Anzeige
Anzeige
Kolumne

Wir sind die Roboter: Performance, Perfektion, Planung, Kontrolle

Um die komplexen Anforderungen des modernen Lebens im Digitalzeitalter zu managen, schreiben wir ToDo-Listen und Tickets.  Julia Peglow aka jpeg darüber, dass uns die Denkstrukturen des Digitalzeitalters unweigerlich verändern – und es an uns liegt, wer oder was wir sein wollen.

Von Julia »jpeg« Peglow
5 Min.
Artikel merken
Anzeige
Anzeige

Liebes digitales Tagebuch, weißt du, was ich beschlossen habe? Ich werde nie mehr ToDo-Listen schreiben. Ja, ganz im Ernst! Weißt du, ich habe das viel zu lang getan. Diese wilden, schnellen Jahre, in denen ich Managerin einer Design-Agentur und einer Familie war. Mein Leben war vierundzwanzig Stunden am Tag geprägt von Tausenden von Dringlichkeiten, Details und Anforderungen, die der Alltag an mich herantrug.

Immer habe ich mir alles auf der ToDo-Liste notiert, was zu tun war, online und offline, digital und analog, auf Post-Its oder diversen digitalen Tools: eine Abgabe an den Kunden, Vertragsverhandlung für eine wichtige Ausschreibung, Kuchen backen für Schulfest, Angebote schreiben, Präsentationstermin vorbereiten, Einkaufslisten schreiben, Altglas wegbringen, Kieferorthopädentermin vereinbaren, Geburtstaggeschenke besorgen – ein Strom nie versiegender Business- und Familienaktivitäten.

Anzeige
Anzeige

Projektmanagement versus Leben

ToDo-Listen, Kalender- und Ticketsysteme und sämtliche digitalen Varianten davon sind effiziente Tools, die Komplexität des modernen Lebens zu managen – egal, ob es sich um die Familie oder ein Business handelt. Dahinter steht eine bestimmte Denkweise: Das Leben ein Projekt und ich die Projektmanagerin des Lebens. Was war mein Antrieb, meine Maxime in diesen linkgehirnigen ToDo-Listen-Jahren? Performance, Perfektion, Planung, Kontrolle: das Chaos des Lebens mit tougher Organisation, Struktur und Projektmanagement zu kompensieren.

Zu viele Projekte auf dem Tisch? Die Kinder krank und das Business läuft aus dem Ruder?? Das Tempo auf der Exponentialkurve der Digitalisierung zieht immer mehr an??? Kein Problem – lange war mein Credo, einfach das Level an Organisation und Projektmanagement hochzufahren, noch genauer zu planen, noch tiefer gehende Kontrolle, noch hochauflösendere ToDo-Listen schreiben.

Anzeige
Anzeige

Projektmanager:innen des Digitalzeitalters

Wenn man im digitalen Geschäfts- und Familienleben leistungsorientiert performen will, bleibt einem eigentlich nichts anderes übrig. Im digitalen Lifestyle laufen, wie in einem Echtzeit-Game of Thrones-Drehbuch, ständig mindestens sechsunddreißig Handlungsstränge parallel, überlagernd und sich überkreuzend, die Handlung springt ständig hin und her, jeder Handlungsstrang hat seine eigene Komplexität, erfordert seine eigene Planung, das ist das Tempo und das Multitasking des Digitalzeitalters, da muss man nicht nur Schritt halten, sondern immer einen Schritt voraus sein!

Unsere Arbeit im Digitalzeitalter ist geprägt von Real Time, Gleichzeitigkeiten und Parallelitäten, sie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern läuft wie Software Development unter „continuous improvement“, der Druck lässt nie nach, die Prozesse sind schon lange nicht mehr linear, mit „eins nach dem anderen“, wie es uns unsere geduldigen Eltern gelehrt haben, kommt man nicht mehr weit.

