Depressionen zu Hause behandeln? Mit schwachem Strom von einem Headset soll es gelingen
Das schwarz-weiße Headset des schwedischen Startups Flow Neuroscience wird nicht auf die Ohren gesetzt, sondern auf den Vorderkopf über den Schläfen. Und statt Schallwellen erzeugt es Strom. Das Gerät soll gegen Depressionen helfen und kann von Betroffenen auch zu Hause angewendet werden. In einer Studie aus Großbritannien und den USA, die vom Hersteller mitfinanziert und kürzlich im Fachblatt Nature Medicine veröffentlicht wurde, profitierten mehr als die Hälfte der Teilnehmenden von der Behandlung.
Die Methode, die hier wirkt, heißt transkranielle Gleichstromstimulation, kurz: tDCS (transcraniell Direct Current Stimulation) und ist an sich nicht neu. Sie gilt als gut verträglich und wird auch in Deutschland von einigen Kliniken angeboten. Die Elektroden, die den Strom erzeugen, sitzen dann in der Regel nicht in einem Headset, sondern unter einer Kappe oder einem Stirnband. Die aktuelle placebokontrollierte Doppelblind-Studie ist die erste für eine Anwendung zu Hause über einen Zeitraum von zehn Wochen.
Wie Gleichstrom Menschen mit Depressionen hilft
Der erzeugte Gleichstrom wirkt auf eine Gehirnregion, die unter anderem an der Entscheidungsfindung beteiligt ist: auf den sogenannten dorsolateralen präfrontalen Cortex. Die Nervenzellen in diesem Hirnareal seien bei Menschen mit Depressionen oft weniger aktiv, sagt die Co-Autorin der Studie Cynthia Fu vom King’s College London. „Die tDCS nutzt einen schwachen Strom, der es den Gehirnzellen erleichtert, sich zu entladen oder zu feuern.“ Er verändert unter anderem die elektrischen Ladungen auf den Membranen der Nervenzellen, verstärkt oder dämpft deren Erregbarkeit und beeinflusst auch die Wechselwirkung der Neuronen untereinander. Die häusliche Therapie könne Betroffenen häufige Besuche in Spezialkliniken ersparen, schreiben die Autor:innen.
Studie mit Menschen mit mittelschweren Depressionen
An der Studie mit dem tDCS- Headset für zu Hause nahmen 120 Frauen und 54 Männer mit mindestens mittelschweren Depressionen teil. Fu und das internationale Team aus Großbritannien untersuchten die Patient:innen zunächst telemedizinsch und teilten sie per Zufallsprinzip in zwei Gruppen. Eine Gruppe bekam in den ersten drei Wochen fünfmal pro Woche 30 Minuten lang einen schwachen Strom von zwei Milliampere über das Headset auf die Kopfhaut. In den letzten vier Wochen waren es drei Stromeinheiten pro Woche. In der Kontrollgruppe gab das Gerät nur zu Beginn einer Behandlungseinheit einen Impuls ab.
Wie sich der Schweregrad der Depressionen durch die Behandlung veränderte, ermittelten die Forschenden über standardisierte Interviews und die sogenannte Hamilton Depression Scale (HAMD). Danach gilt ein Wert von null bis acht Punkten als klinisch unauffällig. Ab neun Punkten sprechen Fachleute von einer leichten und bei über 25 Punkten von einer schweren Depression.
Zu Beginn der Studie hatten die Teilnehmenden einen durchschnittlichen Schweregrad von etwa 19 Punkten. Nach der zehnwöchigen Behandlung ging es mehr als der Hälfte der Teilnehmenden in der therapierten Gruppe besser. Etwa 45 Prozent waren laut Hamilton-Skala sogar depressionsfrei. In der Kontrollgruppe besserten sich die Symptome bei 38 Prozent der Proband:innen und 22 Prozent wurden als depressionsfrei eingestuft. Im Mittel sank der Schweregrad der Depressionen in der behandelten Gruppe auf etwa neuneinhalb Punkte und in der Placebogruppe auf elfeinhalb Punkte.
Kleine bis mittlere Wirkung
Der Nutzen der Behandlungsmethode liege „im kleinen bis mittleren Bereich“, ordnet Jonathan Roiser vom University College London gegenüber dem Londoner Science Media Center ein. Dies sei bei Studien zu Antidepressiva oft der Fall. Julian Mutz vom King’s College London wiederum lobt das Studiendesign, weist aber auch auf zwei weitere größere randomisierte Studien hin, die der tDCS in klinischen Anwendungen keine Wirksamkeit bescheinigen konnten.
Das zeigt vor allem, dass noch Forschungsbedarf besteht. Eine der von Mutz genannten Studien erschien im letzten Jahr im Fachblatt The Lancet. Sie wurde von einem Team um Frank Padberg, Psychiater an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, veröffentlicht. Es sei wichtig, positive und negative Befunde zu kennen, sagt er gegenüber Nature Medicine. Als Nächstes gelte es jetzt, besser zu verstehen, warum tDCS bei manchen Menschen wirke und bei anderen nicht – und nach Möglichkeiten zu suchen, die Therapie zu personalisieren. „Unterschiedliche Menschen benötigen unterschiedliche Dosierungen“, so der Forscher. Ähnliche individualisierte Therapien gegen Depressionen sucht seine Gruppe auch bei der mit der tDCS verwandten „Repetitiven Transkraniellen Magnetfeldstimulation“ (rTMS), die mit Millisekunden-Impulsen starker Magnetfelder arbeitet.
Was wirkt bei wem?
Welchen Menschen welche Therapie und Dosierungen am besten helfen, untersuchen die Forschenden unter anderem mithilfe von Aufnahmen im Magnetresonanztomografen (MRT). Auffälligkeiten im Gehirngewebe können offenbar wertvolle Hinweise liefern. Auch statistische Verfahren wie maschinelles Lernen, die aus klinischen Daten charakteristische Muster extrahieren, liefern Hinweise. „Die Verbindung von Biomarkern aus der Bildgebung, klinischen Daten und spezifischen Stimulationsansätzen eröffnet neue Wege in der Behandlung depressiver Erkrankungen, die sowohl mit Medikamenten als auch mit Psychotherapie individuell kombiniert werden können“, sagt Padberg gegenüber der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN).
Bisher dauert es laut DGKN mitunter Jahre, die optimale Behandlung für eine Depression zu finden. Eine passgenaue Therapie würde die Leidenszeit deutlich verkürzen. Welche Rolle ein Antidepressions-Headset für zu Hause dabei spielen kann, bleibt abzuwarten.
Das schreit doch nach Placeboeffekt, wo ist die Doppelblind-Studie?