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Ukraine: Clearview-KI soll bei Identifizierung von Toten helfen

Die ukrainische Regierung setzt die umstrittene Gesichtserkennungs-Software Clearview AI ein, um einerseits Tote zu identifizieren und andererseits Freund von Feind zu unterscheiden. Das birgt Risiken – kurz- und langfristig.

Von Dieter Petereit
5 Min.
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Clearview nutzt öffentlich verfügbare Fotos für seine Datenbank. (Foto: Andrey_Popov)

Wie die britische BBC berichtet, wurde die Clearview-Technologie im Zuge des Angriffskriegs gegen die Ukraine schon in mehr als 1.000 Fällen zur Identifizierung von Lebenden und Toten eingesetzt. Clearview ist das vielleicht berühmteste, jedenfalls wohl umstrittenste Gesichtserkennungssystem der Welt. Und so legitim die Nutzung angesichts der Kriegsgräuel in der Ukraine aktuell erscheinen mag: Weitergedacht kann sie die Welt insgesamt ein Stück näher an den Totalitarismus führen, so führende Datenschützer.

Auch Konkurrenz-Software Findclone im Einsatz

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Wie Chef und Gründer Hoan Ton-That, ein 33 Jahre alter, aus Vietnam stammender Australier, freimütig einräumt, hat das Unternehmen Milliarden von öffentlich-zugänglichen Fotos aus Social-Media-Diensten wie Facebook, Instagram, Youtube und Twitter gescannt und daraus eine riesige Datenbank erstellt – eine „Suchmaschine für Gesichter“. Schon Anfang 2020 soll diese Suchmaschine rund drei Milliarden Gesichter „gekannt“ haben.

Ton-That erklärt nicht ohne Stolz: „Es funktioniert so ähnlich wie Google. Aber anstatt eine Reihe von Wörtern oder Text einzugeben, lädt der Benutzer ein Foto eines Gesichts hoch.“

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Im Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine erkannte Ton-That unmittelbar eine Chance, wie er selbst bestätigt: „Wir sahen Bilder von Kriegsgefangenen und Menschen, die auf der Flucht waren, und da kam uns der Gedanke, dass diese Technologie möglicherweise für die Identifizierung und auch für die Verifizierung nützlich sein könnte.“

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Schnell wurde er sich mit der ukrainischen Regierung einig. Dabei kommt in der Ukraine neben Clearview offenbar auch die Konkurrenz-Software Findclone zum Einsatz. Die Anwendungen werden zudem nicht ausschließlich zur Identifizierung von Toten verwendet.

Mehr als zehn Milliarden Bilder soll Clearview AI für seine Datenbank bereits gesammelt haben. (Bild: Andrey_Popov/Shutterstock)

Gesichtserkennung im Kriseneinsatz nicht neu

Aric Toler von der Investigationsplattform Bellingcat bestätigt: „Wir nutzen diese Technik schon seit Jahren.“ So habe Bellingcat schon 2019 Gesichtserkennungstechnologie verwendet, um einen russischen Mann zu identifizieren, der die Folterung und Tötung eines Gefangenen in Syrien gefilmt hatte. Der Krieg in der Ukraine sei nicht der erste, in dem Gesichtserkennung zum Einsatz kommt, so Toler.

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Dabei sei allerdings der Einsatz in der Ukraine weitreichender als in jedem anderen Konflikt zuvor. Tolers Team bescheinigt etwa der Gesichtserkennungsplattform Findclone, besonders hilfreich bei der Identifizierung toter russischer Soldaten zu sein. Dabei funktioniert Findclone ebenso wie Clearview, wobei Findclone etwas stärker mit Bildern aus russischen Social-Media-Diensten ausgestattet zu sein scheint.

Dabei könnten sogar Personen, die keine sozialen Konten haben, gefunden werden. Toler erklärt: „Sie haben vielleicht kein Social-Media-Profil, aber ihre Ehefrauen oder Freundinnen vielleicht. Manchmal haben sie Profile und leben in einer kleinen Stadt mit einer großen Militärbasis. Oder sie haben viele Freunde, die derzeit in ihrer Einheit sind.“

Dieser letzte Punkt ist grundlegend für das Verständnis der Leistungsfähigkeit der Gesichtserkennungstechnologie. Denn selbst wenn eine Person noch nie ein Profil in den sozialen Medien hatte und glaubt, sie habe ihr Bild aus dem Internet gelöscht, kann sie gefunden werden. Wenn sie auf einem von einem Freund hochgeladenen Foto erscheint oder einfach nur im Hintergrund eines zufälligen Bildes im Internet zu sehen ist, ist sie in der Datenbank enthalten. Das bedeute, dass selbst Militär- oder Sicherheitspersonal, das im Internet kaum präsent ist, aufgespürt werden kann, erläutert der Investigativjournalist.

