Warum jedes Unternehmen eine Digital Factory braucht
Unternehmenslenker hätten ein großes Problem, wenn sie ihr Unternehmen transformieren wollen, sagt Joao Dias, Partner beim Beratungsunternehmen McKinsey. Und das sei der Moment, in dem ihnen klar werde, dass sie, um einen nachhaltigen Wandel herbeizuführen, mit einer ganzen Menge Regeln brechen müssen.
Fest steht ohne Zweifel: Wer seine Firma zukunftssicher machen will, muss lernen, Mitarbeiter und Technologien künftig anders einzusetzen, und sich natürlich auch mit der Frage beschäftigen, wie der weitreichende Shift im Unternehmen finanziert wird.
An dieser Stelle kommt das Konzept der „digitalen Fabrik” oder „Smart Factory” ins Spiel. Diese ist nicht weniger als ein Konstrukt, bei dem es darum geht, Regelbrüche zuzulassen, formulieren es Experten fast philosophisch. Es geht also darum, in einer agilen Art und Weise zu arbeiten, andere, neue Technologien zu testen und eine ganze Reihe von Prozessen auf einer Experimentier-Ebene ablaufen zu lassen.
Moderne Art von Versuchsanordnung
Die Digital Factory ist also eine moderne Art von Versuchsanordnung, die es Mitarbeitern erlaubt, einmal anders zu arbeiten und aus Korsetten auszubrechen. Das klingt theoretisch, doch es gibt mittlerweile viele Beispiele, die verdeutlichen, dass sich eine solche neue Herangehensweise durchaus lohnen kann, und zwar sowohl für die Unternehmensführung als auch für die Mitarbeiter.
Bereits vor mehr als zehn Jahren haben die Technische Universität (TU) Darmstadt und McKinsey in Darmstadt auf 500 Quadratmetern „Europas erste Lernfabrik für Produktionsprozesse” eröffnet. Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen bildete diese Modellfabrik schon damals die komplette Wertschöpfungskette, also von der Bearbeitung der Rohmaterialien bis zur Montage, ab.
Die sogenannte Prozess-Lern-Fabrik mit dem Titel „Center für industrielle Produktivität” (Cip) auf dem Gelände der Universität sollte angehenden Wirtschafts- und Maschinenbau-Ingenieuren sowie interessierten Unternehmen „Methoden der schlanken Fertigung” vermitteln und ihnen die Möglichkeit geben, „komplexe Prozesse in realistischer Umgebung zu testen”.
Das Center für industrielle Produktivität unterscheide sich von anderen Lernfabriken vor allem durch seinen ganzheitlichen Ansatz, hieß es damals. Und: Heute orientieren sich viele ähnliche Konzepte an ebendiesem Modell.
Im globalen Wettbewerb um die kostengünstigsten Fertigungsstandorte ist methodisches Wissen über den Aufbau von Produktionssystemen sowie das Management komplizierter, ineinandergreifender Prozesse ein bedeutender Erfolgsfaktor.
Schon deshalb hat man in Darmstadt damals neben der Ausbildung ein umfangreiches Trainingsprogramm für Führungskräfte und Mitarbeiter aus der Industrie angeboten. Man eröffne damit „völlig neue Möglichkeiten, Erfahrung in der Umsetzung schlanker Fertigung zu sammeln”.
Häufiges Problem: Transfer von Theorie in Praxis
Das ist schon deshalb wichtig, weil gestern wie heute in vielen Fällen die Einrichtung eines neuen Produktionssystems bei Unternehmen am Transfer von der Theorie in die Praxis scheitert. Abhilfe schaffen können die digitalen Fabriken, in denen operative Veränderungen veranschaulicht und praktisch risikofrei erlebt werden können.
Trotz aller Möglichkeiten, die es heute gibt: Viele Unternehmen kämpfen noch immer mit der Digitalisierung und ihren Auswirkungen. Dabei, sagt Rohit Bhapkar, Partner bei McKinsey, sei das Erfolgsrezept „Digital Factory” womöglich oft einfacher umzusetzen als gedacht. Wichtig sei, dass es nicht nur um technologische Veränderungen im Unternehmen gehe, sondern auch um methodisches Umdenken.
