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Ratgeber

Vollzeit-Wahn: Schluss damit – Wir brauchen Flexibilität!

Zeitgebundene Arbeitsverträge sollen vor Einkommensknicks schützen. Doch es ist okay, auch mal weniger zu arbeiten. Oder mehr. Wir brauchen Flexibilität für Arbeitnehmende.

5 Min.
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Zeitgebundene Arbeitsverträge haben sich zum Schutz vor Einkommensknicks etabliert.(Foto: Rido/ Shutterstock)

Zeit ist die wichtigste Währung des Lebens. Anfangs haben wir sehr viel davon, in der Mitte des Lebens haben wir nie genug, was sich in der Rückschau aber wie eine endlos lange Zeit anfühlt – und am Ende? Mal sehen, ich erwarte Freizeitstress. Aber schauen wir uns heute doch mal die Mitte des Lebens an, in der Zeit zum Tauschmittel wird: zur Arbeitszeit. Der Goldstandard heißt „Vollzeit“ und meint in der Regel 36,5 bis 41 Stunden Arbeitszeit in der Woche.

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Erzähle ich, dass ich selbstständig bin, höre ich zwei Standard-Reaktionen. Erstens: „Ich könnte das nicht“, und dann beginnt ein Vortrag darüber, dass die Menschen sich nicht organisieren können und Tag und Nacht arbeiten müssten. Zweitens: „Ach, dann hast du ja Zeit“ und damit muss wohl gemeint sein, dass ich noch eine Kollegin habe, die meine Arbeit für mich macht, was cool wäre, aber leider nicht stimmt.

Eine andere Sache ist allerdings wahr: Wenn Lust oder Leben es erfordern, dann passe ich meine Arbeitszeit an. Und schaue ich mir die Zwänge an, unter denen viele Arbeitnehmende Jahre ihres Lebens verbringen, dann würde ich sagen, wir müssen dringend mal über das Modell der Vollzeit sprechen, sowie über die festgeschriebenen Arbeitszeiten.
Die Vollzeit muss weg. Sie ist nicht mehr zeitgemäß.

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Feste Arbeitszeiten sind Schutz und Zwangsjacke

Ein Arbeitsvertrag schützt die Arbeitnehmenden. Er schützt auch die Unternehmen, aber die schutzbedürftigste Einheit im deutschen Rechtssystem ist immer der Mensch, auch wenn selbst Angestellte das manchmal ungern wahrhaben wollen. Die Firma darf nur aus zwingenden betrieblichen Gründen Stunden kürzen und dann auch nicht individuell, sondern für alle Mitarbeitenden gleichermaßen und höchstens 20 Prozent. Diese Regelung ist gut, denn sie schützt vor Einkommensverlusten.

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Schwieriger wird es umgekehrt. Selbst Menschen, deren Jobs eigentlich nichts mit Zeit zu tun haben, sind an ihre Stunden gebunden. Sie haben zwar ohne Angabe von Gründen das Recht, ihre Arbeitszeit zu verändern – dabei weichen sie aber von einer gesellschaftlichen Norm ab und das fällt schwer. Außerdem gilt dieses Recht erst, wenn Mitarbeitende länger als sechs Monate im Unternehmen sind und die Firma mehr als 15 Personen beschäftigt. Sogar ein Diskriminierungsverbot für Teilzeitbeschäftigte hat man ins Gesetz geschrieben. Dass das notwendig ist, weist uns auf ein Problem hin.

Menschen mit Wert und Minderwert

Arbeitnehmende sind viel wert, wenn sie viel Arbeitszeit liefern. Ihr Wissen ist verfügbar, ihre Erfahrung, ihre Kontakte, ihre Leistung. Weniger wert sind in einem solchen System Menschen, die ihre Lebenszeit anders aufteilen. Weil sie Eltern und Kinder haben, die sie brauchen. Weil sie den Sommer über viel wandern gehen wollen und deshalb nur 32 Stunden arbeiten möchten statt 40. Weil sie vielleicht ein Haus renovieren oder einen Nebenjob im Rettungsdienst haben.
So.
Wer von euch hat bei dem einen oder anderen Grund die Stirn gerunzelt?
Wir leben in einer Gesellschaft, die Vollzeit für normal hält und Abweichungen sanktioniert. Es gibt eine kleine Gruppe sozial akzeptierter Gründe. Diese sind nicht konsistent: Dürfen die Kinder nun das Haus ihrer Eltern barrierefrei umbauen oder dürfen sie es nicht? Wenn das sportliche Hobby der Gesundheit dient, ist es dann okay, weniger zu arbeiten? Kranke Eltern pflegen ist grundsätzlich erlaubt, mit kranken Kindern zu Hause zu bleiben ist schon umstrittener.

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Und wer entscheidet das alles? Theoretisch: die Menschen selbst, die Geldbedarf und Freizeitbedarf ins Verhältnis setzen. Praktisch: die Gesellschaft mit ihren Werturteilen.

Die Angst vor der Freiheit der anderen

Aus der Perspektive einer Selbstständigen bekomme ich Zahnschmerzen, wenn ich sehe, wie sehr sich Menschen zerreißen müssen, um einfach nur zu leben. 100 Prozent Lebensenergie sind nicht genug, wenn darin ein fixes Konstrukt namens Vollzeitarbeit steht.

