
Digitale Nomaden: Auf Instagram wird eine Scheinwelt vorgegaugelt. (Foto: Shutterstock)
„Ich kann ja gar nicht kontrollieren, ob Sie im Homeoffice wirklich arbeiten“, hat im Frühjahr ein Chef zu einer Freundin von mir gesagt. Während also alle anderen so gut es ging zu Hause arbeiteten, musste sie an jedem Tag des Corona-Lockdowns in die Firma fahren. Gerade zeichnet sich ab, dass es in diesem Winter wieder so sein wird.
Plot-Twist: Die Arbeit meiner Freundin ist ziemlich leicht zu kontrollieren. Sie hat nämlich den ganzen Tag mit anderen Menschen zu tun – per Video-Call mit Kunden. Wenn ich ihr nach Feierabend begegne, hat sie Headset und Maske manchmal noch um.
Ein großer Teil der Büroarbeiter hat in diesem Jahr deutlich mehr Homeoffice gemacht als jemals zuvor. Und sie haben gearbeitet. Natürlich haben sie gearbeitet, denn die Arbeit wird ja nicht weniger, nur, weil niemand sie kontrolliert. Ich bin seit einigen Jahren selbstständig, arbeite also fast ausschließlich zu Hause. Niemand kontrolliert mich. Ich arbeite trotzdem.
Wunsch und Wirklichkeit digitaler Nomaden
Das seltsame Bild, das wir vom mobilen Arbeiten haben, kommt aus den Geschichten, die uns die digitalen Nomaden erzählen. Sie posten Bilder mit Computer vom Strand. Sie zeigen sich mit einem Drink in der Hand am Pool. Recherchiere ich „digitale Nomaden“ im Netz, zeigen fast alle Bilder das Meer und jede Menge Sand. Zwei Bilder zeigen Computer im Dschungel, denn Bali gibt’s ja auch noch.
Natürlich hatte ich auch eine Zeit, in der ich die Idee total cool fand. So besuchte ich vor ein paar Jahren eine Freundin im Sinai und wollte dort einige Konzepte entwickeln. Ich entwickelte sie nicht. Ich fuhr dann auch noch mit meinem Computer in ein Surfcamp nach Marokko, ich wollte dort einen Text schreiben. Ich schrieb ihn nicht. Im Surfcamp machte ich Yoga. Im Sinai trank ich eiskalten Orangensaft. Besonders gut kann man bei 36 Grad im Schatten eh nicht arbeiten, außerdem ist der Sinai voller Sand – auch nicht so angenehm, nur so aus der Perspektive eines Computers gedacht.
Auch interessant: „Ko-Chang statt Chiang Mai – Wie funktioniert ein Coworking-Space abseits der Nomaden-Metropolen?“
Ich will nicht behaupten, dass meine Mäkeligkeiten für alle digitalen Nomaden stehen. Einige Menschen leben sehr glücklich so – schön für sie. Der Teil von mir, der keine Angst vor Spinnen hat, Ablenkung inspirierend findet und dessen Seelenheil nicht von einem Stapel Notizbücher und einem kiloschweren Mikrofon-Arm abhängt, der ist sogar ein wenig neidisch und wäre, während ich diese Worte schreibe, sehr gern am Strand.
Allerdings ist dieser Teil von mir nicht sehr groß.
Das Problem ist die Waschmaschine, nicht der Sand
Der größere Teil von mir ist froh, dass Arbeit zu Hause das Leben vereinfachen kann. Ich kann nach dem Zähneputzen direkt an den Schreibtisch gehen. Diesen Satz schreibe ich um 9.08 Uhr am Morgen, ich arbeite seit etwa 90 Minuten und habe schon mehr geschafft als andere am Mittag. Weil mich morgens niemand stört und weil an meinem Arbeitsplatz auch niemand vorbeikommt, von Familienmitgliedern einmal abgesehen und die sind meiner Erfahrung nach deutlich schneller wieder weg als ein redseliger Kollege. Wer ein Mindestmaß an Selbstdisziplin und Commitment in sich findet, kann zu Hause hervorragend arbeiten.