Vorstellen könne man sich die Digital Factory quasi als Konstrukt aus zehn bis 50 Teams, wobei jedes aus etwa acht bis zwölf Personen besteht, die daran arbeiten, die digitalen Möglichkeiten ihres Unternehmens auszuloten und umzusetzen.
Ein Feld, das eines der Teams bearbeiten könne, sei zum Beispiel die Digitalisierung der sogenannten Customer-Journey. Man trifft sich hierfür über einen gewissen Zeitraum regelmäßig, um etablierte Prozesse zu überdenken und Neues zu schaffen. Involviert sein könnten zum Beispiel Designer, Entwickler, Product-Owner und womöglich auch solche Mitarbeiter, die seit Jahren in die „alten Prozesse” eingebunden sind.
Diese Teams arbeiten in sogenannten Agile Sprints. Alle paar Wochen entwickeln sie einen neuen Teil der Customer-Journey, wobei sie ihren Erfolg konsequent an Tests mit Kunden festmachen. Gibt es Probleme, wird die Methodik verfeinert und wieder getestet.
Sobald die Mitarbeiter das Gefühl hätten, dass man gemeinsam etwas erschaffen hat, das man auf dem Markt ausprobieren könnte, gehe es anschließend darum, ein sogenanntes Minimum-Viable-Product (MVP) zu schaffen, sagt Bhapkar.
Die Digital Factory lässt sich also als Werkzeug begreifen, das man gezielt nutzt, um der übergeordneten, großen, komplexen Organisation dabei zu helfen, sich sukzessive selbst zu transformieren. Das Unternehmen, um das es geht, muss dabei nicht groß sein, natürlich können auch kleine Firmen mit Hilfe einer digitalen Fabrik, die als eine Art Schnellboot agiert, versuchen, ihren durch verkrustete, ineffiziente Prozessen gekennzeichneten „Tanker“ neu zu positionieren.
Eng verbunden mit dem Begriff der „Digital Factory” ist der der „Smart Factory“, der gern auch mit „Fabrik der Zukunft” umschrieben wird. Er fokussiert hauptsächlich auf den Aspekt der technologischen Veränderungen, die die Digitalisierung eines Unternehmens erfordert.
Bedeutung von Industrie-4.0-Anwendungen
Dieser Markt für die sogenannten Industrie-4.0-Anwendungen gewinnt zunehmend an Dynamik, wobei dem Maschinen- und Anlagenbau derzeit eine besondere Bedeutung zukommt, wie die kürzlich erschienene Studie „Markets in Motion” des Beratungsunternehmens Helbling-Business-Advisors zeigte, das mittelständische Unternehmen bei der Transformation unterstützt und die Automobil- und Maschinenbau-Branche untersuchte.
Fest steht: Erste Vorzeigeprojekte und Smart Factories existieren bereits, der Markt für industrielle Internet-of-Things-Anwendungen (IIoT) wächst derzeit exponentiell, neue Use-Cases und Pilotprojekte entstehen nahezu im Wochenrhythmus.
Dennoch habe das Gros der Unternehmen „bislang noch keine Vision und Strategie zum Thema Industrie 4.0 formuliert, und nur wenige hätten erste Schritte und Maßnahmen eingeleitet”, sagen die Studienautoren. Die Frage, die sich viele Unternehmen derzeit stellen: Welchen Herausforderungen muss ich mich in strategischer, organisatorischer und technologischer Hinsicht stellen?
Predictive-Maintenance-Szenario
Der am häufigsten diskutierte Use-Case ist derzeit wohl das Predictive-Maintenance-Szenario, also die vorausschauende Wartung. Die großen Potentiale dürften in der deutlichen Verbesserung der Produktqualität durch selbstlernende und -steuernde Regelkreise liegen, nehmen Experten an. Nicht mehr die Maschine, sondern die Smart Factory als solche könnte also das Produkt der Zukunft sein. Eine interessante Erkenntnis, die sich wohl erst noch in so manchem Kopf festsetzen muss.
Ziemlich unbestritten ist die Feststellung, dass ein wesentliches Kriterium zur Realisierung einer Smart Factory deren Ökosystem ist. Dieses beinhaltet die Gemeinschaft aller Partner einer Smart Factory, also auch der Kunden. „Spielregeln” und Governance-Strukturen bilden die Grundlagen für den Erfolg.
