Marketing der Zukunft: Nachhaltigkeit ist das Schlüsselthema
In den letzten Jahren ist Nachhaltigkeit zu einem der meistdiskutierten Themen im Marketing geworden. Viele sehen es immer noch als Trend, aber es ist mehr als das. Investoren haben erkannt, dass ein nicht nachhaltiges Unternehmen auf lange Sicht wertlos ist. Für Marketingfachleute wirft dies Fragen auf, die weit über Ärgernisse wie Greenwashing oder elaborierte grüne Marketingkampagnen hinausgehen. Nachhaltigkeit geht an den Kern.
Justina Rokita sieht Nachhaltigkeit nicht als Trend. Für sie ist es ein essenzielles Thema und ein echter Gewinn, wenn es zur DNA der Marke passt. Aber auch dann besteht die Herausforderung darin, es authentisch und glaubwürdig zu positionieren und konsequent in die gesamte Wertschöpfungskette zu integrieren.
Von Strumpfhosen zum Kaffee
Justina hat jahrelange Erfahrung in der Arbeit für nachhaltige Marken. Als CEO von Kunert brachte sie die erste nachhaltige Strumpfhose aus recyceltem Garn mit einem komplett nachhaltigen Konzept auf den Markt, vom Herstellungsprozess über das Produkt selbst bis hin zur Verpackung. 2017 wurde Kunert Blue mit dem German Brand Award ausgezeichnet.
Unternehmen, die auf biologisch kompostierbare Mülltüten umsteigen, weniger Papier verbrauchen oder die Obstkörbe der Mitarbeiter bei regionalen Anbietern kaufen, sind nicht konsequent genug in der strategischen Umsetzung von Nachhaltigkeit. „Das reicht nicht aus“, meint sie. „Ich bin in dieser Hinsicht sehr radikal, das muss ich zugeben, aber das liegt daran, dass ich Nachhaltigkeit einfach ganzheitlich sehe.“
Mit diesem Ansatz gründete sie gemeinsam mit ihrem Partner Sayed „Sammy“ Issa die Kaffeerösterei Samyju. Justina bezeichnet sich selbst als extremen Kaffee-Junkie, und schon als Studentin war ihr Kaffee wichtig. „Für manche ist es Wein. Für mich ist es Kaffee.“
Die Idee für Samyju entstand in einem Gespräch mit ihrem Partner auf dem Sofa. Er schlug vor, ein Unternehmen zu gründen, das auf ihrer gemeinsamen Liebe zum Kaffee basiert. Zusammen, sagte er, könnten sie ein „echtes, gutes Produkt“ schaffen. Obwohl keiner von ihnen wusste, wie man Kaffee röstet, war sich Justina sicher: „Ich kann die Markenstrategie schreiben.“
Ihr Lebensgefährte, der aus dem Baugewerbe stammt und viele Jahre als Manager im Ausland tätig war, hatte sich bereits für eine Ausbildung zum Röster entschieden. Mit 45 Jahren absolvierte er eine zweijährige Ausbildung in einer Industrierösterei, wo er das Handwerk erlernte – und viel Luft nach oben sah.
Ziel: Nachhaltiges Wachstum mit Qualität
Also kündigte Justina ihren Job als CEO, und gemeinsam gründeten sie das Unternehmen. Sie setzte sich hin, fand den Namen – Samyju für Sammy und Justina – und entwarf einen Businessplan und eine Strategie: schonende Trommelröstung und überwiegend Direkthandel mit Kaffeebauern, um die Verbraucher mit einem hochwertigen „Kaffee mit gutem Zweck“ zu erfreuen, kombiniert mit Nachhaltigkeit in der gesamten Wertschöpfungskette.
Da der Vertrieb intern gesteuert wird, verkaufen sie nicht über Marktplätze wie Roastmarket. Daher ist ihr Kaffee nicht überall erhältlich. „Die Leute sind frustriert von mir und sagen: ‚Du könntest schneller wachsen‘, aber ich will nicht schneller wachsen. Ich möchte nachhaltig wachsen, hochwertige Qualität sicherstellen und die Bauern fair bezahlen.“ So hat Samyju seinen eigenen Einzelhandel, Onlineshop und eine zentrale Produktion in Meerbusch.
Nachdem sie einen Investor gewonnen hatten, eröffnete im Dezember 2021 in Düsseldorf ihr erster Coffeeshop, der einem vollständig nachhaltigen Konzept folgt. Die Lampen bestehen aus Kaffeesatz mit recycelten Teppichrollen. Die Möbel sind aus Kork gefertigt. Die gesamte Ausstattung besteht aus recycelbarem Metall und Beton, die Speisekarten aus Graspapier, das in München von Hand gefertigt wird. Alles wird in Europa hergestellt, um den CO₂-Fußabdruck zu verringern.
