Das Potenzial der Füße: Warum Gehen so befreiend ist
„Im Flaneur wird sich die Stadt ihrer selbst bewusst.“ 1995 schrieb der niederländische Autor Cees Nooteboom eine Hommage an das ziellose Umherstreifen im Stadtraum. In seinem Essay für die Zeit huldigte er dem Flaneur, der als Einziger wirklich den Weg zum Ziel macht, der als Einziger wirklich seine Umgebung kennenlernt und der gleichzeitig demonstriert, dass er es nicht nötig hat, zu hetzen. Über ein Jahrhundert lang galt das Flanieren als höchste Form des Luxus oder niedrigste Form des Müßiggangs – je nach Betrachtungsweise.
Und heute? Zu Fuß gehen ist Mittel zum Zweck. Eine Brückentechnik im Wechsel der Verkehrsmittel, die Fortbewegungsform in Fußgängerzonen und auf Treppen oder als kleine Auszeit mit seinem Partner, Haustier – oder sich selbst.
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 5/2023 von MIT Technology Review erschienen. Hier könnt ihr die TR 5/2023 bestellen.
Mobil zu Fuß
Die WHO schreibt den Deutschen ins Stammbuch, sie müssten sich deutlich mehr bewegen, und das würde zwischen zehn und 20 Milliarden Euro im Gesundheitssystem sparen. Zudem sind Kosten für den Verkehr sozial ungerecht verteilt. Hohe Einkommensschichten profitieren stärker vom Straßenbau, sozial Schwächere leiden überproportional unter Verkehrsgefahren und Umweltverschmutzung. Das Schweizer Statistikamt hat berechnet, dass Zufußgehen die einzige Mobilitätsform ist, die einen positiven Wertbeitrag für die Gesellschaft leistet.
Wenn Zufußgehen fast nur Vorteile hat, dann stellt sich die Frage nach den Beharrungskräften des bestehenden Verkehrssystems oder den Gründen für die mangelnde Motivation der Menschen, ihre Füße als Verkehrsmittel zu nutzen. „Wir haben keine Vorstellung für Veränderungen“, sagt Anne Klein-Hitpaß vom Deutschen Institut für Urbanistik. „82 Prozent der Menschen wollen gerne grüne Städte, aber trotzdem einen Parkplatz vor der Tür“, zitiert Klein-Hitpaß aus einer Studie des Umweltbundesamts. Und wenn man den Zukunftsforscher und Stadtgeografen Stefan Carsten nach dem Status Quo der Verkehrswende fragt, antwortet er: „Wir haben noch gar nicht angefangen.“
Zufußgehen ist die einzige Mobilitätsform, die einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leistet.
Diese Angst vor Veränderungen äußert sich häufig in den Protesten der Anwohner oder lokalen Einzelhändler. Die Berliner Friedrichstraße ist ein Beispiel, das das ganze Problem skizziert: 2020 war ein Durchfahrtsverbot getestet worden. Nach Ablauf des vorgesehenen Testzeitraums im Oktober 2021 wurde die Sperrung einfach stehen gelassen. „Das ist der Todesstoß für die Gewerbetreibenden“, sagte eine Anwohnerin in der Berliner Friedrichstraße der Berliner Zeitung. Es wolle doch niemand einkaufen und all die Tüten dann „kilometerweit zum Parkhaus schleppen“. Eine Händlerin aus der parallel verlaufenden Charlottenstraße klagte und bekam Recht. Die Sperrung wurde aufgehoben. Vorläufig.
Im Januar 2023 war die Sperrung plötzlich wieder da. Ein 500 Meter langer Abschnitt an der Französischen Straße solle Fußgängerzone werden, verkündete Umweltsenatorin Bettina Jarrasch. Damit reagierte die Senatorin auf die Begründung des Gerichtsurteils. Das Verwaltungsgericht hatte moniert, es fehle in der Straßenverkehrsordnung die Möglichkeit, eine Straße zugunsten von „Aufenthaltsqualität“ zu sperren. Verkehrssicherheit ja, Aufenthaltsqualität nein.
Reflexartig warf die Opposition der Senatorin Aktionismus vor. Die Berliner Zeitung initiierte eine Umfrage und ermittelte, dass 52 Prozent der Berliner gegen die Umwidmung sind und nur 37 Prozent dafür.
Der Feind des Händlers
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum Anwohner oder Menschen, die eine Straße häufig mit dem Auto nutzen, gegen deren Verkehrsberuhigung abstimmen. Viele davon sind rational, einige davon irrational oder der Gewohnheit geschuldet. Die Friedrichstraße war immer Autostraße, sich die Auswirkungen der Verkehrsberuhigung vorzustellen, fällt sogar erfahrenen Stadtplanern schwer. Da hilft eventuell ein Blick in Gemeinden, die das bereits hinter sich haben.
