Was kommt nach der Digitalisierung?
Digitalisierung auf allen Ebenen ist gut und richtig – höchste Zeit, dass sich die industrielle Produktion vernetzt, Bürgerämter endlich digital werden und Unternehmen beispielsweise die zahlreichen Möglichkeiten digitaler Kommunikation nutzen. Doch Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Am Ende müssen wir uns als Unternehmen, als Individuen und auch als Gesellschaft fragen: Was soll das alles? Oder etwas konkreter: Was genau wollen wir erreichen und wie können uns Software und Vernetzung dabei helfen?
Insbesondere auf politischer und gesellschaftlicher Ebene wird diese Sinnfrage viel zu selten und zu leise gestellt. Digitalisierung ist zum Teil längst zu einem hohlen Schlagwort verkommen, das um so hohler klingt, je häufiger es wiederholt wird. Mit der Digitalisierung wird kein Ziel verbunden – so kann sie auch keine Begeisterung auslösen. Dabei gäbe es einiges, was eine Digitalisierung und Automatisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen könnte.
Weniger arbeiten? Mehr abgeben? Wohin soll es gehen?
Ein mögliches Ziel könnte lauten: Wir wollen den zusätzlichen Wohlstand, den wir durch Automatisierung, künstliche Intelligenz und mehr Effizienz durch Vernetzung erreichen, dazu nutzen, weniger zu arbeiten bei steigendem Wohlstand. Oder wir wollen den Rest der Welt an einem Teil unseres Wohlstands teilhaben lassen – und damit letztlich auch unseren eigenen Wohlstand sichern.
Den mangelnden Gestaltungswillen der Politik in der Ära nach dem Scheitern der großen Ideologien macht wenig so deutlich wie der Wahlslogan der CDU zur jüngsten Bundestagswahl: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ plakatierten die Konservativen. Eine politische Haltung, der jeder zustimmen muss, ist keine mehr. Was bedeutet „gut“ und wen genau umschließt eigentlich alles „wir“? Große Teile der etablierten Politik haben aufgehört, auf diese Frage überhaupt nur den Versuch zu wagen, Antworten zu formulieren. Die CDU hätte genauso gut „Hoffentlich scheint morgen die Sonne“ plakatieren können – das hätte ähnlich stark polarisiert.
Stattdessen ist die postideologische Politik-Elite zu einer Politik der Verwaltung übergegangen. Digitalisierung? Muss ja irgendwie gemacht werden. So werden keine Herzen erobert und keine Begeisterung erzeugt. Am Ende mit fatalen Folgen, wie der Erfolg von Populisten in der gesamten westlichen Welt zeigt.
Digitalisierung braucht Leidenschaft
Damit die Digitalisierung gelingt, braucht sie wie andere politische Projekte Leidenschaft. Wohin politische Projekte mit guten Absichten führen, wenn sie die Menschen nicht über die Leidenschaft mitnehmen, zeigt die europäische Einigung. Und damit Leidenschaft entfacht wird, braucht es eine Vision – ein Ziel, auf das wir als Gesellschaft hinarbeiten wollen. Breite Teile der Bevölkerung müssen endlich wieder das Gefühl bekommen, dass auch sie persönlich vom technischen Fortschritt und der immer weiter steigenden Produktivität der Wirtschaft profitieren.
Wir brauchen daher eine Debatte zum Beispiel darüber, wie die Unternehmenseigner, die derzeit überproportional vom technischen Fortschritt profitieren, sich beispielsweise an der Finanzierung unseres Steuer- und Sozialsystems wieder stärker beteiligen können. Die finanzielle Basis unseres Steuer- und Sozialsystems muss stärker durch die Besteuerung von Unternehmensgewinnen finanziert werden und sich schrittweise von der Besteuerung von Erwerbsarbeit lösen, wenn ein immer größerer Teil unserer Wertschöpfung über Maschinen – Software, Roboter und vernetzte Fabriken – entsteht.
Diese notwendige stärkere Einbeziehung der Kapitalrendite in die Finanzierung des Gemeinwohls ist aber noch keine Vision. Die Politik hätte die Aufgabe, ein Ziel zu formulieren, mit der sich eine klare Mehrheit der Gesellschaft identifizieren kann. Mehr Wohlstand, mehr Freiheit, mehr Inklusion durch digitale Technologien zum Beispiel. Oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, kombiniert mit digitalen Bildungsplattformen, die allen offenstehen und dem Abbau aller Hindernisse bei der Gründung von Startups.
Die Verheiratung des Konzepts eines starken Sozialstaats, der Ängste nimmt, mit einem radikal neoliberalen Modell ohne Kündigungsschutz und anderen bürokratischen Hürden für Unternehmen, um noch mehr Innovationen zu erlauben. All das wären Gesellschaftsentwürfe, die Digitalisierung und Automatisierung erlauben würden.
Die erste Partei oder politische Bewegung, die eine überzeugende und konsistente Antwort darauf gibt, welche gesellschaftliche Vision wir auf Grundlage des digitalen Fortschritts entwickeln können, wird davon lange zehren können.
Sehr geehrter Herr Dörner,
die Vision, die Sie suchen, finden Sie unter https://www.economy4mankind.org/de/vision-die-groesste-revolution-der-gegenwart/
Wichtigster Punkt von economy4mankind ist die regionale Verknüpfung von Geschäften und Beschäftigung (Einkommensplätze mit und ohne Arbeit).
Ich würde mich freuen, wenn Sie sich mit diesem System beschäftigen.
Beste Grüße
Mal wieder ein super Artikel, dem nichts hinzuzufügen ist. Thanks!
interessanter Kommentar.
„Wir wollen den zusätzlichen Wohlstand“ -> erreichen wir den wirklich…?
Das bedingungslose Grundeinkommen ist nicht die größte Herausforderung.
Die „gesellschaftliche Vision“ auch nicht.
Durchschnittlich verbringen wir im Leben über 100.000 Stunden mit dem Berurfsleben.
Das sind zusätzlich mindestens 11 Lebensjahre, die mit „Beschäftigung, Interessen, Aktivitäten“ gefüllt werden müssen.
Das gilt für jeden einzelnen.
Herausfordernd wird das eigene Lebensziel, die persönliche Verwirklichung, das „streicheln“ des eigenen Egos.
„Wir wollen den zusätzlichen Wohlstand, zuviel Zeit zu haben“ mit ??? füllen.
Womit, wenn eine Möglichkeit, die berufliche Karriere wegfällt?