In der Grundschule haben wir gelernt, dass Buchstabe für Buchstabe zu einem Wort und jedes Wort schließlich zu einem Satz zusammengefügt werden müssen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Lehrerin Frau Gutsmann mich tadelte, sobald ich ein Wort übersprungen habe. „Stopp, nochmal zurück. Was kommt vor Baum?“, sagte sie dann genervt. Vor allem Präpositionen und Artikel habe ich oft unterschlagen. Nicht, weil ich sie nicht lesen konnte. Ich habe sie wahrgenommen und verstanden, aber sie waren es mir nicht wert, laut ausgesprochen zu werden. „Vor dem Baum!“, stöhnte ich zurück. Frau Gutsmann verstand nicht, was ich tat.
Schnelllesen lernen: Das Prinzip Speed-Reading
Anna Jones kann über diese Form des Lesens nur lachen. Sie hat das Überspringen von Wörtern nahezu perfektioniert. Jones hält den Weltrekord im sogenannten Speed-Reading, einer Technik, die es Lesenden ermöglicht, Texte in Rekordgeschwindigkeit zu verschlingen. 47 Minuten soll sie für den Wälzer „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ von J. K. Rowling benötigt haben, was einen Lesewert von 4.251 Wörtern pro Minute ergibt. Zum Vergleich: Ein durchschnittlich geübter Leser, der keine Schnelllese-Techniken anwendet, schafft in etwa 250 Wörter pro Minute. Unter Nicht-Lesern gelten solche Menschen schon als Leseratten.
Die Herausforderung beim Speed-Reading ist es, Texte nicht nur schnell zu lesen, sondern den Inhalt auch zu verinnerlichen. Um die Fähigkeit des Schnelllesens einer Person messen zu können, müssen Lesegeschwindigkeit und Textverständnis gleichzeitig geprüft werden. Die daraus resultierende Lesekompetenz darf unter der Lesegeschwindigkeit nicht leiden. Untersuchungen des US-Wissenschaftlers Ronald P. Carver zufolge, passiert jedoch genau das in ungefähr antiproportionalem Verhältnis. Sobald die Geschwindigkeit verdoppelt wird, halbiert sich quasi das Verständnis. Jedoch erst ab einer individuellen Schmerzgrenze.
In einem Selbstversuch habe ich einen Lesewert von circa 280 Wörtern pro Minuten geschafft, bevor ich das Gefühl hatte, nicht mehr zu verstehen was ich da gelesen habe. Da ist noch gehörig Luft nach oben. So wie Anna Jones würde ich auch gerne lesen können. Nur wie? Längst gibt es dutzende Seminare, die Interessierte unterrichten. Vor allem an juristischen Fakultäten werden Studierende im Schnelllesen geschult. In vielen Fächern wäre der Stoff, der in Abschlussprüfungen abgefragt wird, anders gar nicht mehr zu schaffen. Doch auch praktizierende Anwälte scannen Prozessakten und Gerichtsurteile häufig mithilfe derartiger Techniken.
Tatsächlich kosten simple Speed-Reading-Kurse locker um die 300 Euro pro Person. Geld, das ich nicht ausgeben möchte. Glücklicherweise gibt es zahlreiche Smartphone-Apps auf dem Markt die versprechen, es einem beizubringen. Über Product Hunt, einer Community-Plattform auf der Nutzer neue Tools bewerten können, bin ich beispielsweise auf „Spdr – Speed Reading“ aufmerksam geworden. Laut dem Nutzer Enzo angeblich das Schweizer Taschenmesser der Schnelllese-Apps. Über 226 Upvotes, also das sinngemäße Gegenstück eines Facebook-Likes, machen mich neugierig. Die Basis-App ist kostenlos. Gut so!
Speed-Reading-App: Was Spdr kann – und was nicht
Die Installation ist gewohnt einfach. Ich teste „Spdr“ auf meinem iPhone SE. Per Fingerabdruck bestätige ich den Download, der Rest passiert von alleine. Cool ist, dass die Entwickler mir vor der Nutzung ein Tutorial einblenden, quasi einen Crashkurs zur besseren Bedienung. Sinn der App ist es, einzelne Wörter eines Textes hintereinander abspielen zu lassen – in einer selbstgewählten Geschwindigkeit. Bis zu 1.000 Wörter pro Minute können Anwender mithilfe eines Reglers festlegen. Eine Geschwindigkeit, die nahezu rasend schnell auf mich wirkt. Ich entscheide mich insofern für weniger: 100 Wörter sind voreingestellt, ich starte mit 250 als Zielwert.
