Die Krise des digitalen Kapitalismus ist tief, aber nicht unlösbar
Wann immer ich das (Tech-)Jahr 2017 gedanklich Revue passieren lassen, stelle ich mir unweigerlich folgende Frage: Hat digitaler Kapitalismus, wie wir ihn aktuell erleben, eine hinreichend große Schnittmenge mit den gesellschaftlichen Interessen? Die Antwort, die sich mir aufdrängt: „Wahrscheinlich nicht”.
Dabei ist das Prinzip des Kapitalismus eigentlich sehr clever: Die Akzeptanz der Tatsache, dass das Streben nach Verwirklichung des individuellen Eigeninteresses den größtmöglichen Schaffensantrieb darstellt, wird kombiniert mit der Zielstellung, dass mittelfristig alle Mitglieder einer Gesellschaft von den Resultaten dieses Strebens profitieren.
Voraussetzung für das Funktionieren dieses Ansatzes ist das Vorhandensein eines effektiven Rahmenwerks, bestehend aus Normen und punktueller Regulierung. Ein solches Rahmenwerk ist erforderlich, um die Ergebnisse der millionenfachen, egoistisch motivierten Handlungen Einzelner so zu kanalisieren, dass sie tatsächlich kollektive Verbesserungen der Lebensumstände mit sich bringen. Ohne ein solches Gerüst würde sich Kapitalismus früher oder später selbst kannibalisieren (mehr dazu weiter unten).
Kapitalismus, Freiheit und Regelbrüche
Tatsächlich hat dieses Konzept im vergangenen Jahrhundert zufriedenstellende Ergebnisse hervorgebracht. Hunderte Millionen Menschen erlebten signifikante Wohlstandszuwächse und Verbesserungen der Lebensqualität. Gleichzeitig entstanden weltweit Dutzende zumindest halbwegs stabile Demokratien. Zwar lässt sich ein eingebauter Systemfehler, nämlich die Externalisierung und Verschiebung bestimmter Kosten in die Zukunft – etwa was Umweltzerstörung und Klimawandel angeht – nicht wegargumentieren. Allerdings hat der Kapitalismus die Lösung dafür auch gleich mitgebracht: in Form von Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien, elektrischer Fahrzeuge und vielem mehr. Würden sich nicht einzelne Personen querstellen, könnte man innerhalb weniger Jahre enorme Fortschritte erzielen. Aber das ist ein anderes Thema.
Das rechtliche und normative Gerüst, innerhalb dessen der Kapitalismus des Industriezeitalters stattfand, war natürlich keineswegs perfekt. Aber wenn das Ziel die Maximierung der Freiheit für alle ist, dann darf ein Rahmenwerk gar nicht perfekt sein. Anders ausgedrückt: Ein Freiheit förderndes Rahmenwerk ist dann perfekt, wenn es nicht „perfekt” ist. Freiheit bedeutet auch die Freiheit des Brechens von Regeln und das Vorhandensein von „Schlupflöchern”. Entscheidend ist, dass es gelingt, der großen Mehrzahl der Akteure genug Anreize zu bieten, um die Freiheit der systematischen Übertretung von Gesetzen oder Normen nicht zu nutzen. Gleichzeitig muss das System so gestaltet sein, dass diejenigen, die zum Erreichen ihres Eigeninteresses über alle Grenzen hinausschießen, durch ihr Handeln nicht die Stabilität des gesamten Systems gefährden.
Lange Zeit ging diese Rechnung auf. Dann kam Informationstechnologie und das Internet und veränderte alles.
Ein Rahmenwerk löchrig wie ein Edamer Käse
Das Internet schuf einen völlig neuen Raum für individuelle Selbstverwirklichung sowie für das Erreichen von durch Eigeninteresse motivierten Zielen. Es vervielfachte die Freiheit, die Individuen und Organisationen im Kapitalismus des industriellen Zeitalters bereits genossen. Aber es sorgte auch für eine Schwächung und Unterminierung des Regelwerks, das bis dato für ein Gleichgewicht zwischen Eigeninteressen und Interessen der Allgemeinheit sorgte. Dies geschah einerseits durch das Entstehen zahlreicher neuer Schlupflöcher, um Regularien ohne großen Aufwand und Risiko zu umgehen, und andererseits schlicht durch das Fehlen effektiver, praktisch durchsetzbarer Regeln für das im historischen Vergleich immer noch brandneue und einzigartige Phänomen Internet.