Wer nicht Vollzeit arbeitet, der nimmt seiner Firma und der Gesellschaft und den Kolleginnen und Kollegen etwas weg. Wer nicht Vollzeit arbeitet und dafür keinen objektiv anerkannten Grund liefert, der ist ein Schmarotzer, so wird es von vielen wahrgenommen. Aber so müsste es nicht sein. Hinter dieser Wahrnehmung steckt der Gedanke: Das würde ich ja auch gerne machen. Aber ich kann es mir nicht erlauben. Dieser Neid kann Menschen anspornen, sich Freiheitsgrade zu schaffen. Er kann sie aber auch dazu anregen, die herrschende Ordnung als ideal zu zementieren. Diese Selbstbestätigung fühlt sich gut an. Richtig. Emotionaler Selbstschutz ist der Energiesparmodus des Lebens – nur bringt er uns nirgendwohin.

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Das Vollzeit-Normal ist das Problem

Was unsere Gesellschaft als Vollzeit-Normal erlebt, ist ein zufälliger Moment in der Geschichte der Arbeit. Die 40-Stunden-Woche ist ein gesellschaftlicher Konsens – an dem niemand von uns beteiligt war. Wir spielen nach Regeln, die wir uns nicht ausgedacht haben! Das waren Männer, die vor uns gelebt haben. 1955 forderte der Deutsche Gewerkschaftsbund 40 Stunden Arbeitszeit, vorher waren es oft 48 Stunden an sechs Tagen.

Das sind Arbeitszeiten, die für Menschen funktionieren, die stärker mit dem Körper arbeiten als mit dem Kopf. Für Männer, deren Arbeitsleben von der unbezahlten Arbeitskraft einer Frau unterstützt wird. Männer, die sich um Pflege und Familienleben nicht sorgen mussten. Und es sind Arbeitszeiten für Menschen, die in einem starren gesellschaftlichen Konstrukt leben, aus dem sie nicht ausbrechen dürfen.
Aber wir dürfen das schon.
Die Zeiten sind neu, die Bedürfnisse sind neu. Plötzlich ist da diese Erkenntnis: Ich lebe nicht, um zu dienen. Ich weiß gar nicht, wofür ich lebe, aber ich kann mir die Zeit nehmen, etwas aus meinem Leben zu machen.
Klingt nicht normal?
Ich weiß.
Künftige Generationen werden sich daran gewöhnt haben, jetzt gerade löst jede neue Freiheit ein gewisses Unwohlsein aus. Die Lösung kann aber nicht sein, dass wir am starren Konzept einer Vollzeit festhalten, die in unsere Leben nicht passt und für die Arbeit der meisten Menschen nicht notwendig oder angemessen ist.

Flexibel kann auch ein Normal sein

Niemand zwingt uns, ein Normal einzuhalten, das wir uns nicht ausgedacht haben. Wir könnten 32 Stunden als Richtwert festschreiben. Wir könnten uns von der Idee eines Richtwertes vollkommen lösen, und Zeiten individueller vereinbaren. Und das muss nicht zulasten der Unternehmen und ihrer Planung gehen: Wo Arbeitnehmende Freiheit erleben, da spüren sie auch Verantwortung, das zeigen zahlreiche Studien. Glückliche Angestellte werden kein Interesse daran haben, ihre Führungskräfte hängen zu lassen. Sie haben ein Interesse daran, im Team Lösungen für individuelle Bedürfnisse zu finden.

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Starre Regelungen zwingen zu Ausbruchsversuchen. Je schwächer und je gezwungener Angestellte ihre Situation erleben, desto größer ist ihr Anreiz, Lücken in den Zwängen zu finden. Flexibilität ist es letztlich, die Verantwortungsgefühl fördert. Für die Firma, aber auch für das eigene Leben.

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2 Kommentare
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Dein t3n-Team

Marc

Hallo aus Baden- Württemberg,

mich hätte interessiert, wo die Autorin, der Autor, die Idee mit der Nebentätigkeit im Rettungsdienst gesehen haben. Ich finde mich hier genau wieder. Ich vermute es gibt mehr Personen, die ihre wahrgenommene Bedeutungslosigkeit bei Ihrer Haupttätigkeit, durch eine sinnvolle Nebentätigkeit kompensieren. Bei mir ist der Frust schon so hoch, das ich darüber nachdenke den Hauptjob aufzugeben und mit etwas zu suchen, was mich, wenn auch dann mit 40 Stunden im Büro, glücklicher sein lässt. Die Arbeit auf der Straße wird mir hierbei aber dennoch sehr fehlen. In keinem Beruf der Welt, kann man innerhalb von wenigen Minuten so viel Dankbarkeit von Patienten und Angehörigen erfahren. Da kommt man im Büro meist sehr kalt und oftmals geduldet weg.

Antworten
Michael

Ich kann absolut nachvollziehen, wenn Mitarbeiter in teilzeit als Schmarotzer wahrgenommen werden.
Nur die 30 Stunden Meeting pro Woche mitnehmen wollen, aber dann nicht noch mindestens eine halbe Stunde pro Tag auch produktiv zu sein und eine halbe Stunde für Klo und Kaffee einplanen, geht ja gar nicht.
Und dann vielleicht noch weniger? Um sich vor der Retrospektive mit dem Thema „Zuviel Meetings“ zu drücken? Das ist echt unsozial – da möchte niemand dabei sein. Diese Rosinenpicker!

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