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Einsatz an Lebenden kritisch zu betrachten

Kritiker weisen darauf hin, dass die Gesichtserkennungstechnologie keineswegs immer korrekt ist. Das könne gerade in Kriegszeiten potenziell verheerende Folgen haben. Denn, wie Clearview bestätigt, wird die Software nicht nur zur Identifizierung von Leichen in der Ukraine eingesetzt. Vielmehr kommt sie auch an Kontrollpunkten zum Einsatz, wo sie feindliche Verdächtige identifizieren soll. Ebenso setzen die ukrainischen Behörden die Software ein, um Inhaftierte zu identifizieren.

Dies beunruhigt Experten. So weist etwa Conor Healy, Gesichtserkennungsexperte bei IPVM, einer Organisation, die Sicherheitstechnologien überprüft, darauf hin, dass ein grundlegendes Verständnis bezüglich der Unzulänglichkeiten der Technologie vermittelt werden müsse: „Es ist wichtig, dass die ukrainischen Streitkräfte erkennen, dass dies keine 100 Prozent genaue Methode ist, um festzustellen, ob jemand Freund oder Feind ist. Es sollte keine Technologie sein, bei der es um Leben und Tod geht, bei der man entweder besteht oder durchfällt, bei der man inhaftiert oder – Gott bewahre – sogar getötet werden kann. So sollte sie überhaupt nicht eingesetzt werden.“

Clearview-Chef Ton-That ficht das nicht an. Er verteidigt aber die Genauigkeit der Technologie und behauptet, sie sei zu über 99 Prozent verlässlich. Allerdings komme es natürlich auf die Qualität des Bildes, die Position des Kopfes und die Sichtbarkeit des Gesichts an. Eine Maske etwa störe die Erkennung durchaus.

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Gesichtserkennungstechnologie: Dystopien denkbar

In der Volksrepublik China arbeiten Entwickelnde an Gesichtserkennungstechnologie, die gezielt Journalisten überwachen soll. Clearview hat im vergangenen Jahr einen Vertrag mit dem US-Verteidigungsministerium unterzeichnet. Dabei geht es um die Erforschung des militärischen Einsatzes der Technologie in Augmented-Reality-Brillen. Clearview ist nur eines von mehreren Unternehmen, die im Auftrag des Militärs KI für die Gesichtserkennung entwickeln. Ton-That beteuert, Clearview arbeite nicht mit autoritären Regierungen zusammen.

Verfechter des Datenschutzes haben noch eine weitere Sorge: Die Gesichtserkennungstechnologie könnte für die ukrainischen Behörden in Kriegszeiten zwar nützlich sein, aber werden sie die Technologie in Friedenszeiten einfach an Clearview zurückgeben? „Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen für Technologien, die in Kriegszeiten eingeführt werden und in Friedenszeiten weiter bestehen“, so Healy: „Ich hoffe, dass dieses Beispiel hier nicht dazu gehören wird.“

Clearview überaus umstritten

Anfang des Jahres 2020 war Clearview AI in die Schlagzeilen geraten. Kurz nach den ersten Berichten über das Unternehmen, dessen Software zu diesem Zeitpunkt schon bei über 600 Behörden im Einsatz gewesen war, reagierten die betroffenen Tech-Unternehmen. Facebook, Youtube, Google, Twitter und Venmo, ein Dienst für mobiles Bezahlen, hatten Clearview Unterlassungserklärungen geschickt, in denen sie der Verwendung von Bildern aus ihren Diensten widersprachen. Das interessierte Clearview-Chef Ton-That nur mäßig. Er bestand darauf, es sei sein gutes Recht, öffentlich verfügbares Bildmaterial zu verwenden.

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Während das Verfahren in den meisten Ländern der Welt zu stocken scheint, hatte die britische Datenschutzbehörde Ende November 2021 eine Geldstrafe über mehr als 17 Millionen Pfund gegen das Unternehmen verhängt, weil es die Menschen nicht darüber informiert hatte, dass es Fotos von ihnen sammelt. Zu diesem Zeitpunkt soll die Datenbank bereits auf mehr als zehn Milliarden Bilder angewachsen gewesen sein.

Ende Februar 2022 geriet ein Pitchdeck des Unternehmens an potenzielle Investoren an die Öffentlichkeit. Damit wollte Clearview neue Anleger überzeugen. Inzwischen würden mehr als 3.200 Behörden mit dem System arbeiten, hieß es darin. Zudem sei ein neues Tool namens Mega-Scraper in der Lage, mehr als 1,5 Milliarden Gesichter pro Monat in die Datenbank zu integrieren. Ebenso gab Clearview bekannt, neue Teams aufbauen zu wollen, um den Vertrieb auch in Richtung „Technologie, Bankwesen, Internationales“ zu lenken. Banken, Einzelhandel und E-Commerce nennt das Pitchdeck als potenzielle Märkte.

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