Außerdem muss es Unternehmen immer häufiger darum gehen, dass genutzte IIoT-Lösungen konsequent auf Kundennutzen-orientierte Geschäftsmodelle fokussieren. Weiterhin ermöglicht der Zugang zu Informationen über die komplette Wertschöpfungskette hinweg neue, innovative Dienstleistungen und Betreibermodelle, wobei auch hier die Entwicklung von Kundennutzen-orientierten Geschäftsmodellen immer im Vordergrund stehen sollte, raten Experten.
Dabei geht es grundsätzlich auch um die Etablierung einer Wertschöpfungsorientierung, die auf „Insellösungen” konsequent verzichtet: Die horizontale Vernetzung über die unterschiedlichen Produktionsstufen, -technologien und Maschinentypen (und Hersteller) hinweg sowie die vertikale Integration in Geschäftsprozesse ist Grundvoraussetzung für eine Smart Factory.
Die Körber AG etwa, Holding-Gesellschaft eines internationalen Technologiekonzerns, sieht den Fokus auf digitale Innovationen als „wesentlichen Baustein” für ihren Unternehmenserfolg. Man baue im gesamten Konzern „unser Wissen, unsere Technologien und die Anwendungsmöglichkeiten rund um die Digitalisierung kontinuierlich zu einer weiteren Kernkompetenz aus”, sagt Stephan Seifert, Vorstandsvorsitzender der Körber AG, als er den Geschäftsbericht vorstellt.
Man sei überzeugt, „dass digitale und vernetzte Produkte und Prozesse die Stellschrauben für den Erfolg unserer Kunden sind – und somit auch für uns”.
Schon heute liefere man passende Lösungen oder entwickle diese „gemeinsam mit unseren Kunden”. Dazu, heißt es, würden etwa smarte Maschinenkomponenten, kollaborative Robotiklösungen, intelligente Verpackungen oder ein virtuell in Echtzeit zugeschalteter Servicetechniker gehören. Das „konsequente Denken in digitalen Lösungen und Industrie-4.0-Anwendungen” nenne man beim eigenen Unternehmen „Innovation 4.0”.
Nicht vergessen: Kommunikation und Kultur
Neben technologischen Lösungen, die es umzusetzen gilt, muss sich ein jedes Unternehmen natürlich auch Gedanken darüber machen, wie es kommunikativ agiert. Hier hat sich über die Jahre herausgestellt, dass digitale Kompetenz starke Partnerschaften erfordert. Das heißt auch, dass nur diejenigen Unternehmen langfristig erfolgreich sein werden, denen es gelingt, die „richtigen” Kooperationen einzugehen. Einzelkämpfer, heißt es immer wieder, hätten zunehmend keine Chance mehr.
Neben einer sinnvollen Positionierung am Markt und Sinnieren über Produktionsprozesse, die möglicherweise grundsätzlich überdacht werden müssen, spielt bei der Umgestaltung einer Organisation natürlich auch die Unternehmenskultur eine bedeutende Rolle. Hier geht es also darum, neue Wege zu finden, wie sich qualifiziertes, motiviertes Personal finden lässt, und darum, wie man verdiente Mitarbeiter inspiriert und an das Unternehmen bindet.
Ziel muss sein, diese Menschen nachhaltig davon zu überzeugen, dass sich viele, wenn nicht alle Strukturen und Prozesse, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eingespielt haben, durch die Möglichkeiten der Digitalisierung im Wandel befinden – und die Arbeit im Unternehmen als solche grundlegend verändern werden.
Neues Wertemodell nötig
Hier geht es um gelungene Kommunikation innerhalb der Organisation. Was sich vielleicht lapidar anhört, kann eine umgeheure Herausforderung sein. Und gerade deshalb lässt sich sagen: Das „Leben” eines neuen, gemeinsamen Wertemodells ist für Unternehmen, die sich nachhaltig verändern und an neue Gegebenheiten anpassen wollen oder müssen, zunehmend erfolgsentscheidend.
Darüber hinaus ist es so, dass die Komplexität des Themas Smart Factory und die Vielzahl an unterschiedlichen Partnern einen gesamtheitlichen Organisationsansatz erfordert, der Innovation und Time-to-Market fördert – und nicht behindert.
Ob man die Digital Factory nun Lab oder Innovation-Center tauft, spielt dabei freilich eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, wie schlüssig und durchdacht das dahinterstehende Konzept ist.