Startup in einem Weltkonzern
Während sie ihr Unternehmen aufgebaut haben, hatte Justina weiterhin einen Vollzeitjob, zunächst bei der Modemarke Bree, bevor sie 2019 zu Moia wechselte. Beide Unternehmen haben ihren Sitz in Hamburg. „Als ich angefragt wurde, bei Moia einzusteigen, dachte ich: Moment mal, ich komme aus der Modebranche. Moia ist ein Service, der digital gebucht und physisch erlebt wird, der eine ganz andere Dynamik hat und kein echtes, physisches Produkt ist. Was kann ich eigentlich für sie tun?“
Da die Modebranche ihre Heimat war, zögerte sie zunächst. Letztendlich überzeugte sie jedoch, dass sie mit ihrer Arbeit auch weiterhin das Ziel der Nachhaltigkeit verfolgen konnte. Moia stand noch ganz am Anfang. Ihre Aufgabe war es also, die Marken- und Marketingstrategie zu entwickeln.
Für Moia, einen Ridepooling-Anbieter mit Elektrofahrzeugen, ist Nachhaltigkeit sehr wichtig. Aber vor allem ist es eine Marke, die ein echtes Startup war, wenn auch innerhalb von Volkswagen, einem Weltkonzern. Bis dahin hatte Justina entweder für große Konzerne oder traditionelle, inhabergeführte Unternehmen gearbeitet. „Es war sehr reizvoll, ein solches Startup zu begleiten und Teil der mobilen Zukunft zu sein. Diese Erfahrung wollte ich unbedingt machen.“
Die vielleicht größte Herausforderung bestand darin, Relevanz für die Marke und den Service beim Kunden zu schaffen. Moia hat in kurzer Zeit hohe Bekanntheits- und Empathiewerte erlangt. Aber Ziel der Firma ist es, dass, wenn der Kunde das Haus verlässt und ein Mobilitätsbedürfnis hat, Moia mindestens die Nummer zwei im Relevant Set ist.
Kundenzentrierung ist ein weiteres Thema, auf das sich Moia viel stärker konzentrieren muss, räumt Justina ein und zitiert Peter Drucker: „The purpose of business is to create a customer.“ Dazu muss Moia die persönlichen Profile seiner Kunden besser verstehen, viel detaillierter analysieren, aber vor allem definieren und ihnen dann die richtigen individualisierten Inhalte anbieten.
„Das bleibt angesichts der vielen Datensilos eine große Herausforderung für uns Marketer, an der wir sehr hart arbeiten.“ Sie sieht Bedarf an stärkerer strategischer Arbeit, aber auch an einem Sparringspartner für die Produktentwicklung bereits in der Entwicklungsphase. Da sie noch nie zuvor für ein Technologieunternehmen gearbeitet hat, wundert sie sich über einen gewissen produktzentrierten Ansatz. „Zu denken, dass die Einführung eines heißen neuen Produkts automatisch bedeutet, dass man direkt Begehrlichkeit und hohe Nutzung generiert und viele Kunden hat – das ist mir zu kurz gedacht.“
„Die Textilbranche ist einfach sexy“
Justina hatte keine Karriere in der Modebranche geplant. Nach ihrem Studium arbeitete sie für die Kosmetikmarke Wella, die dann von Procter & Gamble übernommen wurde. So verlor sie ihren Job, aber die FMCG-Branche gefiel ihr. Irgendwann versuchte sie sich in der Modebranche, und dann fiel für sie der Groschen bei Nur Die, damals Teil eines anderen großen Unternehmens. „Dort begann mein Weg in der Textilbranche. Da habe ich Blut geleckt.“
Sie schwärmt von der Dynamik, dem ständigen Strom von Trends, Produktentwicklungen und Innovationen. „Die Textilbranche ist einfach sexy.“ Ihre Leidenschaft begann irgendwo im breiten Spektrum zwischen Produktentwicklung, Brand, Marketing, Kommunikation und Design. „Ich durfte sehr ganzheitlich arbeiten, und das hat unglaublich viel Spaß gemacht.“
Wenn man aus dieser Schule kommt, kann die Technologiebranche ein bisschen eigenartig aussehen. „Ich kenne das aus der Modebranche nicht, dass man Produkt und Marketing trennt. Marketing spielt eine wesentliche Rolle in der Produktentwicklung. Der Marketer ist in der Regel sowohl für das Produkt als auch für das Marketing verantwortlich. Was ich in der Techbranche aber erlebe, ist das Phänomen, dass beides strikt getrennt ist.“
