Apps auf Rezept: Das musst du über digitale Gesundheitsanwendungen wissen
F51.0 – so lautete bislang der ICD-10-Code von Julias Erkrankung: Nichtorganische Insomnie, oder einfach: Schlafstörungen. Der ICD-Code steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (zu Deutsch und vereinfacht: „Internationale Klassifikation der Krankheiten“) und ist ein weltweit anerkanntes System, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. Seit diesem Januar findet man die Schlafstörungen in der neue Version ICD-11 unter dem Kürzel 7A.
Schlafstörungen gelten als medizinisch relevante Erkrankung, wenn man von „Ein- und/oder Durchschlafstörungen oder frühmorgendlichem Erwachen“ betroffen ist und zwar mindestens dreimal pro Woche über einen Zeitraum von ein bis drei Monaten. Etwa sechs Prozent der Bevölkerung sollen davon betroffen sein. Die Folgen können von Müdigkeit über Gereiztheit, ein gemindertes Reaktions- und Leistungsvermögen bis hin zu Depressionen, Bluthochdruck und Herzerkrankungen reichen.
Der Leidensdruck der Betroffenen ist oft groß. „Für Menschen, die unter Ein- und Durchschlafproblemen leiden, ist das Schlafzimmer oft mit Stress verbunden“, sagt Noah Lorenz, Co-Founder und CEO von Mementor im Zoom-Call. Er hat zusammen mit Alexander Rötger und Jan Kühni die App Somnio entwickelt, die ein digitales Schlaftraining anbietet, das auf der kognitiven Verhaltenstherapie basiert und zur Behandlung von Schlafstörungen verwendet werden kann. Angeleitet wird das Training von einem virtuellen Schlafcoach namens Albert.
Das Konzept von Somnio: Um besser ein- und durchschlafen zu können, sollen das gelernte Verhalten geändert und neue Routinen etabliert werden. Zum Beispiel durch angeleitete Schlafrestriktion, sprich: Schlafentzug. Durch die bewusste Einschränkung der Bettzeit könne dabei der sogenannte Schlafdruck erhöht und das Bett wieder mit positiven Emotionen aufgeladen werden, sagt Lorenz.
Somnio ist seit Ende Oktober 2020 als digitale Gesundheitsanwendung (Diga) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM, gelistet. Seitdem können die Kosten der Behandlung von gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Doch was ist das überhaupt, eine Diga?
Was ist eine Diga?
Diga sind digitale Anwendungen für iOS oder Android, die von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen auf Rezept verschrieben werden können. Eine Zuzahlung der Patient:innen ist in der Regel nicht nötig. Möglich ist das durch das am 19. Dezember 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das den Weg für die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) bereitet hat. Die ersten beiden „Apps auf Rezept“ gegen Tinnitus (Kalmeda) und Angststörungen (Velibra) gingen Anfang Oktober 2020 live.
Inzwischen sind 28 Apps im Diga-Verzeichnis gelistet. Neben der App gegen Schlafstörungen finden sich auch digitale Anwendungen die zur unterstützenden Therapie von Tinnitus, Diabetes, Angststörungen und Depressionen oder Potenzstörungen eingesetzt werden können.
Obwohl Deutschland in puncto Digitalisierung in vielen Bereichen sicherlich kein Vorreiter ist, so beweist zumindest die Diga-Verordnung digitalen Pioniergeist. Denn in keinem anderen Land der Welt gibt es sonst „Apps auf Rezept“.
Wie bekomme ich eine Diga?
Zur Aktivierung der Diga benötigt man lediglich ein Rezept seines Hausarztes oder einer Psychotherapeutin. Auch die digitale Verschreibung beispielsweise über die Teleclinic ist möglich. Nachdem man das Rezept bei der Krankenkasse eingereicht hat, erhält man den Freischaltcode für die App.
Was sind die Voraussetzungen für eine Diga?
Um als App-Anbieter:in im Diga-Verzeichnis aufgenommen zu werden, müssen verschiedene Anforderungen erfüllt werden. Überprüft werden dabei die Sicherheit, die Leistung, die medizinische Qualität sowie die Datenschutzstandards der Anwendung. Zudem muss der wissenschaftliche Nachweis zum positiven Versorgungseffekt der App erbracht werden. Dabei muss genau definiert werden, gegen welche Erkrankung die Diga helfen soll (nach dem ICD-Code).
Drei Monate dauert es im Fast-Track-Verfahren zur Aufnahme von Diga, bis die BfArM den Antrag zur Aufnahme ins Diga-Verzeichnis überprüft hat. Nach einem positiven Bescheid erfolgt dann zunächst die vorläufige Zulassung und eine Erprobungsphase über zwölf Monate, bevor die Diga endgültig aufgenommen werden kann. In dieser Erprobungsphase muss auch die klinische Evidenz der App nachgewiesen werden.
Was bringen Diga?
Bislang ist die Studienlage über den Erfolg der gelisteten Diga noch dünn. Die meisten Diga-Studien sind in Planung und viele Ergebnisse zum Nutzennachweis der Apps stehen größtenteils noch aus.
Ein Jahr nach der Einführung lagen die absoluten Verordnungszahlen bei rund 45.000. Das sei zwar gering, doch man könne ein deutliches Wachstum über das Jahr hinweg erkennen, wie eine Studie von Deloitte zeigt.
Was kosten Diga?
Schnäppchen sind die digitalen Gesundheitsanwendungen nicht. Im Schnitt kostet eine Diga rund 400 Euro im Quartal. Insgesamt rechnete der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV) für das Jahr 2021 mit Kosten von etwa 15 Millionen Euro für die verordneten Diga – was nach viel klingt, aber nur etwa 0,005 Prozent der gesamten Versorgungskosten ausmacht.
Somnio-Hersteller Mementor sagt dazu: „Wir sollten nicht vergessen, dass Diga Medizinprodukte mit sehr hohen Zulassungsanforderungen sind und auf die Hersteller damit ganz andere Kosten zukommen als in anderen Bereichen der Entwicklung von digitalen Produkten.“
Fazit
„Es war bereits bei der Ankündigung von Diga klar, dass nicht alles gleich beim ersten Aufschlag perfekt sein würde und der Prozess daher agil weiterzuentwickeln sei“, sagt Gregor-Konstantin Elbel, Deloitte-Partner in der Industrie Life Sciences & Health Care sowie Leiter des Deloitte Neuroscience Institute (DNI). Dennoch sei mit den „Apps auf Rezept“ ein wichtiger Meilenstein gelegt worden, der digitalen Pioniergeist beweist. Doch wie bei allen Apps besteht natürlich Weiterentwicklungsbedarf – bei der Preisfindung, bei der Abstimmung zwischen Hersteller:innen und Kostenträger:innen und bei der Akzeptanz der Diga unter Ärzt:innen und Patient:innen.