Um einen Text in die App zu ziehen können Nutzer auf verschiedene Funktionen zugreifen. In der Kostenlos-Version lassen sich Texte per Copy & Paste in ein Feld einfügen. Es ist aber auch möglich, in dasselbe Feld lediglich einen Link einzubetten, aus dem der dahinterliegende Text extrahiert wird. Letzteres hat jedoch schlecht funktioniert, denn „Spdr“ hat auch Code-Schnipsel übernommen – wie beispielsweise HTML-Befehle der Verlinkungen im Text. Ein fieser Fehler, dessen Behebung die App um einiges benutzerfreundlicher machen würde. Ganze Artikel zu kopieren und anschließend einzufügen, ist mehr als unbequem.
„Ein durchschnittlich geübter Leser, der keine Schnelllese-Techniken anwendet, schafft in etwa 250 Wörter pro Minute.“
Dabei wollen die Entwickler ganz offensichtlich mehrere Zielgruppen ansprechen – auch die Nachrichtenkonsumenten. In der Bezahl-App ist beispielsweise ein Apple-News-Zugang genauso enthalten wie eine Schnittstelle zu Google Books, wo Nutzer spannende Bücher via EPUB-Format – einem offenen Standard für E-Books – auslesen können. Für 5,99 Euro können diese Funktionen per In-App-Kauf hinzugebucht werden. Sogar Smartphone-Fotos von Buchseiten lassen sich auslesen. Für meinen Testlauf verzichte ich darauf jedoch zunächst und entscheide mich fürs Einfügen des Textes per Copy & Paste. Was nicht ist, kann ja noch werden.
Sobald der Inhalt eingesetzt und ausgelesen wurde, geht die Speed-Reading-Reise los. Ich muss dafür lediglich meinen Daumen auf die Benutzeroberfläche platzieren und gedrückt halten: „Press & hold to start“ heißt es. Sofort rasen die einzelnen Wörter über den Screen, eines gefolgt vom anderen, während der Rest der kleinen Elemente in der App ausgeblendet bleibt. Lediglich eine dezente Werbebotschaft am oberen Bildschirmrand begleitet die weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund. Leider jedoch mit etwas Ruckeln und Zucken, da es sich um ein animiertes Banner handelt. Abgelenkt fühle ich mich trotzdem nicht. Immerhin.
Am Ende des Versuchs gibt die „Spdr“-App mir noch einmal den Hinweis, wie viele Wörter ich in der Zeit geschafft habe. Ansonsten werde ich mit dem Ergebnis ziemlich allein gelassen. Hier liegt auch der Unterschied zwischen Seminaren und Smartphone-Anwendungen: im Seminar wird das Gelesene im Anschluss auch abgefragt. Ein Test sieht dann in etwa so aus, dass je nach Länge des Textes ein gutes dutzend Fragen vom Seminarleiter gestellt werden. Je mehr Fragen ein Schüler richtig beantworten kann, desto klarer ist, wo die vorläufige Grenze der Lesekompetenz liegt und ab welcher Marke es sich lohnt weiter zu üben.
Nützlich ist die App dennoch. Nicht nur, dass sie eine Anbindung zum Netz ermöglicht, um auf die schier unendlichen Inhalte darin zuzugreifen. Durch das wechselnde Einblenden der Wörter wird der Anwender von einem Problem befreit, das beim Speed-Reading häufig auftritt: Da sich das Auge beim Lesen nicht gleichmäßig von einem Wort zum nächsten bewegt, sondern vor und zurück springt, geht viel Zeit verloren. Ein Umstand, den man in Kursen versucht zu eliminieren, indem ein Stift zur Hilfe genommen wird. Der signalisiert dem Auge worauf es sich konzentrieren soll. Dank der App kann man sich den Stift schon einmal sparen.