Anzeige
Anzeige
Julia Peglow

Julia Peglow hat „Wir Internetkinder“ geschrieben. Sie selbst beschreibt sich als Designstrategin, Autorin, Storyteller. (Foto: Hermann Schmidt Verlag)

Im Gegenteil, die Zeiträume ziehen sich immer mehr zusammen, man kickt das eine schon los, bevor das andere vorbei ist, die Vorbereitung ist die Bearbeitung ist die Nachbearbeitung. Keine Zeit für Pausen, Zwischenräume, Transition Phases. Dinge schon erledigt haben, bevor irgendjemand, die Kund:in, das Kind, die Lehrer:in oder Steuerberater:in überhaupt auf die Idee kommt zu fragen. Mit Effizienz, Projektmanagementmentalität, Disziplin und Schnelligkeit sämtliche Bälle in der Luft jonglieren.

Führt das nicht unweigerlich dazu, dass wir alle, die Projektmanager:innen des Digitalzeitalters, immer nur vordenken, nie mehr im Augenblick anwesend sind, immer zeitlich nach vorne versetzt, nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft agieren? Führt das nicht dazu, dass wir die menschliche, kreative Art, mit der Zeit umzugehen – mal spontan sein, mal dem Zufall eine Chance geben, mal Dinge aufschieben, mal gut Ding Weile haben lassen, mal Nägel mit Köpfen machen –, verlernen, zugunsten des brutalen Effizienzdenkens der ToDo-Liste, die jeden sich organisch entwickelnden Prozess überschreibt?

Anzeige
Anzeige

Käfer und ToDo-Listen-Roboter

Liebes Tagebuch, weißt du was? Eines Tages bin ich aufgewacht. Und habe festgestellt, dass ich mich zwar nicht in einen Käfer verwandelt habe, wie der arme Gregor Samsa in Kafkas seltsamer Erzählung „Die Verwandlung“ – aber dafür in einen superdurchstrukturierten, linksgehirnigen, metallisch glänzenden ToDo-Listen-Roboter. Ein Roboter, der sämtliche Geschehnisse und Erlebnisse um ihn herum danach scannt, was noch erledigt werden muss, der reibungslos nach seinem bulletpointartigen Skript performt – aber alles, was das Leben ausmacht, das, was fließt und alles zusammenhält, vergessen hat.

An diesem Morgen habe ich mich gefragt: Gleicht die Arbeit im Digitalzeitalter nicht sowieso einer riesigen, superdurchstrukturierten Datenbank, die der Welt und dem Leben ihre Logik, ihre Struktur aufdrückt? Das ganze Leben verhackstückt in Algorithmen, if-then-Befehlsketten und vorgestanzte Eingabefelder, nach deren Struktur ich mich als kleines Zahnrad im Digitalzeitalter brav richte und jede meiner Handlungen an die vorgegebene normierte Schablone anpasse, um die große Maschine am Laufen zu halten? Und fällt mir nichts anderes ein, als in vorauseilendem Gehorsam beflissen ToDo-Listen zu schreiben, ich, die perfektionierte Performance-Projektmanagerin des Digitalzeitalters? Wie ein Skript auf zwei Beinen? Nicht mit mir!

Alles, was nicht auf der ToDo-Liste steht

Irgendwann habe ich gemerkt, was mir vor lauter Bulletpoints, Effizienz, Struktur und Multitasking verloren gegangen ist: der Sinn dafür, was wichtig ist. Worum es eigentlich geht. Irgendwann fiel mir auf, welche Themen eigentlich nie auf meinen ToDo-Listen stehen: Verbindung und Beziehung mit Menschen. Schönheit. Flow. Liebe. Inspiration.

Anzeige
Anzeige

Wir schreiben unser eigenes Skript, wir können unsere eigenen Gehirne programmieren. Wir können ein Leben als Bulletpoint führen, ein Leben, das aus Punkten auf der ToDo-Liste besteht. Oder aber ein Leben abseits der ToDo-Liste. Wir haben immer die Wahl: auf die Struktur zu schauen. Oder den Inhalt. Die Struktur hat dabei immer einen Nebeneffekt: dass das Spielerische unweigerlich verloren geht.

