Scrollytelling: Die Königsdisziplin des Multimedia-Journalismus
Multimedia-Storytelling, -Longform oder Scrollytelling?
Immer wieder haben es in den vergangenen Monaten und Jahren einzelne journalistische Werke ins Rampenlicht geschafft, die mit der üblichen Praxis brechen. Es gibt viele Namen für dieses Phänomen beziehungsweise diese Art von journalistischen Texten und es ist schwer, hier eine Abgrenzung zwischen den einzelnen Fachbegriffen zu finden: Scrollytelling? Multimedia-Longform? Multimedia-Storytelling?
Gemeinsam haben die Stücke die Tatsache, dass sie – mal mehr, mal weniger – aus dem Layout ihrer bestehenden Medien ausbrechen (falls sie überhaupt bei einem großen Medium erschienen sind) und über ein individuelles, auf das spezielle Stück zugeschnittenes Layout und Design verfügen. Dabei machen sie meistens Gebrauch von aktuellen Web-Technologien und multimedialen Inhalten und sind oft responsive, also für alle Bildschirmgrößen gestaltet. Oft stehen die Artikel gar als eigenständige Einheit dar und werden auch technisch komplett aus ihrem Mutter-Medium ausgegliedert, sind also komplett eigenständige Webseiten.
Das Ganze ist eine absolut logische und überfällige Entwicklung. Mit dem Voranschreiten der Web-Technologien und vor allem der besser werdenden Browser-Kompatibilität gibt es inzwischen viele Techniken, die einen einfachen Text zu einem unverwechselbaren Gesamteindruck verwandeln können. Leider machen noch viel zu wenige Autoren, Verlage oder Blogger davon Gebrauch.
Technische Effekte müssen zum Inhalt passen
Die technischen Möglichkeiten sind riesig und der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt, was die Konzeption solcher Webseiten angeht. Natürlich sollten die technischen Effekte immer die Intention und den Inhalt des Texts unterstützen. Will der Autor den zeitlichen Verlauf eines Ereignisses darstellen, bietet es sich zum Beispiel an, Text-Fragmente an einer womöglich interaktiven Zeitleiste aufzureihen. Will er lokale Zusammenhänge verdeutlichen, sollten Information eher auf einer Landkarte angeordnet werden. Und will er Bilder oder Videos in den Vordergrund rücken, bietet es sich an, sie möglichst großflächig zu gestalten und nicht nur einige hundert Pixel breit in ein Spaltenlayout zu pressen.
Dadurch, dass Multimedia-Longforms sich oft aus dem Layout eines Mediums herauslösen, können in dieser Disziplin auch existierende Regeln und Konventionen durchbrochen werden. Schriftarten und Schriftschnitte können anders gewählt werden, sodass sie die Aussage des Textes unterstreichen. Geht es um zukunftslastige oder fiktive Themen, bietet sich offensichtlich eine futuristische, serifenlose Schrift an, werden hingegen historische Zusammenhänge aufgezeigt, bringt vermutlich eine klassische Schrift die Aussage besser rüber. Eine kreative Maßnahme, die Autoren bei den meisten Medien im Alltag meistens verwehrt bleibt.
Natürlich erfordern Multimedia-Longforms deutlich mehr Arbeit, als nur Text, Bilder, Links und Videos in ein CMS zu kippen. Die wenigsten Journalisten dürften technisch versiert genug sein, um eine entsprechende Seite selbst gestalten zu können. Oft werden diese Stücke deshalb in großen Teams (16 Mitarbeiter im Fall von „Snow Fall“) und mit riesigen Budgets (Es wird vermutet dass die Kosten für „Snow Fall“ im sechs- bis siebenstelligen Bereich lagen) umgesetzt. Nichtsdestotrotz sollte ein Online-Journalist heutzutage aber genug von HTML und CSS verstehen, um zu wissen, welche grundlegenden Möglichkeiten ihm Web-Technologien ermöglichen, sodass ein solches Stück mit einem fähigen Entwickler zusammen schnell und zielstrebig umgesetzt werden kann.