Die globale Vernetzung verwandelt nationale Gesetze in harmlose Attrappen. Sie untergräbt existierende Gatekeeper, schafft aber neue Gatekeeper. Sie reduziert die Kosten für das Erreichen eines globalen Publikums dramatisch. Sie erlaubt Organisationen, sich zu gigantischen, weltweit dominierenden Konzernen zu entwickeln, die angetrieben von Skaleneffekten und exponentiell zunehmenden Wettbewerbsvorteilen Branche für Branche einnehmen und dabei riesige Mengen Kapital anhäufen, für die sie Niedrigst-Steuersätze zahlen. Sie erlaubt es Individuen, auf teils geniale, teils absurde Art Geld zu verdienen. Wer sich dazu berufen fühlt, kann heute ein ordentliches Einkommen mit dem Verfassen von Fake-News oder der Verbreitung ethisch fragwürdiger Youtube-Videos für Kinder generieren – und ganz nebenbei das Denken von Millionen beeinflussen.
Das Internet ist ein Segen für den Egoismus des Individuums (was bitte nicht als negative Wertung verstanden werden soll) – ganz im Sinne des kapitalistischen Geistes. Zu einem Problem wird das, weil gleichzeitig das Rahmenwerk, das Kapitalismus vor der eigenen Kannibalisierung schützen soll, heute so löchrig ist wie ein Edamer Käse. Ohne effektive Regeln und allgemein akzeptierte Normen fehlt die korrigierende Kraft, welche die Ergebnisse der Konzentration auf Eigeninteressen in eine Richtung steuert, in der sie wenigstens einigermaßen mit dem Allgemeinwohl übereinstimmen.
Facebook ist ein gutes Beispiel. Dem Unternehmen geht es allein um Selbsterhalt und weiteres Wachstum. Der anfallende Kollateralschaden muss, egal wie groß, aus Sicht des Managements zwangsläufig in Kauf genommen werden. Auch wenn das natürlich nicht so artikuliert wird. Mark Zuckerberg ist völlig machtlos. Er kann nicht einfach morgen früh aufwachen und, als Reaktion auf eine plötzlich Erleuchtung (wie sie ehemalige Mitstreiter zuletzt hatten), sich dazu entschließen, das Unternehmen dicht zu machen. Selbst wenn er es wollte. Die Missionen, mit denen Tech-Firmen PR-wirksam ihre Ziele formulieren, sind deshalb nichts anders als Rationalisierungen, die das eigene Handeln rückwirkend mit einem halbwegs vernünftig klingenden Sinn ausschmücken.
Keine hoffnungslose Situation
Es gibt allerdings auch eine gute Nachricht: Denn das Fehlen eines wirksamen Rahmenwerks für einen das Allgemeininteresse nicht komplett außer Acht lassenden digitalen Kapitalismus bietet auch denjenigen neuen Spielraum, die der problematischen Entwicklung etwas entgegensetzen wollen. Die Freiheit der digitalen Welt steht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung – einen nicht zensierten Internetzugang vorausgesetzt. Und sie ist, wie bereits erwähnt, deutlich umfangreicher als die Freiheit, die der Kapitalismus der analogen Ära bot. Damals begrenzten strukturelle, technologische und geographische Einschränkungen Out-of-the-Box-Denken sowie die Schaffung grenzenüberschreitender Netzwerke rund um neue Ideen, Konzepte und Initiativen. Das ist nun ganz anders. Als Resultat sehen wir zahlreiche rasant an Unterstützung gewinnende Denkansätze und Versuche der Schaffung neuer Paradigmen, wie etwa das bedingungslose Grundeinkommen, die Loslösung der Frau von den strukturellen Ketten der Vergangenheit, oder die Philosophie der Dezentralisierung, aus der etwa die Blockchain-Technologie entstand.
