Ex-Zalando-GMD: Marketing muss Chefsache sein
Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass vor 15 Jahren zu Beginn der Karriere von Laura Eschricht die Unternehmen den Internetzugang auf den Computern ihrer Mitarbeiter gesperrt hatten. Oder dass der Job als Website-Manager als eine Sackgasse galt. Alles, was heute selbstverständlich ist, war damals Neuland: Social Media gab es noch nicht, E-Commerce war völlig neu und Online-Marketing stand erst ganz am Anfang.
Marketeer-Playbook war früher einfacher
Früher war das Playbook eines Marketeers viel einfacher. Es gab Printwerbung, TV-Spots, Out-of-Home-, Radio- und vielleicht Kinowerbung, und die Medien hatten noch ein Informationsmonopol. Die Kommunikation war meist einseitig: Eine Marke sprach zum Verbraucher, und es gab kaum eine Rückmeldung. Heute ist der Verbraucher besser informiert und involviert als je zuvor. Soziale Medien haben jedem eine Plattform gegeben, und die Menschen suchen Dialog und Kommunikation in beide Richtungen nicht nur mit Marken, sondern auch mit Content Creators und Influencern.
„Marketeers müssen besser informiert und agiler sein als je zuvor“, sagt Laura. Und der Strom der Innovationen hört dort nicht auf. Zum Beispiel können Marken jetzt im Metaverse präsent sein, einem halb virtuellen, halb realen Raum.
TikTok ist während der Pandemie als neue Social-Media-Plattform rasant gewachsen und hat es allein in Deutschland auf über zehn Millionen Nutzer gebracht, von denen viele ausschließlich auf TikTok unterwegs sind und keine anderen sozialen Plattformen nutzen. „Ich frage mich, wann hat es sonst so grundlegende Veränderungen im Marketingbereich gegeben? Wahrscheinlich noch nie.“
Und solche Beispiele gibt es viele. Nehmen wir die Rückkehr der QR-Codes. Alle dachten, sie seien tot. Als sie zum ersten Mal als faszinierende Möglichkeit eingeführt wurden, weitere Informationen bereitzustellen oder auf eine andere Website zu verlinken, wollte sich niemand die Zeit nehmen, sie zu scannen. Jetzt hat die Pandemie QR-Codes in den Alltag gedrängt, und plötzlich sind sie Teil unserer normalen Routine geworden.
Testen und daraus lernen
Für das Marketing bedeutet das: Wenn wir jetzt irgendwo einen QR-Code einfügen, scannen die Leute ihn viel eher, weil die Pandemie uns geholfen hat, dieses Medium in unser Leben zu integrieren. „Als Marketeer muss man schnell handeln. Aber das Schöne ist, dass man viele Dinge einfach testen und daraus lernen kann.“
So geschah es im Frühjahr 2021, als Clubhouse scheinbar aus dem Nichts auftauchte und mehrere Wochen lang einen Hype erlebte. Alle fragten sich: Sollte unsere Marke auf Clubhouse sein? „Und dann kann man es einfach ausprobieren. Man kann etwas veranstalten, und wenn es nicht funktioniert, und ich persönlich habe den Eindruck, dass Clubhouse massiv nachgelassen hat, dann kann man es einfach wieder sein lassen.“
Dennoch, stellt Laura fest, muss das Marketing im Vergleich zu vor 15 Jahren viel analytischer und faktenorientierter sein. „Dieses stereotypische Marketing, das nur aus schönen Bildern besteht, existiert nicht mehr, denn man muss alle verfügbaren Daten und Erkenntnisse nutzen, um fundierte Entscheidungen zu treffen.“
Gleichzeitig ist das Marketing eine wichtige funktionsübergreifende Abteilung, und man muss in der Lage sein, dieselbe Sprache zu sprechen wie andere Abteilungen, etwa die Finanzabteilung. „Wenn ich also mit dem CFO darüber sprechen muss, ob mein Budget gekürzt werden kann oder nicht, kann ich nicht sagen: ‚Aber der TV-Spot hat allen gefallen.ʻ Das wird nicht reichen. Ich muss der Organisation anhand von Daten und KPIs beweisen, dass meine Abteilung nicht nur eine Kostenstelle ist, sondern wirklich ein wichtiger Werttreiber.“
Karriere in der Kosmetikbranche
Laura hat die meiste Zeit ihrer Karriere in der Kosmetikbranche verbracht. Was sie an dieser Branche so begeistert, ist nicht nur die Tatsache, dass Kosmetikkonzerne marketingorientierte Organisationen sind, sondern auch, dass Marke und Markenaufbau im Mittelpunkt jedes Unternehmens stehen. Sie arbeitete fast ein Jahrzehnt lang in New York, bevor sie nach Berlin zu Zalando ging, wo sie zuletzt ein Marketingteam für das Off-Price-Geschäft aufgebaut hat.
