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Kolumne

Cohns fabelhafte digitale Welt oder: Lügen haben viele Freunde

Seit der letzten Messung soll Donald Trump laut Jeff Bezos’ Hauspostille Washington Post 1.759 Mal gelogen haben. Aber wer entscheidet denn, was wirklich wahr ist? Ach, und welche Rolle spielt darin die Tatsache, dass Bezos dank Corona gerade zum reichsten Mann der Welt geworden ist?

Von William Cohn
4 Min.
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(Bild: t3n)

Ich weiß, das Aufdecken von Fälschungen und Lügen in der Politik, in Modernsprech Fake News, ist inzwischen so fresh, dass im alten Rom damit schon die Christen gefoltert worden sein sollen. Die dazugehörigen Untersuchungen füllen Bände und Bibliotheken! Nur die Wahrheit scheint mit einem kleinen Heftchen auskommen zu müssen.

Was ist Wahrheit?

Doch, was ist denn Wahrheit? Wozu brauchen wir überhaupt eine Wahrheit? Seit Descartes wissen wir, dass wir nichts und niemandem, nicht einmal unseren eigenen Sinnen trauen können, weshalb er seinen famösen Satz: „Cogito ergo sum“ (für naturwissenschaftliche Gymnasiasten: „Ich denke, daher bin ich“) und nicht: „Coito ergo sum“, wie gerne ausprobiert wird, in die Welt setzte. Wobei die sich gelegentlich aufdrängende Frage erlaubt sein muss, ob manches humanoide Gegenüber wirklich sein kann.

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Die Wahrheit finden? Können wir das überhaupt? Zum Beispiel: „Historische Wahrheit“, eine Lieblingsprämisse von Geschichtsbüchern, entpuppte sich im Laufe der Zeit als ein Begriff, dem selber die Wahrheit abhanden gekommen ist. Es ist kein Geheimnis, dass sich die moderne Geschichtswissenschaft etwa im Falle der Stauferzeit und des Hochmittelalters mit ausgeklügelten forensischen Methoden durch Barrikaden gefälschter Urkunden hindurchkämpfen muss, um wenigstens in die Nähe dieser berühmt-berüchtigten historischen Wahrheit kommen zu können. So widmete die Landesarchivdirektion Baden-Württemberg dem Thema gefälschte Urkunden aus dieser Zeit eine äusserst bemerkenswerte und umfangreiche Ausstellung, in der nicht nur die spätmittelalterlichen Hotspots der klösterlichen Fälscherei, sondern auch deren Methoden – „Rasur eines älteren, gesiegelten Pergamentes mit anschliessender fachkundiger Neubeschriftung“ – ausführlich gezeigt wurden.

Zumindest als fiktiver Verschenker von fremdem Eigentum hat es jener Karl, den sie später den Großen nannten, zu Ansehen in der Geschichtsforschung gebracht.

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Ist das der „rauchende Colt“?

Halten wir da etwa schon den „rauchenden Colt“, also Motiv und Auftraggeber, in Händen? Und in wie weit hätte die Glaubwürdigkeit des – nennen wir es wieder „Establishments“ – durch diese extensiven Fälschereien gelitten? Oder nehmen wir das inzwischen einfach so hin, weil „die da oben“ vielleicht gar nicht anders können? Was beispielsweise am Ende wirklich von den Großtaten des Großen kleinen Karl übrig bleibt, werden wohl erst zukünftige Forscher*innen- und Historiker*innen-Generationen, die vielleicht emotionsloser an das Thema herangehen, beantworten können. Zumindest könnte es sich neueren Forschungen zufolge beispielsweise bei der berühmt- und schulberüchtigten Schlacht bei Tours und Poitier, dem angeblichen Wendepunkt der abendländischen Geschichte, nur um einen später gewaltig aufgebauschten, also „anglerlatinisierten“ Raubzug maurischer Marodeure, die in einer besseren Schlägerei vertrimmt und nach Hause geschickt wurden, gehandelt haben.

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Wie sehr Geschichtsfälschungen die gesellschaftliche Haltung und Perspektive auch auf einzelne Persönlichkeiten verzerren kann, zeigt das Schicksal von Nathan Rothschild. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts zieht sich die immergleiche Geschichte durch die Geschichtsbücher. Die Story vom geriebenen, jüdischen Bankier, der angeblich nach der Schlacht von Waterloo den von einem orkanartigen Sturm aufgewühlten Ärmelkanal unter Lebensgefahr und Aufwendung einer enormen Summe Geldes für einen wagemutigen Kapitän, überquerte und schneller als die offiziellen Kuriere in London eintraf, nur um dort zu verbreiten, die Schlacht sei verloren. Durch Aufkaufen der dann ins Bodenlose stürzenden Aktien habe er sein Vermögen gemacht, denn als die offizielle Meldung vom Sieg eintraf, stiegen die Aktien gewaltig in die Höhe, nur diesmal in seinen Händen.

Ausgiebige, moderne historische Forschungen brachten schlüssig zutage: Nichts davon ist wahr! Rothschild war zu diesem Zeitpunkt nicht in den Niederlanden gewesen. Die ganze antisemitische Räuberpistole wurde erfunden, um den Namen Rothschild zu diffamieren und in den Dreck zu ziehen. Und dennoch wälzte sich diese vielzitierte, bizarre, in Paris veröffentlichte Geschichte – in die Welt gesetzt von dem Sozialisten Georges ­Marie Mathieu-Dairnvaell in seiner Schmähschrift: „Die lehrreiche und bemerkenswerte Geschichte von Rothschild, dem ersten König der Juden“ – seit 1846 ungeprüft und nicht hinterfragt durch Geschichtsbücher und historische Vorlesungen.

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Hatte Descartes recht?

Mich quält jetzt die Frage: Wenn Descartes recht hat, ist nicht alles, was wir irgendwo erfahren, subjektiv und daher möglicherweise unwahr? Sind zum Beispiel die Medien als vierte Macht im Staate vom Wesen her überhaupt in der Lage, eine objektive Wahrheit zu vermitteln? Ist nicht alles, was wir zu hören und zu sehen bekommen, subjektiv und daher unwahr?

Wie könnte es gelingen, die Quellen des Wahrgenommenen zu erschließen und dieses dann zu überprüfen? Warum genügt in so vielen Bereichen die Wahrheit nicht mehr und muss aufgebauscht, verändert, „augmented“ und „enhanced“ werden?

Und was haben der immer noch nicht verwesen dürfende Lenin und die modernen Massenmedien miteinander zu tun?

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Mehr dazu in der nächsten Woche in Cohns fabelhafter digitalen Welt.

Was unsere fabelhafte digitale Welt sonst noch an Überraschungen für William Cohn bereithält, lest ihr hier.

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