Speed-Reading funktioniert, braucht jedoch einiges an Übung. Eine Smartphone-App wie „Spdr“ kann da helfen. Auch andere Programme wie Outread, die schon länger am Markt sind und somit womöglich fehlerfreier funktionieren, müssen natürlich erwähnt werden. Outread hat eine ähnliche Funktionsweise, die Wörter werden jedoch nicht einzeln angezeigt, sondern im Rahmen eines Textes farblich markiert. Die Markierung wandert durch den Text und sagt dir, was du lesen sollst. Die Geschwindigkeit des Wechsels von einem Wort zum anderen kann eingestellt werden, aber auch hier fehlt ein Prüfungsmodul.
Speed-Reading-Profis lesen gleich mehrere Zeilen
Abschließend kann man sagen, dass die digitalen Helfer lediglich ein guter Einstieg sind, um sich dem Thema anzunähern. Fortgeschrittene löschen die Apps schnell wieder, denn wer echtes Speed-Reading verinnerlicht hat, liest schon bald mehrere Zeilen eines Buches gleichzeitig. Wie das gehen soll? Etwa indem Lesende ihre Blickspanne erweitern – sie ignorieren quasi die Ränder des Textes. Ihre Augen wandern in die Mitte der Zeile und gleiten dort von oben nach unten über die Seite. Was links und rechts steht, wird quasi nebenbei erfasst. Die wiedererkannten Wörter fügt das Gehirn zusammen und erschließt sich so die Zusammenhänge.
Das ist jedoch richtiger Profi-Kram. Quasi das, was Weltmeisterin Anna Jones macht, wenn sie hunderte Seiten unter einer Stunde liest. Nochmal zur Erinnerung: 4.251 Wörter pro Minute – das ist phänomenal, wie ich im Rahmen meines Selbstversuchs nun noch besser einzuschätzen weiß. Fraglich bleibt jedoch, ob Jones die Harry-Potter-Bände genauso genossen hat, wie ich es als Kind tat. Zu wissen, was ein Muggel oder das Gleis 9 ¾ ist, ist das eine. Ob sie bei der Geschwindigkeit auch emotional in das Buch eingetaucht ist, darüber erfahre ich nichts. Es wäre doch schade, wenn der Zauber darin für sie nicht über den einer Prozessakte hinausgegangen ist.
Schrecklich. Ich lese doch zum Entspannen. Da bin ich froh, wenn ein Buch ein paar Tage/Wochen hält. Auch bei der Arbeit ist das Lesen meistens eine entspannende Tätigkeit, die mir mehr Kapazitäten für spätere Tätigkeiten lässt.
schneller, höher, weiter. Jetzt auch beim Lesen.
Was kommt als nächstes?
Schnell lesen am Bildschirm fiel mir immer recht schwer.
Habe dann „Spritz“ vor einiger Zeit gefunden: http://www.readsy.co/ damit kann man sich Texte sehr schnell einverleiben. Mit ein bisschen gewohnheit kommt man schnell auf 300-350 wpm (Worte pro Minute), als als „Nicht-Leseratte“ und ohne Speedreading-Kurs. Dort werden die Worte, von der Psychologie optimiert, alle einzeln angezeigt. Jedoch an unterschiedlichen Stellen mit unterschiedlichen Highlights. Man überliest nicht und die Geschwindigkeit ist hoch – die Aufnahme im Gehirn wird hier optimiert.
Mit dem „Spritzlet“ lässt es sich in Firefox (bisher nur PC) direkt von Webseiten Aufrufen und ohne Umstände den Seiteninhalt schnelllesen.
Platon würde sich im Grab umdrehen!
Das ist doch wie Fast Food, möglichst viel, in möglichst kurzer Zeit verschlingen. Aber hat man es denn auch genossen? Gerade bei Literatur geht es doch eigentlich nicht nur um das was da geschrieben steht, sondern auch das wie. Und wenn man das sooo schnell liest, kann man doch gar nicht darüber nachdenken. Oder die ganzen Bilder, die beim Lesen im Kopf entstehen. Wenn dabei überhaupt was kommt, dann doch höchstens wie damals bei einer vorgespulten VHS. Im beruflichen Alltag mag das ganze vielleicht noch Sinn machen, aber selbst da habe ich meine Zweifel.