvollziehbar. Organisationen stehen immer potentiellen Krisen gegenüber. Die Zeit wird zeigen, wer sie übersieht, ignoriert oder unfähig ist, sie zu überwinden.
Der Buchlink in der Bio des Autors ist veraltet, hier der richtige: https://www.hanser-fachbuch.de/buch/Die+agile+Organisation/9783446462649
Herzlichen Dank für den Hinweis und das Update zum Buch.