Liebes Tagebuch, heute verspreche ich dir etwas: Ich werde lernen, mit dem Chaos zu leben. Ich werde ein Leben leben zwischen den Bulletpoints auf der ToDo-Liste. Ich werde die Graubereiche betreten und abwägen zwischen Planung und Improvisation. Ich werde immer nur so viel erledigen, wie ich mir merken kann. Mehr passt nicht rein in den Kopf. Und ich werde mich bemühen, mein menschliches, organisches Dasein aufrecht zu halten und nicht zur metallischen Kreatur zu werden – auch und gerade im Digitalzeitalter.

Good Reads

  • Kafka hat es schon 1912 gewusst – und die entfremdete Erfahrung im System beschrieben: Franz Kafka, „Die Verwandlung“
  • Wenn man nicht nur ToDo-Listen abarbeitet, kann das Ergebnis ein Lebenswerk sein: „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“, J.K. Rowling
  • Ich frage mich schon immer, ob Game of Thrones nicht eine riesige Allegorie des Digitalzeitalters ist; die Frage ist nur, was symbolisieren die weißen Wanderer? Corona? Oder den Klimawandel? „Song of Ice and Fire“, George R.R. Martin
Mehr zu diesem Thema
Fast fertig!

Bitte klicke auf den Link in der Bestätigungsmail, um deine Anmeldung abzuschließen.

Du willst noch weitere Infos zum Newsletter? Jetzt mehr erfahren

Anzeige
Anzeige
Schreib den ersten Kommentar!
Bitte beachte unsere Community-Richtlinien

Wir freuen uns über kontroverse Diskussionen, die gerne auch mal hitzig geführt werden dürfen. Beleidigende, grob anstößige, rassistische und strafrechtlich relevante Äußerungen und Beiträge tolerieren wir nicht. Bitte achte darauf, dass du keine Texte veröffentlichst, für die du keine ausdrückliche Erlaubnis des Urhebers hast. Ebenfalls nicht erlaubt ist der Missbrauch der Webangebote unter t3n.de als Werbeplattform. Die Nennung von Produktnamen, Herstellern, Dienstleistern und Websites ist nur dann zulässig, wenn damit nicht vorrangig der Zweck der Werbung verfolgt wird. Wir behalten uns vor, Beiträge, die diese Regeln verletzen, zu löschen und Accounts zeitweilig oder auf Dauer zu sperren.

Trotz all dieser notwendigen Regeln: Diskutiere kontrovers, sage anderen deine Meinung, trage mit weiterführenden Informationen zum Wissensaustausch bei, aber bleibe dabei fair und respektiere die Meinung anderer. Wir wünschen Dir viel Spaß mit den Webangeboten von t3n und freuen uns auf spannende Beiträge.

Dein t3n-Team

Melde dich mit deinem t3n Account an oder fülle die unteren Felder aus.

Bitte schalte deinen Adblocker für t3n.de aus!
Hallo und herzlich willkommen bei t3n!

Bitte schalte deinen Adblocker für t3n.de aus, um diesen Artikel zu lesen.

Wir sind ein unabhängiger Publisher mit einem Team von mehr als 75 fantastischen Menschen, aber ohne riesigen Konzern im Rücken. Banner und ähnliche Werbemittel sind für unsere Finanzierung sehr wichtig.

Schon jetzt und im Namen der gesamten t3n-Crew: vielen Dank für deine Unterstützung! 🙌

Deine t3n-Crew

Anleitung zur Deaktivierung
Artikel merken

Bitte melde dich an, um diesen Artikel in deiner persönlichen Merkliste auf t3n zu speichern.

Jetzt registrieren und merken

Du hast schon einen t3n-Account? Hier anmelden

oder
Auf Mastodon teilen

Gib die URL deiner Mastodon-Instanz ein, um den Artikel zu teilen.

Anzeige
Anzeige