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MIT Technology Review Feature

Mikroplastik, Einwegkunststoff und wenig Recycling: Die wirkliche Plastik-Flut kommt erst noch

Kunststoffe befeuern die Klimakrise und zählen zu den größten Umweltsünden der Menschheit. Auf der UN-Konferenz in Südkorea ringt man derzeit um ein Plastikabkommen. Die Materialien selbst sind dabei nicht das größte Problem.

Von MIT Technology Review Online
4 Min.
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Ertrinken wir bald in Plastikmüll? Längst ist er überall auf der Welt zu finden. Flüsse transportieren ihn ins Meer. (Foto: Shutterstock / Parilov)

Über einem Fluss schweben Fischadler, die Wasseroberfläche funkelt im Sonnenlicht. Das Feuchtgebiet im US-Bundesstaat Connecticut sieht wild und unberührt aus. Doch die Idylle trügt. Es ist ein Sommertag im letzten Jahr, ich bin mit einer Gruppe Plastiksammler in Kajaks unterwegs und schnell werden wir fündig. Wir entdecken leere Chipstüten im Schilf, mit Schlamm bedeckte Styroporschalen und Plastikflaschen. Auch Trinkhalme, Feuerzeuge und Kämme sammeln wir ein, zudem Angelschnüre, unidentifizierbare Kunststoffteile und sandkornkleines Mikroplastik.

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Dass Kunststoffe selbst in entlegensten Gegenden zu finden sind, ist kein Wunder. Weltweit werden der Wirtschaftsorganisation OECD zufolge jährlich über 460 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert – mehr als das Gewicht aller Menschen der Welt zusammen. Nur neun Prozent dieser Menge werden recycelt, etwa ein Drittel ist Einwegplastik. Laut einem Bericht der Umweltorganisation der Vereinten Nationen UNEP verursacht der Plastikmüll in der Umwelt „erhebliche wirtschaftliche Kosten“ von mindestens 40 Milliarden Dollar im Jahr. Er mindere die Produktivität natürlicher Ökosysteme und verstopfe städtische Infrastrukturen.

Dieser Artikel ist zuerst in der Ausgabe 2/2024 von MIT Technology Review erschienen. Darin setzen wir uns mit den großen Herausforderungen unserer Zeit auseinander – und wie wir sie angehen können. Hier könnt ihr die TR 2/2024 als Print- oder pdf-Ausgabe bestellen.

Viele Kunststoffhersteller sind mit der Ölbranche verflochten

Kunststoffe sind zudem für 3,4 Prozent der globalen Kohlenstoffemissionen verantwortlich, bis 2040 könnten es 15 Prozent sein. Sie werden fast ausschließlich aus Erdöl oder Erdgas hergestellt und viele große Kunststoffhersteller sind eng mit der Ölbranche verflochten. „Die Menge an Plastik auf unserem Planeten ist wie eine einzige große Ölpest“, kommentiert Katrina Knauer, Polymerwissenschaftlerin am National Renewable Energy Laboratory. Und sie wird immer größer. Laut Prognosen werden im Jahr 2050 mehr als 30 Milliarden Tonnen Kunststoffe produziert, das Dreifache der aktuellen Menge.

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„Die Menge an Plastik auf unserem Planeten ist wie eine einzige große Ölpest.“

Das ist auch eine schlechte Nachricht für unsere Gesundheit, denn Menschen nehmen tagtäglich Mikro- und Nanoplastik auf. Die Plastikteilchen stammen unter anderem aus Reifenabrieb, Textilien und dem Zerfall größerer Kunststoffobjekte. Sie stecken im Trinkwasser, in Bier, Salz, Schalentieren, in Obst und Gemüse. Plastik wurde unter anderem im Blut, im Darm und in der Muttermilch nachgewiesen. Ein weiteres Problem sind die Zusatzstoffe. Es geht um mehr als 10.000 Chemikalien, von denen laut UNEP mindestens 3.200 gesundheitsschädliche Eigenschaften haben. Welche Folgen der Plastikmüll im Körper hat, ist noch unklar.

Als sicher gilt, dass Menschen an Produktionsstätten in ärmeren Regionen leiden – etwa im US-Bundesstaat Louisiana –, wo vor allem Schwarze und sozial Schwache leben. Dort reihen sich entlang des Mississippi River rund 150 Ölraffinerien, Kunststoffwerke und Chemieanlagen aneinander. Das Gebiet wird auch als „Cancer Alley“ bezeichnet, denn das Risiko für Krebs- und andere Krankheiten ist dort besonders hoch. UN-Menschenrechtler sprechen von „Umweltrassismus“. Auch andernorts trifft die Plastikverschmutzung jene am stärksten, die am wenigsten zur Kunststoffkrise beitragen. Wo Armut herrscht, Strukturen und Geld für Sammelsysteme fehlen, türmen sich die Müllberge, verteilen sich auf Ackerböden und in Gewässern.

