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Wer die 42-Stunden-Woche fordert, arbeitet nicht genug

Ein Ökonom will, dass Angestellte mehr arbeiten, um die Rente zu finanzieren. Er sollte mal einen Blick auf die Lebenswirklichkeit der Menschen riskieren, findet unsere Autorin.

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(Foto: Jacob 09 / Shutterstock)

Angestellte arbeiten schon genug. Der aktuell diskutierte Vorschlag, sie sollten standardmäßig 42 Stunden in der Woche arbeiten, greift an der Lebenswirklichkeit der Menschen völlig vorbei. Er ist nicht nur kurzsichtig, er gefährdet das Zusammenleben in Deutschland.

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Die Idee kommt von Wirtschaftswissenschaftler Michael Hüther. Der 60-Jährige ist Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft. Die Idee soll als Alternative zum Renteneintritt mit 70 Jahren verstanden werden, die Mehrarbeit soll voll bezahlt sein. Hüthers Ziel: Menschen sollen mehr verdienen, damit sie mehr Abgaben zahlen, zum Beispiel für die Rentenkasse.

Ein Blick in die Welt

Was Hüther übersieht: Es gibt kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die mehr arbeiten kann. Einige Beispiele:

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  • Wer Angehörige pflegt oder mit versorgt, der wird sich schon mit der bislang herkömmlichen „Vollzeit“ von 37,5 oder 40 Stunden schwertun. Einkäufe, Behördengänge, Fahrdienste, diese Dinge kosten Zeit. Und Pflege kostet Kraft.
  • Wer ein Ehrenamt innehat, muss Zeit für dieses aufbringen.
  • Noch immer ist es für viele Eltern schwierig, in Vollzeit zu arbeiten. Der Preis ist immer die gemeinsame Zeit mit den Kindern – die viele Mütter und Väter aber tatsächlich gern hätten.
  • Wer in einem körperlich fordernden Beruf arbeitet, muss die Kraft und Konzentration für die verlängerte Arbeitszeit erst einmal finden.
  • Wer in einem geistig fordernden Beruf arbeitet, würde die zwei weiteren Stunden eh nicht mit Arbeit verbringen, da müssen wir uns gar nichts vormachen. Die Menschen sitzen die Zeit an ihren Computern ab und sind erreichbar. Fertig.
  • In allen Gruppen wird durch längere Arbeitszeit die Fehlerquote steigen. Die Behebung dieser Fehler kostet Zeit und muss bezahlt werden.

Wer soll also die Älteren versorgen, wenn die Jüngeren in ihren Firmen gebunden werden? Die stark unterbesetzte Pflegebranche? Unwahrscheinlich. Wer entlastet das betreuende Elternteil zu Hause, wenn das andere noch länger im Betrieb bleiben muss? Wer kümmert sich um die Kinder, die noch zu klein sind, um länger als sieben, acht Stunden in der Kita zu sein? Wer übernimmt die Ehrenämter?

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Unser Rentensystem stammt aus einer Zeit, in der diese Fragen durch Frauen beantwortet wurden. Frauen betreuten, pflegten, dienten. Diese Zeiten sind vorbei. Frauen wollen heute selbst arbeiten, selbst ein selbstbestimmtes Leben führen, Kompetenzen einbringen. Wir wollen die Welt gestalten. Würden wir es nicht wollen, wir müssten es trotzdem. Denn das Leben ist zu teuer geworden, als dass es für Familien anders ginge.

Leben schlägt Geld

Die Idee, unsere Gesellschaft zu retten, indem wir alle mehr arbeiten, ist absurd. Zu recht legendär ist in Deutschland das Experiment bei der Deutschen Bahn und der Gewerkschaft EVG: Die Beschäftigten können (unter anderem) wählen zwischen mehr Geld, zusätzlichen Urlaubstagen oder einer Wochenstunde weniger Arbeitszeit. Das Modell der Wahlfreiheit kam hervorragend an und ist heute ein Faktor, mit dem die EVG um Mitglieder wirbt und die Bahn um Angestellte.

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Aber: So viele Menschen entschieden sich für die zusätzlichen Urlaubstage, dass die Bahn 1.500 neue Mitarbeitende einstellen musste. Haben Menschen die Wahl, dann wählen sie das Leben. Leben schlägt Geld.

Eine Fantasie nicht von dieser Welt

Die 42-Stunden-Woche kommt daher wie die Fantasie eines Menschen, der mit ihren Folgen nicht leben muss. Die Rentenkasse damit finanzieren zu wollen, ist der seltsamste Aspekt in Hüthers Argumentation. Denn ja, dann hätte der Staat mehr Geld, das er auf die Rentner:innen verteilen könnte. Wer sich dann um die zwischenmenschlichen Bedürfnisse unserer Eltern und Großeltern kümmern soll, lässt er offen.

Immer wieder soll diese Gesellschaft gerettet werden, indem der Bevölkerungsgruppe, die am stärksten belastet ist, etwas weggenommen oder zusätzlich aufgehalst wird. Wir könnten stattdessen mal das Gegenteil versuchen: Menschen stärken, statt sie zu schwächen.

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Wir müssen ihnen die Wahl lassen, gute Entscheidungen zu treffen, um Probleme intelligent zu lösen. Deshalb brauchen wir eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, keine Zwangserhöhung.

Der Preis ist zu hoch

Die Altersgruppe zwischen 30 und 50 lebt jetzt schon in einer erdrückenden Wirklichkeit: Wer nicht hochqualifiziert ist, hangelt sich durch prekäre Beschäftigungen, verdient in vielen Ausbildungsberufen zu wenig Geld zum Leben, es folgen Befristungen über Befristungen. Wer es da durchgeschafft hat, muss Kinder und Berufsleben zusammenbringen. Die Mieten, die wir an ältere Generationen zahlen, steigen ins kaum Erträgliche. Unsere Lebensqualität sinkt. Wir pflegen unsere Eltern oder werden es bald tun. Wir zahlen Steuern. Wir zahlen Abgaben. Viele von uns werden niemals Wohneigentum erwerben.

Das ist kein Gejammer, aber einige Wut steckt darin. Denn das sind Fakten. Und wir kriegen das unter diesen schlechten Bedingungen bislang noch hin.

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Aber zwei Stunden mehr Arbeitszeit bedeuten, dass sich all unsere Alltagsbelastungen nach außen schieben. Und wir haben dann keine andere Wahl, als die Zeit von der Generation unserer Eltern, den Rentnerinnen und Rentnern abzuziehen. Es gibt objektiv keine andere Option.

Das ist es, was eine 42-Stunden-Woche bewirkt: Die Alten werden allein sein. Wir haben dann etwas mehr Geld, der Staat auch, die Rentner:innen auch.

Aber der Preis dafür wäre zu hoch.

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