Sofern meine Zustandsanalyse korrekt ist, werden die bereits regelmäßigen Angriffe auf politische Systeme, Institutionen und die Demokratie in Frequenz und Stärken zunehmen. Sie müssen als eine systemische Abwehrreaktion gegen das Auseinanderdriften der Interessen des digitalen Kapitalismus und des Allgemeinwohls verstanden werden. Die Anti-Tech-Stimmung, die 2017 erstmals signifikante Ausmaße annahm, dürfte sich ebenfalls noch verstärken. Andererseits besteht dank der aufkommenden „nativen” Bewegungen, der technischen Innovationen und des Aufbrechens lange unangetasteter Strukturen die Chance für ein organisches, evolutionäres Upgrade des Kapitalismus. Dabei würden im Wettbewerb zwischen den etablierten und den gerade entstehenden, im letzten Abschnitt erwähnten Ideen die neuen Ansätze unter Zuhilfenahme möglichst weniger, dafür aber effektiver, international abgestimmter regulatorischer Markteingriffe die Oberhand gewinnen. Eigeninteressen und gesellschaftliche Ideale würden wieder besser miteinander in Einklang gebracht, während die Konzentration von Macht, Kapital und Know-how (gerade im zukunftsweisenden Bereich der künstlichen Intelligenz) in den Händen einiger weniger gestoppt würde.
Sollte das eintreten, hätte sich der Kapitalismus aus seiner derzeitigen Krise befreit.
Erst mal finde ich es sehr gut, dass solche Themen hier auch erscheinen und politisch sowie philosophisch betrachtet werden. Es ist unheimlich wichtig sich darüber zu unterhalten. Jedoch halte ich es für eine falsche Aussage, dass das Kapitalismus-Konzept zufriedenstellende Ergebnisse hervorgebracht hat. Hunderte Millionen Menschen erlebten signifikante Wohlstandszuwächse und Verbesserungen der Lebensqualität? Im Gegenteil, für Millionen von Menschen geht die Arm-Reich-Schere immer weiter auf. Reiche werden immer reicher und die Macht konzentriert sich immer mehr. Sowie verschlechtert sich die Lebensqualität rasant nach unten, siehe steigende Anzahl an Burnout und Depressionsfällen. Depression ist schon als Volkskrankheit anerkannt in Deutschland. Und zu den Wohlstandszuwächsen: für den Wohlstand den wir hier in Deutschland haben, müssen andere (Indien, Afrika, China, etc) bezahlen. Und schon lange ist bekannt, dass materieller Wohlstand keineswegs glücklich macht.
Richtig ist, dass vielleicht der technische Fortschritt einen Boost erhalten hat, aber auch nur, weil dieser monetarisiert werden kann. Bestes Beispiel: Antibiotika. Heute wird fast nicht mehr an neuen Antibiotika geforscht, weil damit kein Geld mehr gemacht werden kann. Und so ist es durchgehend und das hat nichts mit erneuerbaren Energien an sich zu tun, sondern nur, weil diese derzeit (oder anscheinend in Zukunft) gutes Geld bringen. Ein anders Thema ist eh noch mal, ob die erneuerbaren Energien überhaupt so erneuerbar sind wie sie scheinen. Es gibt kritische Stimmen, die meinen, dass es gar nicht möglich ist so viel Energie zu produzieren, so dass jeder ein Elektroauto hat.
Auch stimme ich nicht zu, dass der digitale Kapitalismus das „bedingungslose Grundeinkommen, die Loslösung der Frau von den strukturellen Ketten der Vergangenheit, oder die Philosophie der Dezentralisierung“ erschaffen hätte („die Schaffung neuer Paradigmen“). Alle drei Dinge gab es schon davor, ja sogar schon vor hunderten von Jahren. Die Idee des Grundeinkommen gibt es schon seit Jahrhunderten (siehe Wiki). die Emanzipierung der Frau auch seit Jahrhunderten. Und die Dezentralisierung ist auch schon eine Idee die seit Ewigen vorhanden ist. Ich sage sogar, dass die Demokratie eine Dezentralisierung ist, weil die Macht nicht in einer einzelnen Hand liegt. Ich finde es demnach sogar herabwürdigend gegenüber allen Vordenkern, dass der digitale Kapitalismus diese Dinge (mit) erfunden haben soll.