Zalando hatte sie schon lange aus der Ferne fasziniert. Für sie war Zalando eines der ersten digitalen Unternehmen, die nicht nur bewiesen, dass Deutschland einen starken Unternehmergeist hat und dass deutsche Start-ups auf europäischer und globaler Ebene wettbewerbsfähig sein können, sondern auch, wie man eine ziemlich traditionelle Branche revolutionieren und sogar das Verbraucherverhalten ändern kann, indem man einen daten- und technologiegestützten Ansatz verfolgt. Daher war sie sehr daran interessiert, in einem solchen Tech-Unternehmen zu arbeiten und die Herausforderung des Marketings für die größte Region bei Zalando anzunehmen.
Daten zeigen Marketing-Mehrwert
Unsere Welt wird immer stärker datengesteuert. Für Laura ist das eine Herausforderung für das Marketing, aber auch eine Chance. Marketing kann Daten nutzen, um endlich seinen wirklichen Mehrwert aufzuzeigen und auch außerhalb der klassischen markengetriebenen Branchen wie FMCG und Beauty als echter Wachstumstreiber wahrgenommen zu werden.
„Ich denke, Unternehmen haben endlich den Wert des Brand-Marketings verstanden, denn Performance-Marketing-Kampagnen sind endlich. Letzten Endes dreht sich alles um menschliche Emotionen. Und diese lassen sich nicht final messen. Das unterscheidet meines Erachtens erfolgreiche von weniger erfolgreichen CMOs. Sie haben die sogenannte informierte Intuition: Man kann 85 Prozent einer Entscheidung auf Daten basieren, aber für die letzten 15 Prozent muss man sich auf sein Bauchgefühl verlassen.“
Sie ist der Meinung, dass Marketeers kundenorientiertes Denken sowie starke analytische Fertigkeiten brauchen und in der Lage sein müssen, ständig neue Informationen aufzunehmen, zu bewerten und ihre Entscheidungen entsprechend anzupassen. Das bedeutet nicht, ständig die Vision oder die Strategie zu ändern. „Das Ziel steht fest, aber um dorthin zu gelangen, muss das Marketing in der Lage sein, taktische Änderungen vorzunehmen, wenn die Situation es erfordert.“
Heutige CMOs sollten zu 65 Prozent datengesteuert und zu 35 Prozent kreativitätsgesteuert sein. „Wer rein datengetrieben ist, hat es am Ende schwer, weil er einfach nicht den Funken erkennt, den es braucht, um mit einer Kampagne beim Publikum Emotionen hervorzurufen oder eine Verbindung aufzubauen. Gleichzeitig sehe ich immer wieder CMOs, die Schwierigkeiten haben, ihre Marketingausgaben zu rechtfertigen, weil sie eher Teil der alten Schule oder die klassischen Werber sind. Es ist sehr wichtig, sich an den Tisch setzen zu können und die wichtigsten Stakeholder zu überzeugen, denn es wird immer ein Gerangel um Ausgaben geben. Wenn die Unternehmenszahlen nicht stimmen, ist es das Einfachste, den Rotstift zu nehmen und das Marketingbudget zu kürzen. Und es geht darum, anhand von Daten und Zahlen zu zeigen, warum dies eigentlich keine gute Idee ist.“
„Marketing muss Chefsache sein“
Da überzeugende Daten selten im Voraus verfügbar sind, brauchen CMOs das Vertrauen des Vorstands. „Wir werden noch lange durch die dunkle Nacht segeln, und ich brauche das Vertrauen, dass man bereit ist, mit mir auf diese Reise zu gehen“, wie Laura es ausdrückt. Deshalb hält sie es auch für entscheidend, dass CMOs den gesamten Marketing-Funnel betreuen. So können sie Investitionsentscheidungen selbst treffen: Wann ist es besser, kurzfristig taktisch zu agieren, und wann ist es sinnvoller, langfristig in die Markenbekanntheit zu investieren?
