Instantblut für alle Blutgruppen: Rettet dieses Pulver bald Menschenleben?
Instantprodukte kennt man für gewöhnlich aus dem Supermarktregal: Pulver in die Tasse, heißes Wasser darauf und fertig ist zum Beispiel die Tütensuppe. Dieses Prinzip wendet das US-Unternehmen Kalocyte für den medizinischen Bereich an und hat ein Instantblut namens Erythromer entwickelt. Das gefriergetrocknete Pulver enthält winzige, mit dem eisenhaltigen Blutfarbstoff Hämoglobin vollgepackte Fettbläschen. Diese sollen ganze rote Blutkörperchen, die Erythrozyten, ersetzen, die im Körper normalerweise das Hämoglobin beherbergen.
Das Erythromer-Pulver ist Kalocyte zufolge zwei Jahre haltbar, muss nur noch mit reinem Wasser versetzt werden und ist gleich darauf einsatzbereit. In frühen Tierversuchen mit Mäusen und Kaninchen soll Erythromer genug Sauerstoff transportiert haben, um die Tiere nach 70- sowie 50-prozentigem Blutverlust wieder zu revitalisieren. Klinische Tests an Menschen könnten in den nächsten Jahren starten.
Transfusion bei Blutverlust
Dass Unfall- und Gewaltopfer bei hohem Blutverlust schnell Transfusionen erhalten, ist überlebenswichtig. Durch den Flüssigkeitsverlust kann es zu einem lebensgefährlichen Schock kommen. Ab einem Blutverlust von 1,5 Litern werden Organe und Geweben auch nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff (O₂) versorgt, weil zu viele O₂ transportierende rote Blutkörperchen verloren gegangen sind. Eine Bluttransfusion können Patienten bisher nur in einem Krankenhaus bekommen, denn Rettungswagen führen keine Blutkonserven mit. Sie sind nicht dafür ausgerüstet, zu testen, welche Blutgruppe die Patienten vertragen. Außerdem haben sie nicht das nötige Equipment dabei, um das Nachschubblut zu kühlen.
Um die Fahrt ins Krankenhaus zu überbrücken, stabilisieren Rettungshelfer zumindest den Kreislauf der Patienten vorübergehend mit einer Salzlösung. Allerdings erreichen allein in den USA jedes Jahr 20.000 Verletzte nicht rechtzeitig das nächstgelegene Hospital, sagt Allan Doctor von der University of Maryland, der die künstliche rote Blutzelle für Erythomer mitentwickelt hat.
135 Millionen Litern Spenderblut bedarf es jährlich
Der weltweite Blutbedarf für die Behandlung von Notfällen, aber auch für Operationen und die Therapie von Blutkrankheiten ist riesig: 135 Millionen Liter Spenderblut braucht es jedes Jahr, so viel wie in 54 olympische Schwimmbecken passen würde. Gespendet werden laut Weltgesundheitsorganisation aber nur 22 Becken voll, also 40 Prozent. Spenderblut muss gekühlt werden und ist nur 42 Tage haltbar. Um den Mangel auszugleichen, versuchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten, Blutersatz zu entwickeln.
Genauer gesagt suchen sie wie Kalocyte Ersatz für die roten Blutkörperchen, die den Körper mit Sauerstoff versorgen. Das Unternehmen recycelt dafür Hämoglobin aus abgelaufenen Blutkonserven und ummantelt es mit einer weichen, spezialisierten Fettmembran. Weil darauf keine Erythrozyten-Oberflächenproteine sitzen, die sonst die Blutgruppe festlegen, ist Erythromer ein Universalpräparat für alle Patienten. Normalerweise müssen bei Transfusionen die Blutgruppen von Spender und Empfänger zusammenpassen, sonst kommt es zu lebensgefährlichen Verklumpungen. Das Immunsystem erkennt falsche Blutgruppen an Zuckerketten auf den roten Blutkörperchen.
Eingebauter pH-Sensor
Die Fetthülle der Erythromer-Partikel hat darüber hinaus noch weitere Vorteile. Ähnlich wie die Erythrozytenmembran lässt auch sie Sauerstoff durch: in der Lunge nach innen zum Blutfarbstoff und im Gewebe nach außen zu den Zellen. Damit die Designerpartikel wissen, wo sie was tun müssen, erkennen sie mit einem Sensormolekül in ihrer Hülle den höheren pH-Wert in der Lunge und nehmen dann Sauerstoff auf. Im Gewebe sorgt der niedrigere pH-Wert dafür, dass das Hämoglobin den Sauerstoff wieder freisetzt. Da die Erythromer-Partikel gerade mal 0,2 Mikrometer groß sind, sollen sie ebenso problemlos selbst durch dünnste Kapillaren passen wie die acht Mikrometer großen, roten Blutkörperchen.
Im vergangenen Jahre hat Kalocyte mit der Darpa, dem Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums, eine Fördervereinbarung in Höhe von 46,4 Millionen Dollar abgeschlossen. Das Ziel ist es, ein Vollblutprodukt zu entwickeln und zu testen. Das soll nicht nur die künstlichen roten Blutzellen enthalten, sondern auch noch zu entwickelnde synthetische Blutplättchen und gefriergetrocknetes Plasma. Das fertige Produkt soll bei Raumtemperatur lagerbar und auf dem Kampffeld innerhalb von 30 Minuten einsetzbar sein.
„Es ist ein interessanter Ansatz, aber es haben schon mehrere Unternehmen bei dieser Art von Entwicklung versagt“, sagt Franck Zal vom französischen Start-up Hemarina unverblümt. Das liege an technischen Schwierigkeiten wie etwa, dass es schwer sei, Fettkapseln mit exakt derselben Größe herzustellen und Hämoglobin komplett zu ummanteln, damit es keine problematische Gefäßverengung auslöst. „Vielleicht werden sie alle diese Punkte lösen“, sagt Zal. Dann müssten sie aber weitere Details zur Funktion und zur Stabilität der Partikel veröffentlichen.
Blut aus dem Watt
Zals Unverblümtheit kommt nicht von ungefähr. Auch er ist überzeugt, die Lösung für den weltweiten Spenderblutmangel gefunden zu haben – und zwar im Blut eines 20 Zentimeter großen Wattwurms. Das Hämoglobin von Arenicola marina ist ein Vorfahre der menschlichen Variante und hat eine sehr ähnliche Struktur. Es transportiert laut Zal genug Sauerstoff, ist in gefriergetrockneter Form ebenfalls mindestens zwei Jahre haltbar und löst keine Immun- oder allergische Reaktionen aus, obwohl es ohne Hülle durch die Gefäße kreist. Genau das macht es aber auch zum Universalblutersatz.
Als Hemarina in ersten Tests mit Mäusen und Ratten 80 Prozent ihres Blutes schröpfte und es mit einer Wurmhämoglobin-Lösung ersetzte, vertrugen es die Nager gut und zeigten keine Immunreaktionen. Bei Menschen soll das M101 getaufte Molekül zuerst nicht bei großem Blutverlust, sondern einer besonderen Form von Sauerstoffarmut getestet werden: Bei Patienten mit Sichelzellanämie kommt es wiederholt zur massenhaften Zerstörung von roten Blutkörperchen. „Weil aber das Wurmhämoglobin 250-mal kleiner als rote Blutkörperchen ist, passt es noch durch die Gefäßblockaden. In Tierversuchen konnten wir bereits zeigen, dass sie [das Gewebe] dahinter mit Sauerstoff versorgen“, sagt Zal. Im Vergleich dazu bleibt jetzt abzuwarten, wie sich der Blutersatz von Kalocyte in klinischen Tests schlagen wird.