Chinesische E‑Commerce-Offensive: Warum Temu nicht der gefährlichste Herausforderer ist
Vor einigen Tagen hat die aus China stammende Handelsplattform Temu, die sich auf billige Produkte im E‑Commerce spezialisiert hat, erklärt, dass man in Zukunft auch westlichen Händler:innen Zugang zur Plattform gewähren wolle. Wir haben uns bei Kenner:innen der chinesischen E‑Commerce-Szene umgehört und nachgefragt, was das für die Händler:innen aus Deutschland bedeuten könnte und wie sich die hiesigen Plattformen darauf einstellen können.
Was und wann genau geplant ist, dazu macht Temu selbst beziehungsweise die dahinter stehende Gesellschaft Pinduoduo noch keine näheren Angaben. „Dieser Schritt wird unser bereits umfangreiches Warensortiment erweitern und unseren Kunden eine noch größere Vielfalt und Auswahl an erschwinglichen Produkten bieten“, erklärt das Unternehmen auf t3n-Anfrage eher allgemein. In China selbst ist das Unternehmen nur als Pinduoduo unterwegs, hat dort, wie der Berater Damian Maib, CEO der Agentur Genuine, erklärt, aber in den letzten Jahren Marktanteile gewinnen können. Als Full-Service-Agentur und offizieller Tmall-Partner berät das Unternehmen deutsche Unternehmen unter anderem aus der Kosmetik- und Food-and-Beverage-Wirtschaft beim Markteintritt in China.
„Was wir hier in China erleben, ist, dass die Kund:innen sehr wohl bereit sind, die Plattform, auf der sie kaufen, zu wechseln – und dass es neuen Plattformen gelingen kann, Marktanteile zu gewinnen. Der Marktanteil von Alibaba/Tmall, der bei über 70 Prozent lag, ist über die Jahre auf um die 50 Prozent geschrumpft – zugunsten von Tiktok als Social-Selling-Plattform und Pinduoduo als sehr marketingorientierter Plattform. Die wissen also, wie man Marktanteile in einem etablierten Markt erzielen kann.“ Er beobachtet, dass Pinduoduo respektive Temu auch in Deutschland und Europa Geschäft von den etablierten Playern wie Amazon und Ebay gewinnt.
Deutsche Händler könnte Temus aggressives Pricing abschrecken
Ähnlich wie Pinduoduo in China setzt auch Temu im Westen auf extrem billige Artikel, veröffentlicht zudem entsprechende Umfrageergebnisse, die das unterstreichen. Wie Temu in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut Appinio herausgefunden haben will, sind zwei von drei Deutschen besonders preisaffin und echte Schnäppchenjäger:innen. Aber auch die Versandkosten spielen eine wichtige Rolle: 50 Prozent der Befragten gaben an, dass niedrige Versandkosten oder kostenloser Versand ein wichtiger Faktor sind. Ein Drittel der Befragten gab zudem an, dass eine große Zahl positiver Kundenbewertungen wichtig ist – ein bekannter Markenname oder Rabatte für Großbestellungen sind dagegen nur für jeden zehnten Befragten relevant.
Doch sind die deutschen Händler:innen wirklich scharf darauf, sich dem extrem auf das Pricing fokussierten Wettbewerb zu stellen? Jan Bechler, Gründer und Geschäftsführer der E‑Commerce-Agentur Front Row, glaubt das nicht. „Temu ist aus unserer Sicht der Ein‑Euro-Shop des Internets – Marken verlieren allein durch die Präsenz dort an Wert“, gibt der E‑Commerce-Experte zu bedenken und erklärt, vor allem die Logistik- und Servicefähigkeiten seien das, was Händler:innen inzwischen an Amazon schätzen gelernt hätten.
Gegen den Vertrauensvorsprung von Amazon anzukommen ist schwer
Zudem habe Amazon einen entscheidenden Vertrauensvorsprung bei den Kund:innen, was den Service betrifft – den Service von Temu dagegen würden Kund:innen bestenfalls wegen der niedrigen Preise in Kauf nehmen. „Ich erinnere mich an ähnliche Untergangsszenarien für Amazon, als Wish aufkam. Wir wissen, wie das ausgegangen ist“, gibt Bechler zu bedenken.
