Social Media: * 2006, † 2016

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2016 sind Soziale Medien für mich in ihrer herkömmlichen Form gestorben. Etwa zehn Jahre, nachdem Social Networks im Fahrwasser des Web 2.0 zum Massenphänomen avancierten und Facebook mit der Einführung des Newsfeeds das Fundament für einen beispiellosen Aufstieg legte, ging damit aus meiner Sicht eine Ära zu Ende. Seit November habe ich meine Nutzung feed- (und story-)basierter sozialer Netzwerke massiv reduziert. Twitter verwende ich nur noch für Direktnachrichten und als Push-Kanal für mein Blog. Bei Facebook poste ich kaum noch individuelle (nicht-automatisierte) Inhalte. Beim Ansteuern von facebook.com blendet eine Browser-Erweiterung den Newsfeed aus. Auch bei Snapchat (das ich ohnehin kaum ernsthaft verwendet habe) und Instagram lasse ich mich nur noch selten blicken. Ich fühle mich damit richtig gut.
Diese Maßnahmen sind das Ergebnis einer nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkulation. Zehn Jahre lang überstieg in meinen Augen der wahrgenommene Nutzen von Social Media die Kosten. 2016 ging diese Rechnung nicht mehr auf. Plötzlich empfand ich die auf One-to-Many-Kommunikation ausgerichteten sozialen Netzwerke eher als Last denn als Segen. Nach einigen Monaten der Selbstbeobachtung war der Punkt gekommen, ein Kapitel zu schließen und dem ständigen Konsumieren von Social Feeds sowie dem eigenen, permanenten lauten Denken in 140 Zeichen den Rücken zu kehren.
Was ich gerade als Kosten bezeichnete, möchte ich kurz näher erläutern:
Gruppendenken und Mob-Mentalität
Das täglich in sozialen Medien zu beobachtende Gruppendenken und die damit verbundene Mob-Mentalität sind nicht mehr zu ertragen. Es spielt dabei keine große Rolle, ob die Intentionen „gut” sein mögen, oder ob es sich um böswillige Zusammenrottungen von Fanatikern und Trollen handelt. Die Effekte sind immer problematisch, weil sie Differenzierungen unmöglich machen. Die Ursachen für diese Dynamiken liegen zwar in der Struktur des menschlichen Denkens. Sie werden aber vom Informationsdesign der sozialen Netzwerke massiv verstärkt. Wenn ein neues Medium Menschen dazu verführt, nur noch stur in „Wir vs die“-Bahnen zu denken und zu argumentieren, dann sollten alle Alarmglocken klingeln.
Zeitverschwendung und Prokrastination
Erst wenn man aufgehört hat, am laufenden Band irgendwelches Zeug bei Twitter und Facebook zu posten und den eigenen Tagesablauf durch den andauernden Konsum der Beiträge anderer User in viele Kleinteile zu fragmentieren, merkt man, wie viel Zeit einem plötzlich zur Verfügung steht. Konzentriertes Arbeiten ist weitaus einfacher, wenn es einem nicht ständig in den Fingern zuckt, nur kurz den Feed zu checken.
Suchtaspekte und gefühlter Klickzwang
Dass die Verwendung sozialer Netzwerke für viele Nutzer Zwangs- oder gar Suchteffekte mitbringt, ist kein Zufall: Die Entwickler der Dienste machen in der Umsetzung von verschiedensten psychologischen Kniffen Gebrauch, um im Gehirn bestimmte, teilweise evolutionsbiologische Prozesse in Gang zu setzen, denen Individuen nur mit großer Anstrengung widerstehen können. Bei jeder Fahrt in der Bahn oder im Bus kann man Smartphone-Anwender dabei beobachten, wie sie scheinbar willkürlich wiederholt Apps öffnen, ein bisschen herumscrollen, schließen, und sie kurz darauf wieder öffnen. Der Mensch als temporäre, willenlose Klickmaschine. Kein sonderlich attraktiver Zustand, oder? Das denke ich mir zumindest jedes Mal, wenn ich mich dabei ertappe.
Narzissmus und Like-Sucht
Immer mehr Studien und Anwenderbefragungen kommen zu dem Schluss, dass signifikante Teile der regelmäßigen Social-Media-Nutzer negative Emotionen verspüren, wenn sie im Feed die scheinbar perfekten Lebensentwürfe ihrer Kontakte sehen. Viele wissen sich nicht anders zu helfen, als ihrerseits beim Wetteifern um die perfektesten Urlaubsselfies und meisten Likes mitzumachen. Das Bedürfnis, sich mit anderen zu vergleichen, die daraus resultierende latente Unzufriedenheit sowie die Sehnsucht danach, gemocht zu werden, liegen in der Natur des Menschen. Bei One-to-Many-Kommunikationsplattformen führt dies sehr schnell zu destruktivem Verhalten. Für Individuen genauso wie für die Gesellschaft als Ganzes.
Echo-Kammern und Desinformation
Die ganze Fake-News-Debatte haben wir nur, weil Social Networks es mit ihrer enormen Reichweite und dem Wettbewerb um Aufmerksamkeit sowie den strukturellen Anreizen zur Suche nach ständiger Bestätigung eigener Ansichten für ideologisch oder finanziell motivierte Akteure hochgradig attraktiv und effektiv machen, systematisch Falschmeldungen im Umlauf zu bringen. Dass die damit einhergehende Desinformation und Relativierung des Wahrheits-Begriffs eine Bedrohung für aufgeklärte, moderne Demokratien sind, steht für mich mittlerweile, nach allen Ereignissen der letzten Monate und Jahre, außer Frage.