Unter dem Codenamen „Project Amber“ hatte Alphabets Moonshot-Firma X drei Jahre lang an einem sehr ambitionierten Thema entwickelt und geforscht. Das Projekt sollte nicht weniger als den Biomarker für Depressionen und Angststörungen finden.
Den eindeutigen Biomarker für Depressionen gibt es nicht
Die Arbeitshypothese bestand in der Annahme, dass es einen einzelnen messbaren Indikator gibt, der die klare Diagnose Depression erlauben und dementsprechend auch Ansatzpunkte für eine entsprechende Therapie liefern könnte. Inzwischen betrachten die Forscher ihre Arbeitshypothese als widerlegt. Sie gehen nicht mehr davon aus, dass es den gesuchten eindeutigen Biomarker tatsächlich gibt.
Anstatt das Projekt nun einfach einzustampfen, werden die bisher erzielten Ergebnisse in Hard- und Software unter einer Open-Source-Lizenz freigegeben. Denn ganz nutzlos sind die Erkenntnisse nicht.
EEG-Antwort gibt vielversprechende Hinweise auf Depressionen
So waren die Forscher von X recht lange davon ausgegangen, mit verbesserter EEG-Technologie (EEG: Elektroenzephalogramm) zum Erfolg kommen zu können. Zunächst hatte es so ausgesehen, als hätten Menschen mit Depressionen eine signifikant niedrigere EEG-Aktivität in ungewöhnlichem Kontext.
So hatten die Forscher spezielle Spiele entwickelt, deren Frustrationen und Erfolge gezielt weit ausschlagen sollten. Menschen mit Depressionen hatten dabei gezeigt, dass bei ihnen das effektive Gewinnen dieser Spiele keine nennenswerten EEG-Reaktionen auslöste.
Die Studiensituation eignete sich naheliegenderweise nicht für die Diagnostik in einem medizinischen Setting. Die Forscher machten sich entsprechend an die Arbeit, das Verfahren zu optimieren und alltagstauglich zu machen. Dazu sollte die EEG-Technologie an sich verbessert werden. EEG sollten einfacher zu erstellen und einfacher zu interpretieren sein.
Die zentrale Idee bestand vor allem darin, die Messtechnik mit künstlicher Intelligenz zu paaren. So sollten per Big Data aus Standard-EEG-Berichten Muster erkannt werden können, die schlussendlich zu dem gesuchten Biomarker hätten führen können.
Günstiges EEG mit KI-Unterstützung
Der erste Schritt sollte darin bestehen, ein EEG-Gerät zu entwickeln, das kostengünstig, leicht bedienbar und tragbar, dabei aber dennoch qualitativ auf Laborniveau sein sollte. So entstanden zum Ende des Projekts EEG-Geräte, die stark an verkabelte Badekappen erinnern. Die EEG-Kappen konnten sowohl in Ruhe wie in Aktion verwendet werden.
Im Wege des Machine Learning wurden die EEG-Messungen ausgelesen und vom Signalrauschen befreit. Das Ziel bestand darin, die Auswertung und damit auch die Interpretation zu automatisieren. Erfolge stellten sich zwar ein, ließen aber den Durchbruch vermissen.
In vielen Interviews mit den diversen Beteiligten im Themengebiet psychischer Gesundheit sahen sich die Forscher mit verschiedenen Problemen konfrontiert, die letztlich zur Einstellung der weiteren Arbeiten geführt haben.
Diese Probleme behinderten den Fortschritt
So sahen sich die Forscher mit starken Vorbehalten vor allem aus dem klinischen Bereich konfrontiert. Diagnostiker wollten sich nicht auf den Apparat reduzieren lassen oder hielten ihre eigene medizinische Expertise für jeder Messtechnik überlegen. Weitere Vorbehalte spielten eine Rolle.
Zudem erkannten die Forscher, dass bei der Diagnose von Depressionen und Angststörungen, nicht nur objektive, sondern auch subjektive Daten von Wert sind. So könnte eine rein objektive Messmethode die Erkrankung nicht vollumfänglich abbilden, weil auch das gefühlte Befinden des Patienten und die Einschätzung des Therapeuten einen wesentlichen Teil der Beurteilung bedeutet.
Ebenso machten die Forscher die Erfahrung, dass ihrem KI-EEG als initiales Diagnose-Instrument eher mit Misstrauen begegnet wurde. Hingegen konnten sich viele Diagnostiker den Einsatz im laufenden Monitoring einer diagnostizierten Erkrankung gut vorstellen.
Dafür hätte das Gerät aber so konzipiert werden müssen, dass Betroffene es zu Hause verwenden hätten können. Hier spielten allerdings Vorbehalte Betroffener ins Spiel, denen nicht wohl war bei dem Gedanken, von einer Maschine für depressiv erklärt zu werden.
Soft- und Hardware freigegeben
Nachdem Alphabets X all diese Probleme nicht lösen konnte, hat sich das Entwicklerteam nun entschieden, sämtliche bisherigen Erkenntnisse frei zugänglich zu machen. Die Hoffnung ist, dass das Interesse dadurch skaliert und der Fortschritt, den X nicht erzielen konnte, auf diese Weise doch noch erreicht werden kann.
Die hinter Project Amber steckende Software wird auf Github veröffentlicht. Die Hardware-Designs gibt X ebenso frei und verspricht, entsprechende rechtliche Vorkehrungen zu treffen, dass jeder, der auf der Basis dieser Designs weiterforschen will, das auch kann, ohne sich Sorgen um patentrechtliche Fragen machen zu müssen.
Psychische Gesundheit ist eines der wichtigsten Themen der Neuzeit
Psychische Krankheiten sind weltweit auf dem Vormarsch. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO waren bereits im Jahr 2017 rund 322 Millionen Menschen von Depressionen und rund 264 Millionen von Angststörungen betroffen. Als Folge der Coronapandemie wird mit weiter steigenden Zahlen gerechnet.