Und dem Fazit kann ich keinesfalls zustimmen. Eine Kombination zwischen Kapitalismus und Demokratie ist immer nur ein schlechter Kompromiss und eine widersprüchliche Vereinbarung. Ein paar regulatorische Markteingriffe regeln das auch nicht. Eine lebendige Demokratie ist auf das Wohle des Volkes und Menschen ausgerichtet, was wenig mit materiellen Gütern zu tun hat, sondern mit eine glücklichen und zufriedenen Menschheit. Der Kapitalismus ist einzig und allein auf das Kapital ausgerichtet. Es steht nicht der Mensch an erster Stelle, sondern die einzelne Anhäufung von Macht, Kapital und Know-how.
Mein Fazit ist: der Kapitalismus ist nicht mit einer Demokratie vereinbar. Ja er schadet sogar der Demokratie und baut diese rasant ab, unterhöhlt diese immer mehr (z.B. Lobbyarbeit im Bundestag). Beide Dinge sind im Widerspruch. Wir müssen den Kapitalismus gänzlich abschaffen und die Wirtschaft muss dem Menschen dienen und der Mensch nicht der Wirtschaft. Alles was das Wohl des Menschen mindert, muss auf härteste verurteilt werden. Dazu zählen Ausbeutung im eigenen Lande (viel zu geringe Löhne) und im Ausland (unwürdige Produktionsmethoden), unwürdige Verhältnisse wie bei Hartz4 und in der Pflege. Die Liste ist lang und würde den Rahmen hier sprengen.
Danke für deinen Kommentar und die Überlegungen. Dass man ein und das selbe Phänomen von sehr unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten kann – und dass dies ganz besonders bei diesem Thema der Fall ist – überrascht sicher keinen von uns.
Drei Anmerkungen:
Zu deinem ersten Absatz: Ich sehe keinen Widerspruch darin, die positiven Aspekte des Kapitalismus anzuerkennen, während man gleichzeitig die Schwächen benennet. Du führst die Schere zwischen Arm und Reich an und bezeichnest dies als „Gegenteil“ meiner Aussage, dass Hunderte Millionen Menschen signifikante Wohlstandszuwächse und Verbesserungen der Lebensqualität erlebt haben. Aber ist das wirklich ein „Gegenteil“? Meines Erachtens nach ist beides korrekt. Das schließt sich nicht aus. Zumal die extreme Ungleichheit, wenn ich das richtig beurteile, eher ein Phänomen des Spätkapitalismus (vielleicht seit den 80ern) ist und damit gewisserweise ein Teil der Kritik, die ich (zusammen mit der von dir erwähnten Machtkonzentration) in meinem Text hervorbringe.
Zum Thema BGE, Dezentralisierung, Frauen etc: Vielleicht habe ich das falsch formuliert. Die Ideen existieren natürlich schon viel länger. Mein Argument ist, dass die Technologien der Digitalisierung und Vernetzung als Katalysator dienen und diese und andere Konzepte und Paradigmen auf die ganz große Bühne bringen.
Die Aussage „Der Kapitalismus ist nicht mit einer Demokratie vereinbar. “ halte ich in dieser Absolutheit deshalb für falsch, weil erwiesenermaßen im kapitalistischen Zeitalter mehr halbwegs funktionierende Demokratien entstanden sind als jemals zuvor. Allerdings ist Kapitalismus kein Garant für Demokratie. Eine unkontrollierte Mutation (wie wir sie gerade überlegen) kann zu einer Bedrohung für die Demokratie werden. Zumindest da bin ich bei dir.