Nun gilt das nicht, wenn das Kind krank ist, könnte ein Arbeitgeber einwenden. Oder wenn die Kita geschlossen ist. Denn das Kind stört dann ja.
Mein Kind ist allerdings gerade krank.
Und wir Eltern haben gelernt: Wenn beide zu Hause arbeiten, sich am Tag gut absprechen und jeder die Arbeit des anderen wichtig nimmt, dann ist das kein Problem. Dann bleibt sehr viel Arbeitszeit übrig – genug Zeit, um die ganz normale Arbeit gut zu machen.
Familien leiden unter dem Bild, das hippe 20er von sich zeichnen
Das Argument, Familie und Hausarbeit würden Menschen im Homeoffice von der Arbeit abhalten, ist nur dann stimmig, wenn die Sorgearbeit an einer Person hängen bleibt. Die hat dann natürlich nicht mehr genug Zeit. In dem Moment, in dem sich beide kümmern, ist das Problem beseitigt. Dann hat der Tag 16 wache Stunden, von denen kleine Kinder einige verschlafen und größere Kinder einige allein spielen können. Da passen die Arbeitstage von zwei Erwachsenen also locker rein. Auf Dauer funktioniert das nicht. Aber für wenige Tage ist es machbar, da muss kein Chef Angst haben, dass das Leben eines Kindes das Arbeitspensum nachhaltig gefährdet. Und irgendwann geht es dann ja doch wieder in die Kita oder Schule.
Dass Familien und Professionals nun unter dem leiden, was jüngere, selbsternannte digitale Nomaden von sich im Internet zeigen, ist einigermaßen absurd. Sie sind nicht unser Maßstab. Die meisten Menschen wollen im Homeoffice vor allem eines: in Ruhe arbeiten.
Der Wunsch kommt nicht vom Strand – er kommt aus lebensfeindlichen Arbeitsbedingungen
Beide Extreme sind falsch, sowohl das Arbeiten im Strandcafé oder mit Drinks am Pool als auch der Zwang, für jeden Schreibtischjob in die Firma zu fahren.
Wenn Arbeitnehmer das Leben der digitalen Instagram-Nomaden sexy finden, dann liegt das nicht am Sand. Es liegt nicht an der Sonne, den Palmen, der Kokosnuss, dem weichen Wind und dem Meeresrauschen und Entschuldigung, im Berliner Herbst regnet es gerade und ich gerate ins Träumen.
Natürlich wünschen sich Angestellte ein Leben als digitaler Nomade, wenn die realen Arbeitsbedingungen gerade das andere Extrem zeichnen: dass das Leben der Arbeit untergeordnet werden soll. Denn das ist weder möglich noch nötig. Wir können uns anders organisieren, besser.
Die Corona-Pandemie ist ein Crash-Kurs in Sachen Lebensorganisation. Wer auf die Sicherheit seiner Angestellten achtet, der hat gar keine andere Wahl, als Büroarbeiter nach Hause zu schicken. Werden sie an ihre Arbeitsplätze geschickt, sind sie ein unnötiges Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft.
Mit Arbeit am Strand hat das nichts zu tun. Die Computer stehen auch nicht in einer Bar oder im hippen Café. Die Computer stehen auf improvisierten Schreibtischen in Abstellräumen, auf Esstischen und manchmal liegen sie auf den Knien. Wir machen das Beste daraus. Arbeitnehmer und Arbeitgeber stecken gemeinsam in dieser Situation. Wer seinen Leuten nicht vertraut, dass sie auch zu Hause arbeiten, der hat die falschen eingestellt – und sollte den Fehler lieber bei sich selbst suchen.
1 von 9
Professor Kruse fehlt…
https://www.youtube.com/watch?v=dst1kDHJqAc