Dass es keineswegs ausgemacht ist, dass der Handel unter der Verkehrsberuhigung leidet, zeigt das Beispiel Toronto. Die Stadt habe in der Innenstadt signifikant Parkplätze an den Straßen abgebaut und durch Gehwege oder Freiflächen für Cafés und Restaurants ersetzt, sagt Sandra James, ehemalige Stadtplanerin von Vancouver, Kanada, in einem TED-Talk. „90 Prozent aller Stammkunden kamen trotzdem, dann halt zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus.“ Gleichzeitig stieg die Kaufkraft pro Kopf, sodass der Handel die Maßnahme inzwischen toleriert.
In New York, so James weiter, habe man nach ähnlichen Maßnahmen am Union Square festgestellt, dass sich die Ladenleerstände halbierten. Und in der Pearl Street, ebenfalls New York, habe man gemessen, dass sich der gesamte Umsatz in der Straße um 167 Prozent gesteigert habe. Fußgänger kaufen keineswegs grundsätzlich weniger. Und Händler passen sich an: Viele betreiben auch Versandhandel und verfügen über die Logistik, sperrige Ware zu liefern.
Zwei Drittel der Menschen, die in der Stadt wohnen, wünschen sich eine „walkable community“. Sie wären bereit, dafür Wohnraum zu opfern.
Was Sandra James aber eigentlich sagen will, ist, dass sich die Lebensqualität der Menschen dramatisch verbessert, wenn Städte (wieder) auf das Zufußgehen ausgelegt werden. Larry Frank hat in Vancouver eine groß angelegte Befragung durchgeführt. Im Ergebnis wünschten sich die Menschen, die in der Stadt wohnen, zu zwei Dritteln eine „walkable community“. In den Vororten lag die Quote bei 50 Prozent. Und das Spannendste: Die Befragten wären bereit, dafür Wohnraum zu opfern.
Dass sich Lebensqualität verbessert, würden auch die Siegener Anwohner unterschreiben. Über 20 Jahre hat es gedauert, bis ein Innenstadt-Parkplatz an der Sieg planiert und durch eine Flaniermeile mit Terrassenlandschaft ersetzt wurde. Der Verlust der Parkplätze hatte keinerlei Effekte auf den innerstädtischen Handel. Umliegende Parkhäuser können zusätzliche Fahrzeuge aufnehmen. Und die Stadtkämmerer registrieren einen Anstieg beim Tourismus
Für den Vordenker der Mobilitätswende, Stefan Carsten, keine Überraschung, denn neue stadtplanerische Modelle basieren seiner Einschätzung nach auf der Wissens- und Informationsgesellschaft: „Urbane Lebensqualität ist der relevanteste Einflussfaktor. Das heißt, wenn ich urbane Lebensqualität schaffe, eine hohe Aufenthaltsqualität, eine Neuverteilung des öffentlichen Raumes, dann werden die Menschen das nutzen.“
Wer mehr Mobilitätswende möchte, braucht allerdings zunächst eine Mentalitätswende. „Die Menschen machen das nicht von alleine“, sagt Carsten. Das gilt sowohl für den einzelnen Bürger als auch für den Senator, Bürgermeister oder Verkehrsminister. Gerade für die Politik ist eine nachgewiesene Verbesserung der Lebensqualität durchaus ein spannendes Argument für weitere Projekte. Der Nachweis kann durch Vorher-Nachher-Befragungen erbracht werden oder zum Beispiel durch die sorgfältige Analyse der Entwicklung von Immobilienpreisen und Mieten. „Wir müssen einfach andere Bilder in die Köpfe der Menschen bringen.“
Und in den allermeisten Fällen gehe es nicht um ein Entweder-oder zwischen Auto und Schuh, sondern um eine vielfältige, multimodale Mobilität, die allen Bedürfnissen der Menschen genügt. Die Attraktivität des Zufußgehens hänge auch davon ab, zu wissen, dass man nicht immer müsse, aber immer könne.
Paris und Heilbronn: Hier geht man gut
Man muss nicht weit schauen, um erfolgreiche Beispiele für fußfreundliche Stadtkonzepte zu finden. Amsterdam, heute der Inbegriff für Fahrradfreundlichkeit, war bis Ende der 1970er-Jahre eine Autostadt.
In Paris proklamierte die Bürgermeisterin Anne Hidalgo 2017 die 15-Minuten-Stadt zum städteplanerischen Leitbild. „Die 15-Minuten-Stadt hat zum Ziel, dass alle urbanen Funktionen wie Einkaufen, Arbeiten, Bildung, Gesundheit, Erholung innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sein müssen. Das schafft dezentrale Zentren und Versorgungsfunktionen“, erklärt Carsten. „In den deutschen suburbanen Eigenheim-Dystopien ist das natürlich nicht möglich.“
Anne Hidalgo wurde vom politischen Gegner heftig kritisiert, verklagt und man prognostizierte ihr das schnelle Ende der politischen Karriere. Heute gilt das Konzept der Seine-Metropole als wegweisend für Städteplaner rund um den Globus. 2020 stellte Hidalgo die Idee in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs und wurde wiedergewählt.