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Naheliegende Lösungen für das Plastikproblem

Die Lösungen für das Plastikproblem sind lange bekannt. Vor allem gilt es, weniger und besser recycelbare Kunststoffprodukte herzustellen und sie möglichst lange im Umlauf zu halten. Das ist auch das Ziel der Umweltversammlung der Vereinten Nationen. Ende 2024 will sie einen Vertrag mit verbindlichen und freiwilligen Maßnahmen vorlegen. Branchenverbände kritisieren die Pläne. „Grenzwerte oder Abgaben könnten die Preise nach oben treiben und damit viele unbeabsichtigte Folgen für diejenigen haben, die es sich am wenigsten leisten können“, sagt etwa Stewart Harris vom American Chemistry Council.

„Das Thema Mehrweg suchen Sie in einem Lidl vergebens. Dort geht es nur um optimierte Einweglösungen.“

Als vielversprechendes Mittel gegen die Plastikkrise gilt die Kreislaufwirtschaft. Dazu gehört, Einwegkunststoffe schrittweise zu verbieten sowie Sammel-, Wiederverwendungs- und Recyclingsysteme zu etablieren. In Tansania beispielsweise betreibt eine Gruppe namens Nipe Fagio („Gib mir den Besen“ auf Suaheli) Abfallmanagement- und Recyclingsysteme, die den Deponiemüll in den Vierteln mehrerer Städte um 75 bis 80 Prozent reduziert haben. Finanziert werden könnten solche Initiativen durch die erweiterte Herstellerverantwortung Extended Producer Responsibility, kurz EPR, was Umweltschutzorganisationen schon lange fordern. Laut Ana Lê Rocha, der Geschäftsführerin von Nipe Fagio in Tansania, helfen diese Programme durchaus, wenngleich nur bei der Symptombekämpfung. „Das Hauptziel des UN-Abkommens ist die Verringerung der Produktion“, betont sie. Dieses Ziel lässt sich unter anderem durch Mehrwegsysteme erreichen, die allerdings eine radikale Veränderung der Infrastruktur und des Verhaltens erfordern.

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Keine Kreislaufwirtschaft mit Plastik

„Wir haben fast ein Jahrhundert damit verbracht, eine hochkomplexe lineare Wirtschaft aufzubauen“, sagt Kathryn Beers am National Institute of Standards and Technology, Maryland. Die Voraussetzungen für eine Kreislaufwirtschaft erfülle Plastik derzeit schlicht nicht. Ein Problem sind unter anderem die potenziell schädlichen Zusatzstoffe, die sich beim üblichen mechanischen Recycling immer weiter anreichern. Helfen könnten neben einem möglichst schadstofffreien Produktdesign thermochemische Verfahren, die den Kunststoffmüll zunächst in chemische Grundbausteine zerlegen, aus denen wieder neues Plastik entstehen kann.

Vor allem aber gilt es, das Grundproblem anzugehen: Kunststoffe sind zu profitabel für die Hersteller und zu billig für die Verbraucher. Was selbst kleine Gebühren bewirken können, zeigt das Beispiel Washington D.C., wo 2010 eine Gebühr von fünf Cent auf Plastiktüten eingeführt wurde. Schon wenige Monate danach nahm die Zahl der Tüten um mehr als die Hälfte ab und die in Gewässern gefundenen Mengen sanken um 30 bis 70 Prozent. Die EU setzt ebenfalls auf Regulierungen. Sie hat schon bestimmte Plastiktragetaschen, Einweggeschirr und Trinkhalme aus Kunststoff verboten sowie kürzlich absichtlich zugesetztes Mikroplastik, das etwa in Kunstrasen und Kosmetik steckt.

Es sind allerdings noch eine Menge mehr gesellschaftliche und politische Veränderungen nötig – und auch Innovationen –, bis sich die Lage in Gegenden wie den Sümpfen Connecticuts verbessert. Bei unserer Plastiksammelaktion stießen wir auf Fischadlernester, aus denen Plastikfäden quollen, und auf einen Feuerlöschschlauch, der sich im Schlamm zwischen Austern verfangen hatte. Er ließ sich nicht herausziehen und auch nicht mit einem Taschenmesser aufschneiden. Widerstrebend ließen wir ihn zurück.

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