Während Pinduoduo laut Damian Maib in China über längere Zeit die Plattform mit den extrem preisaggressiven Schnäppchen geblieben ist, hätten etwa bei Tiktok die Preise nach und nach zugelegt, nachdem man die Kund:innen an die Plattform gewöhnt hatte. Infolgedessen seien auch höherwertige Marken dort präsent, als dies bei Pinduoduo oder Temu (oder auch Shein) der Fall sei. Temu könne aber, glaubt auch Maib, gerade bei austauschbaren Massenprodukten von Kabeln über ITK-Zubehör bis hin zu einfachen Haushaltswaren über die Beliebigkeit punkten – und den etablierten westlichen Plattformen Marktanteile abjagen.
„Das könnte vor allem auch über die niedrigen Provisionen und Gebühren laufen, die bei den chinesischen Anbietern im niedrigen einstelligen Prozentbereich sind. Das zieht sich durch alle Plattformen.“ Das Geschäft laufe in allen Fällen über die große Zahl an Verkäufen und über Skaleneffekte. Profitieren könnten somit auch in Deutschland die Händler:innen, weil sie eine geringere Marge für die Plattformen bezahlen müssen.
In China vor allem Plattformgeschäft und Social Commerce
Schaut man nach China, sind aber vor allem zwei Sachverhalte spannend. Verkauft wird dort vor allem über Plattformen und nicht über den einzelnen Webshop des Händlers. „Das klassische Webshop-Game ist hier kaum existent, das ist ein verschwindend geringer Anteil“, erklärt Maib. Verkauft wird nicht nur über die klassischen E‑Commerce-Plattformen wie Tmall, JD.com, Taobao oder eben Pinduoduo, sondern auch immer mehr über Social-Selling-Plattformen wie etwa über Wechat oder die chinesische Variante von Tiktok.
Man empfehle den westlichen Unternehmen daher sowohl traditionelles Plattformgeschäft als auch Social Commerce. Daher sieht Maib auch für Deutschland und Europa eher, dass sich chinesische Player dort engagieren werden. „Ich glaube, dass Plattformen wie Amazon zwar auch unter Temu leiden werden, noch viel mehr aber unter Tmall, das ja bereits im vergangenen Jahr erklärte, dass der europäische Markt eine wichtige Rolle spielt.“
Das zur Alibaba Group gehörende Tmall ist im Herbst zunächst mit einem Pilotprojekt in Spanien gestartet. In Zukunft wolle man stetig weitere Länder erschließen. Das Unternehmen machte damals noch keine Angaben dazu, wann Deutschland und die DACH-Region auf der Roadmap stehen werden.
Sicher ist: Chinesische Plattformen werden Provisionen senken helfen
Jan Bechler dagegen glaubt, dass das in China extrem populäre Social-Commerce-Thema nach vielen Jahren, in denen man es hier als nächsten großen Trend handelte, auch in Europa ankommen könnte. „Wir glauben, dass Tiktok Shop noch in diesem Jahr nach Deutschland kommt – und dass es eine relevante Plattform für Marken sein wird.“ Denn europäische Marken seien bereits über Influencer:innen und eigene Kanäle massiv auf Tiktok vertreten. Ein zusätzlicher Buy-Button wäre so angesichts der einfachen technischen Integration eine logische Ergänzung.
Doch egal, ob Temu, Tmall oder Tiktok: In jedem Fall sorgen die chinesischen Player, wenn sie auf dem europäischen Markt Fuß fassen, für deutlich schlankere und preisaggressivere Gebührenstrukturen. Die würden dann den Händler:innen ebenso wie den Kund:innen entgegenkommen. Unter dem Strich ist also unklar, woher die westlichen Handelsplattformen den Gegenwind spüren werden – sicher ist aber, dass sie ihn spüren werden.