Finanz-Ökosysteme, die ohne zentrale Kontrollinstanz auskommen und zu denen jede:r Zugang hat – die Idee hinter Decentralised Finance (Defi) klingt vielversprechend. Eine explorative Studie von Gilbert Fridgen zeigt allerdings: Auch bei theoretisch dezentral angelegten Finanzplattformen kommt es in der Praxis immer wieder zu einer Machtzentralisierung.
Fridgen leitet an der Universität Luxemburg einen Lehrstuhl für digitale Finanzdienstleistungen und arbeitet beispielsweise mit Fintech-Unternehmen oder öffentlichen Einrichtungen im Bereich Legal Tech. Im Interview erklärt er die Hintergründe zur Arbeit mit dem Titel „Decentralised Finance’s Unregulated Governance: Minority Rule in the Digital Wild West“ und skizziert, wie Plattformen eine Machtzentralisierung verhindern könnten.
t3n: Herr Fridgen, Sie haben gemeinsam mit einigen Kollegen ein Paper geschrieben, das sich damit beschäftigt, wie dezentral Defi-Systeme wirklich sind. Wie kam es dazu?
Gilbert Fridgen: Ich beschäftige mich jetzt seit ungefähr sieben Jahren mit Themen rund um die Blockchain. Dezentrale Governance-Modelle, die in der Krypto-Szene oft als Lösung proklamiert werden, sind da natürlich interessant. Die Arbeit selbst ist dann in meiner interdisziplinären Forschungsgruppe entstanden, wo wir Themen sowohl aus technischer als auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachten.
t3n: Ihre Arbeit zeigt, dass die Entscheidungsgewalt auch in vermeintlich dezentralen Projekten oft bei einem kleinen Personenkreis liegt. Klingt nach einer Systemkritik – was halten Sie denn grundsätzlich von Krypto-Projekten?
Wissenschaftler suchen ja immer Objektivität. Im Kern versuche ich also einfach herauszufinden, was sinnvoll ist und was nicht, und Letzteres im Zweifel auch klarzustellen. Die Blockchain-Technologie und ihre Anwendungen sehe ich im Allgemeinen nicht kritisch. Das ist eine Technologie, die kann man in einigen Fällen sinnvoll einsetzen, in anderen nicht. Wir haben jetzt aber eben gesehen, dass ein bestimmtes Werbeversprechen nicht eingehalten wird – und darauf kann man hinweisen.
t3n: Aktuell entstehen zahlreiche Projekte rund um die Blockchain und Kryptowährungen. Was glauben Sie, woran die aktuelle Faszination liegt?
Das ist ein Stück weit vergleichbar damit, wie das Internet gestartet ist. Das Internet ist ja im Grunde genommen groß geworden aus der Faszination heraus, dass man weltweit schnell und zuverlässig miteinander kommunizieren kann, ohne dafür teure Telefongebühren oder Porto zu zahlen.
Vertrauensvolle Transaktionen, die rund um den Globus stattfinden sollen, sind hingegen kompliziert und teuer geblieben. Dementsprechend faszinierend war es dann, die Blockchain als technologische Basis zu nutzen. Außerdem gibt es natürlich Menschen, die da mit einem gewissen Freiheitsgedanken rangehen, denen also das Unregulierte zusagt. Wobei man hier klar sagen muss: Regulierung ist üblicherweise dazu da, die Gesellschaft vor Verwerfungen des Marktes zu schützen – ohne Regulierung geht eben auch dieser Schutz verloren.
t3n: In ihrer Forschung zeigt sich: Es ist gar nicht so leicht, diesen Freiheitsgedanken tatsächlich umzusetzen. Was genau haben sie untersucht?
Wir haben uns sogenannte Defi-Plattformen angeschaut, also komplett virtualisierte Organisationen. Mithilfe von Smart-Contract-Funktionalität wird zum Beispiel auf der Ethereum-Blockchain versucht, die komplette Geschäftslogik einer Firma abzubilden, im konkreten Fall von Finanzdienstleistern. Um zu entscheiden, wie sich die Plattform entwickelt, braucht es eine gewisse Governance-Struktur. Dafür gibt es eine Funktionalität, bei der Nutzer anonym Stimmrechte als Token kaufen können.
Wir wollten herausfinden, wie stark diese Stimmrechte konzentriert sind, und haben entsprechende Analysen gemacht. Wir haben nicht genau herausgefunden, wie viele Personen tatsächlich involviert sind – ein User kann ja auch mehrere Accounts besitzen –, aber zumindest wie viele Accounts.
Die Stimmrechte liegen bei allen Projekten, die wir untersucht haben, sehr stark konzentriert bei einzelnen Accounts. Was aber noch deutlich kritischer ist: Viele Menschen nutzen die Stimmrechte nicht einmal als solche, sondern handeln mit ihnen nur spekulativ. Das trägt dazu bei, dass bei wichtigen Entscheidungen sogar noch weniger Menschen mitbestimmen als vielleicht erwartet. Es wird also zwar damit geworben, dass man sich nicht in die Hände einer zentralen Institution begibt, faktisch entscheiden aber doch einige wenige über die Entwicklung der Plattform.
t3n: Sie haben insgesamt acht Plattformen beleuchtet, auf denen Token teilweise nach unterschiedlichen Regeln verteilt wurden. Welche Möglichkeiten gibt es da?
