Cohns fabelhafte digitale Welt oder: Ob sich die Erfinder des Telefons das in ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen können?

Es gibt Menschen, und dazu gehörte ich, die ihre Rede gerne expressiv mit Gesten unterstreichen, oder wie mein Vater zu mir sagte: „Musst du eigentlich die ganze Zeit so entsetzlich windmüllern?“ Womit er mir freundlich signalisieren wollte, ich solle doch bitte mal damit aufhören, so mit den Armen in der Luft rumzufuchteln.
Auf den selben Umstand hebt ein entzückender kleiner, inzwischen allerdings auch schon etwas rüstiger Witz ab: Auf der Weltausstellung in Wien 1873 (ja, liebe Generation Z, damals gab es auch schon zivilisierte Menschen, die nicht mehr auf den Bäumen saßen, und die wollten auch schon in die Ferne sprechen!!!) lässt sich ein Mann das neue Telefon erklären. „Sie nehmen hier die Hörmuschel (Anmerkung: wunderbar aus Holz geformt und poliert) in die linke Hand, drücken sie ans Ohr und hier mit der Rechten halten sie die Sprechmuschel vor den Mund.“ Fragt der andere: „Und womit soll ich dann reden?“
Im Laufe meiner Bühnenkarriere haben mir geduldige Regisseure das Rumgehampel liebenswürdigerweise mit mehr oder weniger freundlichen Bemerkungen („Kannst du deine Riesenpratzen nicht mal in die Hosentaschen stecken?!“) abgewöhnt.
Mit Bild ist es besser
Trotzdem blieb die Telefonkommunikation immer eine etwas holprige und eingeschränkte Sache, die Mimik fehlte deutlich dem Gespräch und die Interpretation rein aus dem Klang der Worte führte gerne zu Missverständnissen, am roten Telefon zwischen Moskau und Washington manchmal zu recht dramatischen. (Und das nicht nur bei Sketch-History.)
Was lag seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts also näher als der Wunsch, das neue Medium Fernsehen in die Telefonie mit einbeziehen zu wollen? Einige weibliche Reaktionen auf den Vorschlag auf Videotelefonie umzusteigen, an die ich mich heute noch erinnere: „Bist du wahnsinnig? Dann bin ich noch nicht frisiert und geschminkt, wenn du anrufst, und dann siehst du mich sooo?! Das kommt doch überhaupt nicht in Frage!“ Oder: „Das hättest du wohl gerne, anzurufen, wenn ich gerade aus der Dusche steige!“
Sie sehen, ein signifikanter Teil der Bevölkerung dachte damals ganz anders und sprach diesem neuen Medium wenig Zukunftschancen zu.
Davon völlig unbeeindruckt schritt die technische Entwicklung immer weiter voran und heute führen wir, Corona sei Dank, Unterricht, Besprechungen, persönliche Gespräche wie selbstverständlich über das „Videotelefon“ oder wie sie in Neusprech heißen, Zoom, Whatsapp, Skype und alle anderen Konsorten.
Ist es nicht schön? Endlich wird unser Gestikulieren (Vorsicht, die Kaffeetasse!) und unsere Mimik (Nein, sie müssen sich jetzt nicht für die Augsburger Puppenkiste qualifizieren!) gesehen und „kommt rüber“! Erinnern sie sie noch, wie bescheuert das aussah, wenn Leute auf der Straße mit der einen Hand das Handy am Ohr hielten und mit der anderen Hand offenbar unsichtbare Wiener Philharmoniker dirigierten? Endlich ist das vorbei! Endlich werden wir gesehen! Endlich werden wir optisch auch wahrgenommen!
Aber was ist mit dem Datenschutz?
Und wir können (ob wir das dürfen, ist eine andere Sache), weil unser Gedächtnis ja so schlecht geworden ist, das Gespräch aufzeichnen, schneiden, bearbeiten, „auf das Wesentliche zusammenfassen“ (warum nicht gleich ganz löschen?) und archivieren! (Wo nehmen sie bloß die Zeit her?)
Apropos, gerade eben konnten wir aus den gängigen Medien erfahren, dass es bei den obgenannten Verdächtigen gravierende Sicherheitsmängel und -bedenken gibt, dass die ganzen Kommunikationen nicht abhörsicher sind und jederzeit von dritter Stelle mitgeschnitten werden können! Und richterliche Beschlüsse, das ist ja sowas von Achtziger! Datenschutzgesetze, wer hat sich denn den Unsinn ausgedacht?
Nicht, dass ich glaube, dass ihr und mein Geschwätz für irgendjemand Dritten wichtig wäre, aber weiß man’s? Nach allem, was sich in den letzten Monaten für uns geändert hat, habe ich den Eindruck, unsere Gesellschaft ist auf die Konsequenzen dieser Änderungen nicht genügend vorbereitet.
Irgendwie doch ein cooles Szenario: Sie sind Lehrer und unterrichten ihre Schüler am Vormittag über das digitale Klassenzimmer und am Nachmittag dürfen sie beim Sektionschef im Unterrichts- respektive Bildungsministerium vortraben und sich anhand von Mitschnitten aus ihrem eigenen Unterricht erklären lassen, dass man das so seitens des Ministeriums nicht weiter tolerieren würde! Sie glauben das nicht? Warten sie’s ab! Technisch ist das schon lange möglich. Ich für meinen Teil sag’s mal so, ich hoffe es nur nicht!
Immerhin begleitet Zensieren und Abhören schon lange als dunkle Seite die (europäische) Geschichte! Selbst die Familie Mozart verwendete einen sogenannten „Familienschlüssel“, um Briefe vor den Augen der bischöflichen und kaiserlichen Zensur zu verschleiern. Oder glauben sie etwa, die „Bäsle-Briefe“ seien ernst gemeint?
Warum sollte das heute anders sein? Erinnern sie sich vielleicht zufällig noch an diesen fabelhaften Film „Der Dialog“ (Originaltitel: The Conversation) von Francis Ford Coppola mit Gene Hackman in der Hauptrolle? Nein? Sie kennen ihn nicht? Tja, vielleicht sollten sie das mal ändern!
Nur noch gut gekleidet vorm Rechner
Facebook, Whatsapp und Co. sind, wie wir ja wissen, in Sachen Abhören, Manipulation und Indiskretion auch keine Unschuldslämmer mehr. Auch wenn uns das gerne suggeriert werden möchte.
Auf jeden Fall, ich habe mir seither angewöhnt, nur noch gut gekleidet und gekämmt vor dem Laptop zu sitzen, das Kameraauge zu verdecken, auch wenn man da trotzdem mit dem Infrarotspektrum hindurchfilmen kann, und nur noch Dinge zu sagen und zu schreiben, die hoffentlich noch unverfänglich sind und die im Zweifelsfall nicht gegen mich verwendet werden können.
Und ja, ich glaube ganz fest daran, dass unsere digitale Zukunft schön sein wird.
Was unsere fabelhafte digitale Welt sonst noch an Überraschungen für William Cohn bereithält, lest ihr hier.