Es mangelt nicht an Beispielen, wie die Fokussierung auf oder zumindest das Mitdenken von Zufußgehen die Lebensqualität in einzelnen Quartieren oder ganzen Städten verändern kann. Am Neckarbogen in Heilbronn wurde ein Stadtteil anlässlich der Bundesgartenschau 2019 neu entworfen. Die Idee: Das Auto „kreist“ um das eigentliche Viertel und hat Zugang zu Parkhäusern. Innerhalb des Viertels dominieren Rad- und Gehwege. Da im Zentrum eine Grünanlage beheimatet ist, funktioniert die unmotorisierte Fortbewegung in der Diagonalen oft schneller.
„Es geht nicht um das Verdrängen des Autos“, mein Stefan Carsten. „Es geht um eine rationalere Nutzung der verfügbaren Fläche.“ Sprich: Autos sollen in mehrstöckigen Parkhäusern untergebracht werden. Am Straßenrand haben sie nichts zu suchen. Die Maria-Hilfer-Straße in Wien war schon immer Shopping-Meile, jetzt ist sie zum zweiten Stadtzentrum geworden. Dank Verkehrsberuhigung und zum Wohle des ortsansässigen Handels. Die Sendlinger Straße in München war jahrzehntelang eine fast anachronistisch wirkende Stichstraße, die an der Fußgängerzone am Marienplatz endete. Nun erweitert sie die Flaniermeile im Herzen der Isar-Metropole. Die Autos zirkulieren auf dem Altstadtring.
Nach vorne mit Walking Technology
Der Umbau zur „walkable Community“ ist oft dem unbändigen Willen einzelner Personen oder Gruppen geschuldet, die sich für die Innovation stark machen. Aber nicht immer muss der Bagger anrollen, um eine Stadt fußgängerfreundlicher zu machen.
So ermöglicht die meistbegangene Fußgängerkreuzung der Welt in Tokyo heute 3000 Menschen die Überquerung der Straße. Und zwar alle zwei Minuten. Der Verkehr wird auf allen vier Seiten gleichzeitig angehalten. Die Fußgänger können auch diagonal queren. 2,9 Millionen Menschen machen das jedes Jahr. In Hamburg plant der Ortsteil Eimsbüttel etwas Ähnliches an der Osterstraße.
Die Stadt London hat testweise bei 18 Ampeln in der Innenstadt auf Dauergrün für Fußgänger geschaltet. Nur wenn ein Auto sich nähert, schaltet die Ampel um. Das vorläufige Fazit der TfL (Transport for London): Busse brauchen im Schnitt 8 Sekunden länger, PKW 11 Sekunden, die Fußgänger haben 56 Minuten mehr Grün am Tag und halten sich zu 13 Prozent mehr an Verkehrsregeln.
Letzteres ist eines der wichtigsten Argumente für die „walkable community“. Die Hälfte aller tödlichen Verkehrsunfälle in Deutschland mit Fußgängern und Radfahrern geschieht beim Abbiegen (übrigens häufiger beim Linksabbiegen). In Kopenhagen dürfen Radfahrer und Fußgänger Sekunden vor den Autos starten, wenn die Ampel an der Kreuzung auf Grün springt. Den Autofahrern wird deutlich signalisiert, dass sie erst danach dran sind.
Die Erfahrung von Stadtplanerin James in Toronto und Vancouver lautet: Wenn die Stadtviertel gehfreundlicher konzipiert werden, ändert sich auch das Mobilitätsverhalten der Menschen. Sie wollen zu Fuß gehen.
Und wie man diejenigen, die es eigentlich nicht wollen, animieren kann, fragten sich bereits 2009 Forschende der Neuropsychologie in Schweden. Sie wollten wissen, wie man mehr Menschen dazu bringen kann, etwa die Treppe zu nehmen statt der flankierenden Rolltreppe. Mit auf die Stufen gemalten Klaviertasten, die dazu auch noch die passenden Klänge abspielten, nahmen 66 Prozent mehr Menschen die Treppe. 2019 adaptierte man die Idee in Guangzhou in China. Ähnliche Experimente gibt es auch zur Nutzung von Treppenhäusern in Hotels und Bürogebäuden. Oft reichen einfache Wegweiser wie aufgeklebte Fußabdrücke, um das Verhalten der Menschen zu lenken.
Und eventuell, in einer nicht allzu fernen Zukunft, könnte Gehen als Teil einer Mobilitätswende sogar noch die Energiewende stützen: Das Londoner Unternehmen Pavagen produziert Gehwegplatten, die mittels eines ausgeklügelten Turbinensystems die kinetische Energie des Spaziergängers in Strom verwandeln. Bei jedem Schritt soll das System sieben bis zehn Watt liefern.