Bei den ersten Lösungen war es so, dass ähnlich wie bei einem Startup die Gründer und die ersten Investoren gewisse Anteile hatten. Zu einem späteren Zeitpunkt haben andere Plattformen erkannt, dass diese Zentralisierung kritisch ist. Sie haben dann zum Beispiel versucht, weniger Vorkaufsrechte zu geben, geringere Anteile zu verteilen oder zu beschränken, wie viele Anteile auf einem Account liegen können. Im Grunde genommen haben sie die Zentralisierung dadurch aber nur etwas hinausgezögert. Das grundsätzliche Problem ist, dass man letztendlich nicht kontrollieren kann, wie viele Anteile ein Individuum – und sei es mit mehreren anonymen Accounts – besitzt.
t3n: Das heißt, die Anonymität, die im Krypto-Bereich oft auch als Pluspunkt empfunden wird, wird der Dezentralität zum Verhängnis?
Ja, genau. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist es vielleicht auch naiv, zu glauben, dass nur weil es theoretisch möglich wäre, jeder dann auch tatsächlich Entscheidungsanteile besitzt. Und dass es keine Individuen gibt, die im Zweifel mit viel Kapital reingehen, um Einfluss zu gewinnen.
t3n: Glauben Sie, dass diese dezentrale Idee überhaupt in irgendeiner Weise durchsetzbar wäre?
Dieses konkrete Problem wäre zu lösen, wenn man Government-Token oder Voting-Rights-Token an reale Identitäten knüpft. Es gibt auch schon Plattformen, die das versuchen, mithilfe von Drittanbietern. Gerade wird außerdem viel über digitale Identitäten diskutiert. Wenn man in der Lage wäre, diese digitalen Identitäten mit den Tokens zu verknüpfen, könnte man natürlich sicherstellen, dass jede und jeder einzelne nur einen gewissen Anteil an Stimmrechten erwerben kann. So könnte man zumindest eine Mindestanzahl an Teilhabern herbeiführen und damit vielleicht dazu beitragen, dass im Sinne der Mehrheit entschieden wird.
t3n: Eine komplett anonyme Variante würde nicht funktionieren?
Wie viel Identität man faktisch preisgeben müsste, ist eine Frage, die wir uns in der Forschung anschauen könnten. Es gibt mittlerweile ja auch einige Möglichkeiten, in denen nicht unbedingt die reale Identität preisgegeben wird, sondern zum Beispiel ein personalisierter kryptografischer Schlüssel, der an den digitalen Personalausweis geknüpft ist. Das sind aber natürlich gerade global gedacht große Herausforderungen, weil die Standards fehlen.
t3n: Also braucht es doch wieder Regulierungen?
Wie gesagt: Die Regulierung ist an sich ja nichts Böses, sie wird nur teilweise plakativ dargestellt. Eine sinnvolle Regulierung verhindert, dass Märkte gegen die Interessen der Allgemeinheit agieren, und schützt Anleger. Wer auf die Regulierung verzichtet, muss auch damit leben, dass er ungeschützt ist. Dann müsste man konsequenterweise auch das Risiko eingehen, dass man sich im Zweifel unbewusst in die Abhängigkeit von einer kleinen, unbekannten Gruppe begibt, die eine Plattform kontrolliert.
t3n: Würden Sie sagen, dass dann eben wieder diejenigen, die viel Kapital zur Verfügung haben, am längeren Hebel sitzen?
Die Gefahr besteht. Das ist genau das Problem: Der Grundgedanke ist an sich extrem marktlibertär. Die Idee ist zwar, dass Defi die Welt verbessern könnte, weil sie quasi jedem den Zugang zu Finanzmärkten gibt – das ist aber eben nicht beobachtbar.
t3n: Welche Defi-Anwendungen dürften denn in nächster Zeit noch besonders interessant werden?
Bei solchen Prognosen bin ich immer vorsichtig, weil es meist doch ganz anders kommt. Ich denke, dass die Plattformen, die wir aktuell sehen, insgesamt auf eher geringe Akzeptanz stoßen werden, weil sie zu abstrakt und risikoreich erscheinen. Spannend könnten dagegen Plattformen werden, die eine Verbindung zur traditionellen Finanzwelt herstellen. Produkte wie zum Beispiel Risikozertifikate, die auf Naturkatastrophen abgeschlossen werden, sind in der klassischen Finanzwelt bisher nur sehr teuer umsetzbar. Hier bietet eine Automatisierung, die beispielsweise auf Wetterdaten zurückgreift und dann automatisch Zahlungen auslöst, viel Einsparpotenzial.