Warum der Klimaschutz die industrielle Wertschöpfung verändert
Immer deutlicher wird, dass die zur Bekämpfung des Klimawandels notwendige Dekarbonisierung weite Teile der Wertschöpfung in relativ kurzer Zeit von Grund auf verändern wird. Vier ganz unterschiedliche Treiber verleihen der aufziehenden Klima-Disruption dabei aktuell enormen Schwung. Mit dem Pariser Klimaabkommen, dem Klimaschutzgesetz der Bundesregierung oder dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verändert sich die regulatorische Spielfläche für Unternehmen grundlegend. Globale Signalwirkung könnte dabei auch das Urteil eines niederländischen Gerichts haben, das im Mai dieses Jahres den Öl-Konzern Shell verpflichtete, seinen CO2-Ausstoß bis 2030 um 45 Prozent zu senken – ein bislang einmaliger Vorgang.
Zugleich verändern sich die Anforderungen an den Kapitalmärkten, was sich exemplarisch daran zeigt, dass der größte Vermögensverwalter der Welt, Blackrock, seine Investitionshypothese radikal in Richtung Nachhaltigkeit verschoben hat. Im Jahr 2020 sind die globalen Investitionen in ESG-konforme Anlagen um satte 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Konsequenz: Unternehmen, die den Wandel hin zu einem ökologisch nachhaltigen Geschäftsmodell nicht glaubwürdig vermitteln können, werden sich auf Sicht schwertun, sich an den Kapitalmärkten zu refinanzieren.
Drittens erleben wir immer deutlicher, wie sich die gesellschaftlichen Präferenzen, angetrieben von Fridays for Future, der wohl wirkmächtigsten politischen Bewegung unserer Zeit, verändern – im Vorfeld der Bundestagswahl war der Klima- und Umweltschutz laut ARD Deutschlandtrend das wichtigste politische Thema für die Wählerinnen und Wähler.
Und schließlich ermöglichen viertens erhöhte Wirkungsgrade regenerativer Energiequellen und sinkende Technologiekostenkurven bei der Energie- wie CO2-Speicherung klimaneutrale Geschäftsmodelle in immer mehr Branchen.
Deutschland ist als Hochindustrieland besonders von der Klima-Disruption betroffen
Die beschriebenen Treiber – zugespitzt formuliert der gleichzeitige Druck von Fridays for Future und Blackrock – verstärken sich wechselseitig und erzeugen gewaltigen Veränderungsdruck auf all jene Unternehmen, deren Geschäftsmodell bis dato alles andere als klimafreundlich ist.
Ähnlich der Beschleunigung, mit der die Möglichkeiten der Digitalisierung im vergangenen Jahrzehnt viele Branchen auf den Kopf gestellt haben, wird das notwendige Erreichen der Klimaschutzziele entsprechend eine Disruption altgedienter industrieller Geschäftsmodelle bedeuten.
Der für Deutschland entscheidende Unterschied: Während die Digitalisierung das industrielle Rückgrat bis dato nicht sonderlich beeinflusst hat, wird die anstehende Dekarbonisierung die industrielle Wertschöpfung existenziell infrage stellen. Denn die größten Branchen und mithin auch Arbeitgeber in Deutschland – die Automobilindustrie, der Maschinen- und Anlagenbau, die Chemieindustrie und die Elektrotechnik – sind allesamt energieintensiv, der Industriesektor ist in Deutschland insgesamt für 24 Prozent des Treibhausgasausstoßes verantwortlich.
Wandel zur klimaneutralen Industrie braucht massive Investitionen
Eine besondere Herausforderung auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie besteht in den jahrzehntelangen Lebensdauern der kapitalintensiven Produktionsanlagen, insbesondere in den Grundstoffindustrien Chemie, Stahl und Zement. Unternehmen, die hier im nächsten Investitionszyklus keine weit vorausschauenden Investitionsentscheidungen für klimaneutrale Technologien treffen, droht auf Sicht die frühzeitige Abschaltung technisch noch funktionsfähiger Anlagen – und damit der Bankrott.
Dass der Wandel zu einem ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Geschäftsmodell stets ein Balanceakt ist, zeigt sich auch am Beispiel Volkswagen. Konzernchef Diess treibt dort den Strategieschwenk zur E-Mobilität mit enormer Konsequenz voran. Doch der Wandel hat seinen Preis: Um auch in Zukunft mit neuen Wettbewerbern wie Tesla mithalten zu können und die nötigen Investitionen zu stemmen, muss VW massiv Kosten einsparen – zuletzt kursierten Gerüchte über bis zu 30.000 Arbeitsplätze, die dem Konzernumbau zum Opfer fallen könnten.
Vor ähnlichen Herausforderungen werden viele Unternehmen in den kommenden Jahren stehen: Auf der einen Seite steht im Angesicht der Klimakrise die Notwendigkeit zur radikalen Kehrtwende, verbunden mit massiven Mehrinvestitionen, die der BDI bis 2030 auf 50 Milliarden Euro schätzt. Auf der anderen Seite steht die Erhaltung von kurz- und mittelfristiger wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und von Arbeitsplätzen.
Ökologie und Ökonomie sind 2 Seiten derselben Medaille
Auf den ersten Blick ein Dilemma – doch nur auf den ersten Blick: Denn der Wandel zur Klimaneutralität wird sich von keinem Unternehmen dauerhaft aussitzen lassen. Die kontinuierliche Zunahme von Abfall, Plastik und vor allem Treibhausgasemissionen bedroht die Lebensfähigkeit unseres Planeten – und letztendlich unsere eigene Spezies.
Diese äußere Notwendigkeit wird in den kommenden Jahren ein noch nicht gekanntes Maß an Veränderungswucht erzeugen, dem sich kein Geschäftsmodell und kein Unternehmen widersetzen wird können. Wer im Morgen unternehmerischen Erfolg will, muss anerkennen, dass Ökologie und Ökonomie zwei Seiten derselben Medaille sind. Nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg wird in Zukunft nicht mehr ohne ökologische Nachhaltigkeit funktionieren.
Mehr noch: All jene Unternehmen, die frühzeitig den Schalter umlegen und sich mit mutigen Investitionen zu ökologisch nachhaltigen Technologien, Produktionsverfahren und Geschäftsmodellen bekennen und sich so gewissermaßen selbst disruptieren, werden im Morgen mit einem massiven Wettbewerbsvorteil belohnt werden.
Doch klar ist auch: Überall dort, wo den Alteingesessenen diese Kehrtwende nicht rechtzeitig gelingt, werden junge und hungrige Startups, die von Tag eins an nicht nur Digital Native, sondern auch Climate Positive und mit enormen Mengen an günstigem Kapital ausgestattet sind, binnen kürzester Zeit ganze Branchen mit klimaneutralen Geschäftsmodellen disruptieren.