Russland: Aus für das freie Internet

Im Gegensatz zu China war in Russland das Internet bislang relativ frei von staatlicher Kontrolle und konnte unter diesen Bedingungen echte Alternativen zu den großen amerikanischen Tech-Plattformen entwickeln: Yandex, die russische Suchmaschine, hat im Land einen viel größeren Marktanteil als Google. Das soziale Netzwerk VK bot schon früh beliebte Features wie das Teilen von Musik und Videos und konnte seine Vormachtstellung stets gegenüber Facebook verteidigen. Das Netz war der Ort, an dem russische Bürger jahrzehntelang die Freiheit spüren konnten, die sie in der Offline-Welt oft vermissten.
Seit dem 1. November 2019 könnte es damit vorbei sein – dem Tag, an dem das Gesetz zum „souveränen Internet“ in Kraft getreten ist.
Souverän, so sagen die Schreiber des Gesetzes, das bedeutet Sicherheit vor gefährlichen Inhalten, aber auch Unabhängigkeit vom Ausland und seinen schädlichen Einflüssen. Alle Internetprovider müssen eine mächtige Filtertechnologie zwischenschalten, mit der der Staat potenziell jedes Datenpaket überwachen und manipulieren kann. Auf Wunsch könnten Zugriffe auf bestimmte Angebote gedrosselt oder geblockt werden. Im Notfall, etwa während Protesten oder vor Wahlen, so das Gesetz, könnte man Teile des russischen Internets sogar komplett vom Ausland abkoppeln.
Souverän, so sagen die Kritiker des Gesetzes, wolle lediglich der Staat im russischen Internet werden. Wenn die Technologie funktioniert, käme das einer potenziellen Totalüberwachung gleich. Dazu hat das Gesetz eine symbolische Wirkung – als schwerster Angriff auf ein freies Internet, das man in Russland über Jahrzehnte zu schätzen gelernt hat.
Überwachen, kontrollieren, manipulieren
Wie der Staat reagiert, wenn man ihn kritisiert, haben Aktivisten schon vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zu spüren bekommen. Als Zehntausende Moskauer in diesem Sommer auf die Straße gingen, wussten sie, dass es kein Spaziergang werden würde. Sie protestierten für freie Wahlen. Doch kaum jemand hatte am 27. Juli 2019 ein so massives Einschreiten des Kremls erwartet: Man rechnete nicht mit der Zahl von 1.373 Menschen, die festgenommen wurden. Man rechnete nicht mit den Schlagstöcken der russischen Nationalgarde, die auf Männer und Frauen, gleich welchen Alters, immer wieder niedergingen. Und man rechnete nicht mit dem, was mit den Geldautomaten in den Innenstädten passierte: Sie funktionierten nicht mehr. Auch die Handys vieler Demonstranten konnten sich nicht ins Internet einwählen. Die Anbieter erklärten das mit einer Überlastung des Netzes. In den folgenden Wochen trugen einige Aktivisten Geräte mit sich, um den Datenstrom exakt zu messen.
Spätestens am 31. August hatten sie dann den Beweis: Bei einigen Providern waren die 3G- und LTE-Frequenzen nicht mehr verfügbar, Telefonieren war jedoch noch möglich. Das Internet war nicht überlastet. Es war abgeschaltet worden.
Gesperrte Seiten sind erst der Anfang
Der russische Staat will die volle Kontrolle darüber, was die Bürger im Internet sehen und schreiben können, glaubt Wladislaw Sdolnikow. Der Blogger und IT-Spezialist ist einer der profiliertesten Experten zum Thema Internetblockierungen in Russland. „Natürlich träumt die Präsidialverwaltung davon, Youtube, Twitter und Facebook abzuschalten. Aber sie versteht auch sehr gut, dass sie das nicht von einem Moment auf den anderen machen kann“, sagt der 30-jährige. Denn das würde zum einen für Proteste in der Bevölkerung sorgen. Zum anderen könnte man die Sperre derzeit noch recht einfach umgehen – beispielsweise, wenn man mithilfe eines VPN-Zugangs vorgibt, gar nicht in Russland zu sein.

Wie können wir gesünder arbeiten und länger leben? t3n 58 geht dieser Frage nach. (Grafik: t3n)
Noch ist unklar, ob die Kontrolle des Internets so gelingen wird, wie sich der Kreml das vorstellt. In der Vergangenheit führten die Versuche des Staates, einzelne Anbieter zu sperren, auch zu größeren Ausfällen ganzer Dienste wie Netflix oder Dropbox, die zufällig an derselben Cloud-Infrastruktur wie das Ziel der Sperrung hingen.
In der t3n Nr. 58 hat Journalist Jan Lindenau in Moskau mit Aktivisten und IT-Experten gesprochen und geht der Frage nach, wie man Putins Netz noch entkommen kann.