Laura merkt an, dass selbst in großen US-Unternehmen die CMOs lange Zeit überhaupt keinen Sitz am Vorstandstisch hatten. Marketingleute waren auf die Position eines Executive Vice President beschränkt, und es gab keinen formellen C-Level-Titel. Dass es mittlerweile immer mehr echte CMOs gibt, zeigt für sie ganz deutlich, dass man die Bedeutung des Marketings als Werttreiber und nicht nur als Kostenstelle verstanden hat.
„Ich persönlich halte einen CEO, der das Unternehmen mit seinen Marketingfähigkeiten vorantreibt, für ein Vorbild. Denn Marketing ist für mich immer das Herzstück eines Unternehmens. Nehmen wir Richard Branson oder Walt Disney: Das sind Beispiele für CEOs, die ganz klar verstanden haben, dass Marketing am Ende den Unterschied macht und sie das Spiel gewinnen, wenn sie es schaffen, eine echte Love Brand aufzubauen. Solche CEOs sind meine Vorbilder, weil ich so fest davon überzeugt bin, dass man ohne Marketing nicht auskommt. Und Marketing muss Chefsache sein.“
Die wichtigste Priorität für das Marketing sieht sie darin, sich immer in die Lage des Kunden zu versetzen. Was brauchen sie? Was wollen sie? Was ist die Vision für sie? „Ich höre oft dieses Argument, das meist Henry Ford zugeschrieben wird: ‚Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt, ein schnelleres Pferd.ʻ Kundenorientiertes Denken bedeutet nicht, dass ich 1:1 genau das mache, was mir die Leute sagen. Ich denke, ein guter Problemlösungsansatz ist, wie Produktteams in Technologieunternehmen an solche Fragestellungen heranzugehen. Sie fragen sich immer, was das eigentliche Bedürfnis ist, das einem Problem zugrunde liegt, und versuchen es dann aus dieser Perspektive zu lösen.“
Emotionale Bindung an die Marke
Die zweite Priorität ist der Aufbau echter Brand Love. Letztendlich ist es die emotionale Bindung, die Verbraucher dazu bringt, beispielsweise Nivea-Produkte dem White-Label-Äquivalent Balea von dm vorzuziehen, obwohl Balea mittlerweile selbst eine Marke ist. Markenliebe ist der Grund, warum Verbraucher immer wieder bereit sind, einen Aufpreis für eine Marke zu zahlen, deren Mehrwert aus reiner Produktsicht nicht eindeutig erkennbar ist.
„Der dritte Punkt ist, immer einen messbaren Rahmen zu schaffen und dann wirklich einen Mehrwert für das Unternehmen zu generieren. Also nicht davor zurückzuschrecken oder darauf zu pochen, dass man Brand-Marketing schwer messen kann. Sicherlich kann man nicht alles einwandfrei messen, aber man kann immer Brücken bauen und Proxys schaffen, die einem helfen, nicht nur fundierte Entscheidungen zu treffen, sondern auch Resultate zu messen. Und ohne dies geht es nicht, denn anders wird man die anderen Vorstände nicht überzeugen können, wenn es um Investitionen geht. Für mich ist dies immer der rote Faden, zu sagen, ja, lasst es uns messen; ja, lasst uns darüber nachdenken, wie wir noch besser informierte Entscheidungen treffen können, zum Beispiel durch Social-Listening-Tools, oder wie wir bei Bedarf sogar unsere eigenen Metriken erstellen können, die uns helfen, bessere Kampagnen zu produzieren. Was können wir tun, um unsere Entscheidungsfindung zu unterstützen und gleichzeitig unsere Investitionen und ihre Wirkung messbar zu machen?“
Für Laura ist die Trennung von Offline- und Online-Marketing oder gar Digital und Social Media überholt, denn alles Marketing ist heute Digital und Social. Deshalb ist es auch sinnvoll, ein modernes Marketingteam anhand des Marketing-Funnels zu organisieren und alles unter eine Führung zu bringen. Sie sieht oft in Digital-First- oder Tech-Unternehmen, dass Performance-Marketing und Brand-Marketing getrennt sind. Es gibt einen CMO, der sich nur auf Performance konzentriert, und inzwischen sogar oft einen Chief Brand Officer. Aber ihrer Meinung nach funktioniert es wirklich nur, wenn ein Team die volle Verantwortung für den gesamten Funnel hat.