Die digitale Transformation geht jedoch weiter, und noch nie so schnell wie während der Pandemie. Unternehmen, die vorher noch nie digital waren, verfolgen plötzlich einen Digital-first-Ansatz. Wenn es um die digitale Transformation geht, besteht Justina auf dem richtigen datengetriebenen Ansatz. Sie hat 2021 ein funktionsübergreifendes Performance-Marketing-Team aufgebaut. „Das hat mich auch viel gelehrt.“
Agentur als Sparringspartner
Dennoch sieht sie viel zu viele Marketer, die sich auf die Kreativität einer Agentur verlassen. „Ich sage immer, lasst es uns von innen heraus erarbeiten, denn niemand kennt und atmet die Marke so wie wir. Nutzen wir die Agentur als Sparringspartner und für die Umsetzung. Aber als CMO verlasse ich mich nie voll und ganz darauf, dass die Agentur alles richtig macht.“
Zweimal im Jahr veranstaltet sie mit ihrem Team einen Workshop, der sich als wildes Brainstorming entfaltet. Jede Idee zählt. Sie sieht die Herausforderung darin, zunächst Kreativität im Unternehmen aufzubauen und diese dann mit starker Innovationskraft, Know-how und einem Verständnis für Trends, insbesondere im Bereich Tech und Data, zu kombinieren, um am Ball zu bleiben. „So entsteht eine spannende Mischung aus Transformation, Kreativität, Fachwissen und kontinuierlichen Updates.“
Im Jahr 2015 wurde Justina im Alter von 38 Jahren CEO von Kunert, einem Modeunternehmen mit über 100-jähriger Tradition. Nach einer Planinsolvenz 2013 übernahm ein österreichischer Investor mit dem Ziel, das Unternehmen komplett neu zu starten. Das größte Hindernis, mit dem Justina konfrontiert war, war nicht ihr Alter, sondern Menschen aus ihrer Komfortzone in die Transformation zu bewegen. „Da war so viel Emotionalität in der Marke, viel Tradition, Innovation, aber das musste aufgefrischt werden.“
Der Moment der Wahrheit kam, als sie zum Werk in Tétouan, Marokko, mit 500 Mitarbeitern flog. „Unser Rohdiamant“, wie sie es nennt. Justina lernte Arabisch, weil sie aus ihrer Erfahrung als Polin wusste, wie schwierig es ist, Menschen zu berühren, wenn man ihre Sprache nicht spricht. „Als ich nach Deutschland kam und kein Wort Deutsch sprach, konnte es in der Schule ziemlich unangenehm werden.“
14 Tage lang setzte sie sich mit ihrem Lehrer zusammen, ihrem Lebenspartner und Mitbegründer von Samyju, halb Ägypter, halb Brasilianer, um zehn Sätze zu lernen, mit denen sie Menschen zuerst emotional berühren konnte. „Und dann muss man sich Tétouan vorstellen, vor 500 Leuten. Die Männer geben dir nicht die Hand, sie begrüßen dich nur mit einer Hand auf dem Herzen. Die Frauen schauen zu dir auf und denken: ‚Was macht eine Frau hier?‘ Und dann habe ich meine Rede auf Arabisch eröffnet.“
Sofort brach die Menge in Jubel aus. Der Investor aus Österreich sah sie beeindruckt und ungläubig zugleich an. Etwas war passiert, als Justina diese Gelegenheit nutzte, um die Stimmung zu heben. „Danach konnte ich alles, was ich wollte, in die Produktentwicklung einbringen. Sie waren an Bord.“
Hirn, Herz, Bauchgefühl, Umsetzungsfähigkeiten
Aus ihrer Sicht brauchen Marketer Hirn, Herz und Bauchgefühl sowie eine gehörige Portion echter Umsetzungsfähigkeiten. Hirn für scharfe Analysen, Herz für die nötige Emotionalität und ein Bauchgefühl für das, was für die Marke richtig ist.
„Wenn man das mit PS kombiniert, und damit meine ich Umsetzung, dann ist das für mich der Marketer der Zukunft.“ Sie erwartet auch Mut und Risikobereitschaft, die Komfortzone zu verlassen – etwas, das sie oft vermisst.
„Risiko bedeutet auch, etwas zu erleben, die Lernkurve zu erklimmen. In der Welt, in der wir uns derzeit bewegen, hat ein Marketer, der nicht extrem flexibel ist, keine Zukunft in diesem Geschäft.“ Anders ausgedrückt: Zukünftige Marketer müssen ganzheitliche strategisch-kreative Denker mit einer guten Portion Innovationsgeist sein.
Next Level CMO – das Buch
Dieser Beitrag stammt aus dem Buch Next Level CMO. Es stellt Marketer und CMO von führenden Marken wie Banana Republic, Bayer, Generali, Gucci, Jägermeister, Katjes, Oatly, Smart, Tony’s Chocolonely, Unilever, Zalando und vielen mehr vor. Wie sehen sie das heutige Marketing und ihre Rolle darin und welche Fähigkeiten braucht jeder CMO, um die Herausforderungen des Marketings in der Zukunft zu meistern?