Außerdem muss es ja für den Anfang auch nicht gleich ein Artikel vom Umfang und der technischen Raffinesse von „NSA Files: Decoded“ sein. In vielen Fällen verhilft man einem guten Text schon mit einfachen Mitteln zu einer deutlich intensiveren Wirkung. Bildformate, die in der Breite die gesamte Seite einnehmen und individuelle Schriftarten sind technisch schnell umgesetzt. Wer über Videomaterial verfügt, kann auch das schon mit einfachen Mitteln elegant in den Text einbetten, denn allein die Anpassung eines YouTube-Embeds auf eine individuelle, zum Layout passende Größe kann schon eine angenehme Abwechslung für den Leser sein.
Multimedia-Storytelling: Auch für kurze Stücke eine gute Idee
Viele Artikel aus unserer aktuellen Liste sind tatsächlich „Longforms“ im wahrsten Sinne des Wortes. Das heißt, einige dieser Artikel erreichen Längen von 10.000 Wörtern und mehr. Bei diesen Stücken ist natürlich der Drang stärker, sie in einem individuellen Layout zu setzen, da die Monotonie nach mehreren Seiten Standard-Formatierung doch spürbar wird. Aber inzwischen finden sich auch immer mehr Artikel, deren Umfang nicht außerordentlich groß ist und die trotzdem von einem individuellen Layout profitieren (Zum Beispiel „Machines for Life“ des Pitchfork-Magazins).
Natürlich sollte es kein Publisher mit solchen Experimenten übertreiben, aber davon sind wir zumindest in Deutschland noch meilenweit entfernt. Nach einigen Stunden Recherche konnten wir nur etwa eine Handvoll solcher Multimedia-Stücke in deutscher Sprache entdecken. Alle drei haben es in unsere Liste der besten Multimedia-Longforms geschafft.
Wenn also ein Medium solche Stücke im Wochentakt veröffentlicht, gewöhnt sich der Leser schnell an diese Formate und wird sie nicht mehr so oft anklicken. Entscheidendes Kriterium bei der Umsetzung eines solchen Storytelling-Projekts sollte daher immer die Qualität des Textes sein. Ein schlechter Text wird auch durch sämtliche Multimedia-Register nicht gerettet. Aber einem vielversprechenden Text oder einer vielversprechenden Recherche, die exklusive oder emotionale Inhalte mitbringt, kann durch ein passendes Layout die Krone aufgesetzt werden.
Eine ergänzende Betrachtung, nicht nur zum Storytelling, sondern zur gesamten „digitalen Haptik“ gibt es hier beim Upload Magazin:
http://upload-magazin.de/blog/8005-digitale-haptik/
Dass der Autor nur eine Handvoll solcher Geschichten in deutscher Sprache entdeckt habt, liegt vielleicht auch daran, dass er nur die großen Verlagshäuser im Blick hatte. Wir haben zum Beispiel mit unserem Regensburger Studentenmagazin ebenfalls ein Scrollytelling-Stück gemacht, das die Geschichte der Uni Regensburg Ende der 60er Jahre erzählt: http://www.lautschrift.org/in-grauer-vorzeit
In Anbetracht der Tatsache, dass wir „In grauer Vorzeit“ zu zweit und ohne professionelle Hilfe im technischen Bereich geschafft haben, glaube ich, dass es bei „den Großen“ v.a. am Willen scheitert.
Habe gerade auch ein schönes Beispiel bei der Süddeutschen Zeitung gefunden: In der App der Süddeutschen Zeitung im Jahresrückblick 2013 wird der Prozess zu Beate Zschäpe toll mit Scrollytelling dargestellt.
Wirklich interessanter Artikel! Erst beim zweiten Hinsehen habe ich festgestellt, dass da nicht Storytelling, sondern Scrollytelling steht.