„Nur so lassen sich potenzielle Kunden effektiv durch die verschiedenen Stufen des Sales Funnels führen. Für mich ist das wie ein Staffellauf: Man muss den Staffelstab reibungslos übergeben. Als Marketeer merkt man immer, wenn die verschiedenen Funnel-Stufen in den Händen verschiedener Teams liegen, und oft gibt es eine zu große Diskrepanz zwischen dem, was im oberen Funnel passiert, im Fernsehen oder Out-of-Home, im -> Mid Funnel auf Digital und wie am Ende die Retargeting-Anzeigen im unteren Funnel aussehen.“
Brand-Marketing heute wichtiger denn je
Mit Blick auf die Rolle von Agenturen im Marketing fordert sie: „Lagern Sie niemals Ihre Strategie aus, denn niemand kennt Sie so gut wie Sie sich selbst.“ Andererseits ist es auch oft sinnvoll, eine zusätzliche Perspektive hinzuzufügen. „Denn was man vermeiden will, ist, sich im Kreis zu drehen und nur mit sich selbst zu reden. Genau deshalb denke ich, dass diejenigen, die die Strategie selbst entwickeln, sich an bestimmten Punkten Unterstützung durch Agenturen holen sollten, um neue Perspektiven und Erkenntnisse zu gewinnen. Und wenn die Strategie steht, sollte man zusätzlich Partner suchen, mit denen man sie umsetzen, aber auch langfristig zusammenarbeiten kann.“
Vor 20 Jahren war es selbstverständlich, dass eine Beziehung zwischen Kunde und Agentur fünf bis zehn Jahre dauerte, oft sogar noch länger. Irgendwann kippte das ins andere Extrem und jede Kampagne wurde von einer anderen Agentur gemacht.
„Man sollte sehr genau überlegen, wen man als Agenturpartner auswählt, ihm dann aber auch einen Vertrauensvorschuss geben. Sie müssen mich nicht vom ersten Tag an verstehen. Aber wir müssen eine Beziehung aufbauen, damit die Agentur ein zusätzliches Hirn, Auge und Ohr sein kann, sogar genauso denkt und fühlt wie die Verbraucher und neue Ideen einbringt. Die perfekte Agentur würde Sie anrufen und sagen: ,Wir haben diese tolle Idee, die perfekt zu Ihnen passt, möchten Sie sie umsetzen?‘ Aber dahin kommt man nicht von heute auf morgen.“
Laura ist der Meinung, dass Brand-Marketing heute wichtiger denn je ist. Viele Unternehmen führen mittlerweile sogar die Rolle eines Chief Brand Officer ein. Außerhalb des FMCG-Bereichs wurde der CMO-Titel jahrelang an jemanden vergeben, der nur Performance-Marketing betrieb und nur diesen Teil der Klaviatur bespielen konnte. „Diese Unternehmen haben mittlerweile verstanden, dass sie für das nächste Level einen Chief Brand Officer brauchen, der es versteht, Awareness zu steigern, Consideration aufzubauen und langfristig eine emotionale Bindung zum Verbraucher herzustellen. Ich sage immer: Die Investitionen in die sogenannte Brand Bank werden noch lange Dividenden ausschütten und sich auszahlen, wenn die Performance-Kampagnen längst nicht mehr effizient sind.“
Next Level CMO – das Buch
Dieser Beitrag stammt aus dem Buch Next Level CMO. Es stellt Marketeers und CMOs von führenden Marken wie Banana Republic, Bayer, Generali, Gucci, Jägermeister, Katjes, Oatly, smart, Tony’s Chocolonely, Unilever, Zalando und vielen mehr vor. Wie sehen sie das heutige Marketing und ihre Rolle darin und welche Fähigkeiten braucht jeder CMO, um die Herausforderungen des Marketings in der Zukunft zu meistern?